BFH X. Senat
FGO § 45 Abs 1, AO § 118, AO § 191, AO § 367 Abs 1
vorgehend FG Köln, 30. January 2013, Az: 8 K 1615/09
Leitsätze
1. NV: Auch beim Erlass eines zusammengefassten Haftungsbescheids liegt in Bezug auf jeden Steuerschuldner, jede Steuerart und jeden Steuerabschnitt ein eigenständiger Verwaltungsakt vor.
2. NV: Eine Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig, wenn sie insoweit über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinausgeht, als darin erstmals ein Verwaltungsakt erlassen wird.
3. NV: Auch in einem solchen Fall gilt aber das Vorverfahren als durchgeführt; eine gegen die Einspruchsentscheidung gerichtete Klage kann nicht als Sprungklage angesehen und mangels rechtzeitiger Zustimmung des FA als Einspruch an das FA abgegeben werden.
Tatbestand
I. Am 13. April 2004 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) gegen den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) einen Haftungsbescheid. Dessen Gegenstand waren Steuerschulden einer zwischenzeitlich insolvent gewordenen GmbH, die einen bordellartigen Betrieb geführt hatte (Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer für 1997 und 1998, Umsatzsteuer 1996 bis 1998, Nachzahlungszinsen zu den genannten Steuern). Der Kläger war einziger Geschäftsführer der GmbH; das FA stützte die Haftungsinanspruchnahme auf §§ 69, 71 der Abgabenordnung (AO). Die Summe der Steuerschulden der GmbH, für die der Kläger in Haftung genommen wurde, betrug 459.310,51 €. Bereits in diesem Bescheid wies das FA darauf hin, dass selbst dann, wenn ein Teil der Umsätze nicht der GmbH, sondern den Prostituierten zuzurechnen sein sollte, der Kläger gleichwohl haften würde, und zwar gemäß § 71 AO wegen Beihilfe zur Hinterziehung eigener Steuern der Prostituierten.
Während des anschließenden Einspruchsverfahrens setzte das FA die Haftungsschulden mit Bescheid vom 9. März 2007 auf insgesamt 267.177,50 € herab. Am 7. August 2007 erteilte das FA dem Kläger einen "Verböserungshinweis" auf die Möglichkeit seiner Haftungsinanspruchnahme für Einkommensteuerschulden der unbekannt gebliebenen Prostituierten.
Der Tenor der Einspruchsentscheidung vom 11. Juli 2008, als deren Gegenstand der "Haftungsbescheid über Steuerschulden der Firma ... GmbH" bezeichnet wird, lautet ‑‑soweit für das vorliegende Verfahren von Bedeutung‑‑ wie folgt:
"2. Unter Änderung des Haftungsbescheids vom 13.04.2004 wird die Haftungssumme auf 230.725,40 € festgesetzt.
3. Auf die Haftung i.S.d. § 71 AO aufgrund des Steuerausfalles für die nicht erfassten 'Dameneinnahmen' entfallen die hiermit festgesetzten Beträge zurEinkommensteuer 1996
43.160 €
Einkommensteuer 1997
38.440 €
Einkommensteuer 1998
19.340 €
-die Beträge sind in der o.g. Haftungssumme enthalten ".
Hiergegen erhob der Kläger Klage, die vom 13. Senat des Finanzgerichts (FG) bearbeitet und dem FA am 11. August 2008 zugestellt wurde.
Am 5. März 2009 wies der Berichterstatter des 13. Senats des FG die Beteiligten darauf hin, dass die Haftungsinanspruchnahme wegen Einkommensteuer einen eigenständigen Verwaltungsakt darstelle, der erstmals mit der Einspruchsentscheidung erlassen worden sei. Insoweit fehle es an einem Vorverfahren, so dass es sich um eine Sprungklage handele. Dieser habe das FA nicht innerhalb der Monatsfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zugestimmt.
In der Folgezeit widersprachen beide Beteiligten dieser Auffassung des Berichterstatters mit ausführlicher Argumentation. Das FA brachte vor, aufgrund seiner Befugnis, die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO), sei es zulässig gewesen, die Haftung auf die Einkommensteuer zu erweitern. Der Kläger vertrat die Auffassung, das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren sei durchgeführt und durch Erlass der Einspruchsentscheidung beendet worden. Gleichwohl trennte der 13. Senat mit Beschluss vom 30. April 2009 das Verfahren wegen Haftung für die Einkommensteuer 1996 bis 1998 der Prostituierten ab und gab es an den 8. Senat des FG ab.
Der Berichterstatter des nunmehr zuständigen 8. Senats des FG schloss sich mit Hinweisschreiben vom 4. Juni 2009 der Auffassung des 13. Senats an. Auch gegen dieses Hinweisschreiben wandten sich beide Beteiligte.
Am 17. Dezember 2012 verfügte der Berichterstatter des 8. Senats des FG, die Klage sei als Sprungklage zu behandeln, und übersandte die Akten dem FA. Auch dieser Verfügung widersprachen beide Beteiligte. Das FA vertrat die Auffassung, der Lauf der Monatsfrist könne erst mit der Verfügung vom 17. Dezember 2012 begonnen haben, weil zuvor beide Beteiligte übereinstimmend von einer wirksamen Anfechtungsklage, nicht aber von einer Sprungklage ausgegangen seien. Es erklärte nunmehr die Zustimmung zur Sprungklage und sandte die Akten an das FG zurück. Der Berichterstatter des FG erklärte, das Klageverfahren sei in den Registern gelöscht und regte an, das FA solle das Einspruchsverfahren betreiben. Er übersandte die Akten wieder dem FA. Der Kläger beantragte gerichtliche Entscheidung über seinen Antrag auf Verfahrensfortgang und erhob Verzögerungsrüge wegen des mehrjährigen Nichtbetreibens des Verfahrens und der Löschung aus den Registern.
Daraufhin erließ das FG am 31. Januar 2013 den im vorliegenden Beschwerdeverfahren angefochtenen Beschluss, das Verfahren als Einspruch an das FA zu verweisen. Die Klage sei entgegen der übereinstimmenden Auffassung beider Beteiligten als Sprungklage anzusehen, der das FA nicht innerhalb der Monatsfrist zugestimmt habe. Soweit die Einspruchsentscheidung erstmalig die Einkommensteuer der Prostituierten und einen Vorgang des Jahres 1996 erfasst habe, sei sie über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinausgegangen. Es handele sich daher um den erstmaligen Erlass eines Verwaltungsakts, für den noch kein Einspruchsverfahren durchgeführt worden sei.
Mit seiner Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, macht der Kläger ‑‑ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen‑‑ geltend, die erweiterte Haftungsinanspruchnahme in der Einspruchsentscheidung sei nicht als eigenständiger Verwaltungsakt anzusehen. Wenn das FA bei Erlass der Einspruchsentscheidung die durch § 367 AO gezogenen Grenzen überschritten habe, sei das Vorverfahren gleichwohl durchgeführt worden; jedoch sei die Einspruchsentscheidung rechtswidrig. Gemäß § 124 AO sei die Einspruchsentscheidung mit dem Inhalt wirksam geworden, mit dem sie bekannt gegeben worden sei. Hierfür komme es entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf den Horizont eines objektiven Empfängers an. Ein solcher objektiver Empfänger könne angesichts des Tenors, der Begründung und der Rechtsbehelfsbelehrung der Einspruchsentscheidung sowie des erteilten Verböserungshinweises keinen Zweifel daran haben, dass das FA keinen Erstbescheid, sondern eine Einspruchsentscheidung erlassen habe. Auch wäre für den Erlass eines Erstbescheids nicht die Rechtsbehelfsstelle des FA zuständig gewesen. Zudem habe das FA im Klageverfahren mehrfach ausdrücklich erklärt, eine einheitliche Einspruchsentscheidung und keinen erstmaligen Haftungsbescheid erlassen zu haben. Ob das FA die Einspruchsentscheidung in dieser Form hätte erlassen dürfen, sei eine Frage der Begründetheit der Anfechtungsklage, nicht aber ihrer Statthaftigkeit.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des FG vom 31. Januar 2013 8 K 1615/09 aufzuheben.Das FA hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet.
Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, da das Vorverfahren durchgeführt worden ist und keine Rechtsgrundlage für die Abgabe der Klage an das FA besteht.
1. Im Ausgangspunkt zu Recht geht das FG allerdings davon aus, dass auch beim Erlass eines zusammengefassten Haftungsbescheids in Bezug auf jede Steuerart und jeden Steuerabschnitt ein eigenständiger Verwaltungsakt vorliegt (dazu unten a) und die Einspruchsentscheidung den durch § 367 AO gezogenen Rahmen verlässt, soweit der Kläger darin auch für Einkommensteuerschulden der Prostituierten in Anspruch genommen worden ist (unten b).
a) Die einzelnen Steuerarten und -abschnitte, die in einem zusammengefassten Haftungsbescheid ausgewiesen sind, stellen nicht lediglich "Schadenspositionen" zur Begründung eines Gesamthaftungsbetrags dar, sondern wesensbestimmende Bezugspunkte des Haftungsbescheids (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 16. Dezember 2003 VII R 77/00, BFHE 204, 391, BStBl II 2005, 249, unter II.F.). So handelt es sich bei Haftungsbescheiden für unterschiedliche Kalendermonate (Kapitalertragsteuer-Anmeldungszeiträume) desselben Kalenderjahres um jeweils eigenständige Verwaltungsakte (BFH-Beschluss vom 7. April 2005 I B 140/04, BFHE 209, 473, BStBl II 2006, 530).
b) Nach allgemeiner Auffassung ist eine Einspruchsentscheidung rechtswidrig, wenn sie insoweit über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinausgeht, als darin erstmals ein Verwaltungsakt erlassen wird (Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/ Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 367 AO Rz 230; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 367 AO Rz 16). Denn die Entscheidungsbefugnis des FA im Einspruchsverfahren wird durch den angefochtenen Verwaltungsakt begrenzt (BFH-Urteil vom 28. November 1989 VIII R 40/84, BFHE 159, 410, BStBl II 1990, 561, unter III.2.b); die Einspruchsentscheidung darf nicht auf Personen, Steuergegenstände oder Zeiträume ausgedehnt werden, die von dem angefochtenen Verwaltungsakt nicht erfasst waren (BFH-Urteil vom 8. November 1994 VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657, unter 1.c). Aus § 367 Abs. 2 Satz 2 AO folgt nichts anderes, weil dem FA auch die Verböserungsmöglichkeit nur im Rahmen der ihm eingeräumten Überprüfungsmöglichkeit und damit nur in den Grenzen des von dem ursprünglichen Verwaltungsakt erfassten Lebenssachverhalts zusteht (BFH-Urteil vom 19. Januar 1994 II R 32/90, BFH/NV 1994, 758, unter II.1.).
c) Auch wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung mitunter entscheidend auf den Lebenssachverhalt abstellt (vgl. die angeführten BFH-Entscheidungen in BFH/NV 1994, 758, und BFHE 209, 473, BStBl II 2006, 530), verschmelzen im Streitfall die Haftungsinanspruchnahmen für unterschiedliche Steuerschuldner, Steuerarten und Steuerabschnitte nicht deshalb zu einer Einheit, weil das FA sie jeweils auf die Verletzung von Aufzeichnungspflichten durch den Kläger gestützt hat.
Zwar sollen diese nämlichen Pflichtverletzungen des Klägers nach der Begründung der Einspruchsentscheidung sowohl dem FA eine Schätzungsbefugnis bei der GmbH als auch den Prostituierten die Möglichkeit der Hinterziehung eigener Steuern ‑‑mangels Identifikationsmöglichkeit durch das FA‑‑ ermöglicht haben. Indes wird der maßgebende Lebenssachverhalt bei Haftungsbescheiden ergänzend auch durch den Steuerschuldner, die Steuerart und den Steuerabschnitt gekennzeichnet und separiert. Zumindest Steuerschuldner und Steuerart waren aber in Bezug auf die Haftung für Körperschaft- und Umsatzsteuerschulden der GmbH einerseits und die Haftung für Einkommensteuer einer nur griffweise zu schätzenden Zahl unbekannt gebliebener Prostituierter andererseits grundverschieden. Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass das FG zu Unrecht den Veranlagungszeitraum 1996 als nicht vom ursprünglichen Haftungsbescheid erfasst angesehen hat.
2. Anders als das FG meint, gibt es jedoch keine rechtliche Grundlage dafür, eine Einspruchsentscheidung, in der das FA über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinausgeht, als erstmaligen Verwaltungsakt anzusehen und entgegen dem Tenor, der Begründung und der Rechtsmittelbelehrung der Einspruchsentscheidung die Durchführung eines weiteren Einspruchsverfahrens zu verlangen. Auch in einem solchen Fall ist eine Ein-spruchsentscheidung ergangen und kann von dem dadurch Beschwerten in zulässiger Weise angefochten werden; die Klage ist mithin nicht ‑‑wie in § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO für die Abgabe als Einspruch an die Finanzbehörde vorausgesetzt‑‑ "ohne Vorverfahren" erhoben worden.
Dementsprechend hat der BFH in denjenigen Entscheidungen, in denen er die Grenze der Entscheidungsbefugnis des FA im Einspruchsverfahren als überschritten angesehen hat, nicht etwa eine Pflicht zur Abgabe einer gegen den "neuen" Verwaltungsakt erhobenen Klage als Einspruch an das FA angenommen, sondern eine solche Einspruchsentscheidung aufgehoben (vgl. BFH-Urteile in BFHE 159, 410, BStBl II 1990, 561, und in BFH/NV 1994, 758). Dies gilt ebenso in Fällen, in denen die Einspruchsentscheidung ‑‑auch‑‑ gegen eine Person ergangen war, die gar keinen Einspruch eingelegt hatte (BFH-Urteile vom 7. September 1995 III R 111/89, BFH/NV 1996, 521, und vom 8. April 1998 VIII R 14/95, BFH/NV 1999, 145), sowie bei Unwirksamkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts, wenn erstmals die Einspruchsentscheidung als wirksamer Verwaltungsakt anzusehen war (BFH-Urteil vom 25. Januar 1994 VIII R 45/92, BFHE 173, 213, BStBl II 1994, 603, unter II.3.a, m.w.N.; Steinhauff in HHSp, § 44 FGO Rz 140).
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem vom FG angeführten BFH-Urteil vom 4. Juli 1986 VI R 182/80 (BFHE 147, 323, BStBl II 1986, 921). Auch dort wird lediglich der Grundsatz bestätigt, dass in einem Sammel-Haftungsbescheid zusammengefasste Haftungsinanspruchnahmen jeweils voneinander unabhängige Haftungsschulden darstellen. Mit der vorliegend zu beurteilenden Fallgestaltung, dass erstmals in der Einspruchsentscheidung Haftungsinanspruchnahmen für bisher nicht vom Verfahren erfasste Steuerschuldner, Steuerarten und Steuerabschnitte ausgesprochen werden, befasst sich die genannte Entscheidung indes nicht.
3. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Bei dem vorliegenden Beschwerdeverfahren handelt es sich um ein unselbständiges Zwischenverfahren, das von der Kostenentscheidung in dem noch abzuschließenden Verfahren vor dem FG mit umfasst ist (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2012 X B 221, 222/12, BFH/NV 2013, 571, unter II.3., m.w.N.).