BFH III. Senat
FGO § 65 Abs 2 S 2, FGO § 76 Abs 2, FGO § 96 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, GG Art 103 Abs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, AO § 162, AO § 201, AO § 125
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht , 05. March 2012, Az: 2 K 101/11
Leitsätze
1. NV: Verweigern die Bediensteten des FA nach der Schlussbesprechung weitere Erörterungen mit dem geprüften Steuerpflichtigen, so liegt darin keine zur Revisionszulassung führende Verletzung seines gegen das FG gerichteten Anspruchs auf rechtliches Gehör .
2. NV: Ein möglicherweise zu missbilligendes Verhalten von Betriebsprüfern (hier: wegen weit auseinander liegenden Schätzungen zu verschiedenen Zeitpunkten) begründet keinen groben Rechtsanwendungsfehler des FG .
3. NV: Hält das FG die angefochtenen Bescheide für der Höhe nach gerechtfertigt, weil sie u.a. mit den einschlägigen Richtsätzen übereinstimmen, so weicht es nicht vom Urteil des FG München vom 4. September 2008 2 K 1865/08 (EFG 2009, 2) ab, wonach Verwaltungsakte nichtig sind, wenn das FA bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Eine Abweichung läge auch dann nicht vor, wenn das FA den Steuerpflichtigen vor Erlass der Schätzungsbescheide durch höhere Schätzungen unter Druck gesetzt hätte, um eine tatsächliche Verständigung durchzusetzen .
Tatbestand
I. Die miteinander verheirateten Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurden in den Streitjahren 2003 bis 2008 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger (Ehemann) betrieb neben einem Gemüsemarkt und einem Restaurant einen zentral gelegenen und gut frequentierten Imbiss mit 40 Sitzplätzen. Nach einer Betriebsprüfung sowie Durchsuchungsmaßnahmen im Rahmen eines Steuerstrafverfahrens und Verhandlungen über eine tatsächliche Verständigung ergingen u.a. geänderte Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheide, die infolge von Einsprüchen zugunsten der Kläger geändert wurden.
Nachdem die Kläger eine vom Finanzgericht (FG) vorgeschlagene tatsächliche Verständigung widerrufen hatten, wonach die Rohgewinnaufschlagssätze für die Jahre 2003 bis 2005 von 220 % auf 215 % und für 2008 von 250 % auf 235 % reduziert werden sollten, wies das FG die Klage als unbegründet ab.
Zur Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde tragen die Kläger vor, das FG-Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern sowie groben Rechtsanwendungsfehlern und stehe im Widerspruch zu einem Urteil des FG München.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist bei erheblichen Bedenken hinsichtlich ihrer Zulässigkeit jedenfalls unbegründet und daher durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Das FG-Urteil beruht nicht auf Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑, § 96 Abs. 2 FGO) verpflichtet das FG, die Beteiligten über den Verfahrensstoff zu informieren und ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben, ihre Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern ihres Vorbringens auseinanderzusetzen (Senatsbeschluss vom 27. Juli 2007 III S 8/07, BFH/NV 2007, 2135). Die von den Klägern gerügte Versagung rechtlichen Gehörs im Anschluss an die Schlussbesprechung bezieht sich jedoch offenkundig nicht auf das FG, sondern auf das Verhalten der zuständigen Bediensteten des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑).
b) Die von den Klägern behauptete rechtlich und rechnerisch nicht begründete Erhöhung der Mehrsteuern wäre kein Verfahrensfehler, sondern ein materieller Fehler. Dadurch kann die Zulassung der Revision jedoch grundsätzlich nicht erreicht werden (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 4. November 2010 VII B 60/10, BFH/NV 2011, 869).
2. Die Revision ist nicht wegen grober Rechtsanwendungsfehler des FG-Urteils zuzulassen.
Die Kläger behaupten, das FG habe willkürlich entschieden, indem es die aufgrund willkürlicher Prüfungsmethodik getroffenen Feststellungen der Betriebsprüfer gebilligt habe. Diese hätten zunächst Mehrsteuern von 800.000 € geschätzt, diese auf 550.000 € reduziert, dann eine tatsächliche Verständigung mit Mehrsteuern von 170.000 € angeboten und schließlich diesen Betrag wieder auf 480.000 € erhöht, weil ein Fahndungsprüfer von neuerlichen Verstößen gegen Aufzeichnungspflichten gehört habe. Sie ‑‑die Kläger‑‑ hätten auch gerügt, dass der Betrag von 480.000 € nie erörtert worden sei und die Grundlagen dieser Schätzung nie dargelegt worden seien.
Mit der Rüge der materiellen Fehlerhaftigkeit des FG-Urteils wird grundsätzlich kein Zulassungsgrund i.S. von § 115 Abs. 2 FGO dargelegt. Ausnahmsweise ist die Revision in einem solchen Fall zuzulassen, wenn das FG-Urteil an einem offensichtlichen materiellen oder formellen Fehler im Sinne einer willkürlichen Entscheidung (sog. qualifizierter Rechtsanwendungsfehler) leidet (Senatsbeschluss vom 30. Mai 2012 III B 239/11, BFH/NV 2012, 1470).
Ein derartiger Fehler liegt indessen nicht vor, denn das FG hatte die Nichtigkeit und die Rechtmäßigkeit der Bescheide in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 11. April 2011 zu beurteilen. Für den Senat ist daher nicht ersichtlich, warum das nach Auffassung der Kläger zu missbilligende Verhalten der Prüfer sowie frühere Schätzungsergebnisse als grober Rechtsanwendungsfehler des FG anzusehen sein könnten.
Das FG hat sich zudem ausführlich und nachvollziehbar mit den hohen Differenzen zwischen den verschiedenen Schätzungsergebnissen auseinandergesetzt. So führt es zum höchsten Betrag aus, dass dieser bereits sechs Tage nach den Durchsuchungen und ‑‑für die Kläger erkennbar‑‑ aufgrund einer groben Schätzung genannt worden sei und sich nicht in einem Bescheid niedergeschlagen habe. An das Angebot im Rahmen der Verhandlungen über eine tatsächliche Verständigung sei das FA nicht gebunden gewesen und die angefochtenen Schätzungen in der Fassung der Einspruchsentscheidung seien der Höhe nach gerechtfertigt, weil sie u.a. auf den kombinierten Mittelwerten der Richtsatzsammlung für Imbisse, Pizzerien und Gaststätten beruhten und durch weitere Kalkulationen abgesichert seien.
Diesbezüglich ist ‑‑was die Kläger im Übrigen nicht gerügt haben‑‑ auch weder eine Abweichung des FG-Urteils von der Entscheidung eines anderen Gerichts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. FGO) noch eine Verletzung des Anspruchs der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) erkennbar.
3. Soweit die Kläger die Auffassung vertreten, Prüfungsfeststellungen dürften nicht verwertet werden, wenn die Prüfer zunächst außerordentlich hohe Mehrsteuern geschätzt hätten, um auf die Steuerpflichtigen Druck auszuüben und eine tatsächliche Verständigung mit wesentlich niedrigeren Mehrergebnissen durchzusetzen, bezeichnen sie damit keinen Revisionszulassungsgrund. Das FG-Urteil weicht insofern nicht ‑‑wie die Kläger meinen‑‑ vom Urteil des FG München vom 4. September 2008 2 K 1865/08 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 2) ab. Nach dieser Entscheidung sind Verwaltungsakte nichtig, wenn das FA sich nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat oder wenn in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden. Im Streitfall waren indessen ‑‑wie oben dargelegt‑‑ die durch die Einspruchsentscheidung geänderten Besteuerungsgrundlagen zu beurteilen, die nach den Ausführungen des FG-Urteils der Höhe nach gerechtfertigt waren und mit einschlägigen Richtsätzen übereinstimmten, und nicht die von den Prüfern zuvor genannten Werte.
4. Mit der Behauptung, Prüfer und Amtsvorsteher hätten sich wegen Strafvereitelung im Amt strafbar gemacht, wenn sie Mehrsteuern von 480.000 € für zutreffend gehalten und gleichwohl ein Angebot über 170.000 € gemacht hätten, wird kein Revisionszulassungsgrund bezeichnet.
5. Mit ihrem umfangreichen weiteren Vorbringen zum Schätzungsergebnis und den Geschehensabläufen ‑‑z.B. dass eine Geldverkehrsrechnung die Unmöglichkeit der angenommenen Mehrgewinne belegt hätte und die Berichterstatter zweier Senate des FG in einem gemeinsamen Erörterungstermin eine Reduzierung der durch die Einspruchsentscheidung festgesetzten Mehrsteuern von 206.000 € um etwa 10 % angeboten hätten‑‑ wenden sich die Kläger gegen die materielle Richtigkeit des FG-Urteils. Dadurch kann die Zulassung der Revision jedoch nicht erreicht werden.