BFH VII. Senat
ZK Art 50, ZK Art 51 Abs 2, ZK Art 203 Abs 1, ZK Art 203 Abs 3 Ss 4, ZK Art 236 Abs 1, ZK Art 239, ZKDV Art 184, ZKDV Art 899 Abs 1 Ss 1, ZKDV Art 900 Abs 1 Buchst o, EWGV 2913/92 Art 50, EWGV 2913/92 Art 51 Abs 2, EWGV 2913/92 Art 203 Abs 1, EWGV 2913/92 Art 203 Abs 3 Ss 4, EWGV 2913/92 Art 236 Abs 1, EWGV 2913/92 Art 239, EWGV 2454/93 Art 184, EWGV 2454/93 Art 899 Abs 1 Ss 1, EWGV 2454/93 Art 900 Abs 1 Buchst o
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 23. July 2012, Az: 11 K 5876/08
Leitsätze
NV: Die Person, welche i.S. des Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK die sich aus der vorübergehenden Verwahrung ergebenden Verpflichtungen einzuhalten hat, ist diejenige, in deren Besitz sich einfuhrabgabenpflichtige Waren nach ihrer Gestellung befinden .
Tatbestand
I. In direkter Vertretung für die F-AG gab die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) im September 2006 eine Zollanmeldung zur Überführung bestimmter Waren in den zollrechtlich freien Verkehr in das Zollabfertigungssystem ATLAS ein. Am folgenden Tag gestellte der LKW-Fahrer des mit der Warenbeförderung beauftragten Transportunternehmens die Waren dem Grenzzollamt des Beklagten und Beschwerdeführers (Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑). Dort fand aber lediglich eine veterinärrechtliche Kontrolle anderer auf dem LKW befindlicher Waren statt, während eine zollamtliche Abfertigung der seitens der Klägerin angemeldeten Waren unterblieb. Gleichwohl verließ der Fahrer den Zollplatz mit dem LKW unter Umständen, die nicht näher geklärt werden konnten.
Mit der Begründung, sie sei am Entziehen der Waren aus zollamtlicher Überwachung beteiligt gewesen und schulde die Abgaben gemeinsam mit der F-AG als Gesamtschuldner, setzte das HZA die Einfuhrabgaben (Zoll und Einfuhrumsatzsteuer) gemäß Art. 203 des Zollkodex (ZK) gegen die Klägerin mit einem Bescheid fest, der kein Leistungsgebot enthielt. Der entsprechende an die F-AG gerichtete Abgabenbescheid enthielt dagegen ein Leistungsgebot. Den hiergegen erhobenen Einspruch nahm die F-AG später zurück.
Unter Hinweis auf den an die F-AG ergangenen Bescheid zahlte die Klägerin den festgesetzten Zollbetrag, beantragte aber wenige Wochen später dessen Erstattung gemäß Art. 239 ZK und berief sich auf das dem HZA vorliegende Schweizer Ursprungszeugnis und die danach zu gewährende Zollpräferenz. Das HZA lehnte den Antrag ab, da es von offensichtlicher Fahrlässigkeit der F-AG ausging.
Auf die hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage verpflichtete das Finanzgericht (FG) das HZA, den gezahlten Zoll zu erstatten. Die Klägerin sei gemäß Art. 878 Abs. 1 der Zollkodex-Durchführungsverordnung (ZKDVO) antragsberechtigt und der Antrag sei auch (falls nicht gemäß Art. 236 ZK) jedenfalls gemäß Art. 239 ZK i.V.m. Art. 899 Abs. 1 Anstrich 1, Art. 900 Abs. 1 Buchst. o ZKDVO begründet. Offensichtliche Fahrlässigkeit der F-AG liege nicht vor und diese müsse sich auch nicht offensichtlich fahrlässiges Verhalten anderer Beteiligter wie z.B. dasjenige des LKW-Fahrers zurechnen lassen.
Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des HZA, welche es auf den Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung in Gestalt der Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) stützt. Soweit das FG die Auffassung vertreten habe, bei der Frage der offensichtlichen Fahrlässigkeit eines Beteiligten komme eine Zurechnung des Verhaltens anderer Beteiligter nicht in Betracht, weiche es von Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ab.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Ob hinsichtlich der Frage der Zurechnung fahrlässigen Verhaltens Dritter die geltend gemachte Divergenz vorliegt, kann offenbleiben, weil das angefochtene Urteil jedenfalls im Ergebnis richtig ist (vgl. zur entsprechenden Anwendung des § 126 Abs. 4 FGO im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren: Senatsbeschluss vom 8. Januar 1998 VII B 102/97, BFH/NV 1998, 729, m.w.N.).
Wie das FG zutreffend ausführt, ist die Klägerin nach Art. 878 Abs. 1 ZKDVO berechtigt, den Erstattungsantrag zu stellen, weil sie gemäß Art. 231 ZK den gegen die F-AG festgesetzten Abgabenbetrag entrichtet hat (vgl. Senatsurteil vom 3. November 2010 VII R 20/09, BFHE 231, 421, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern ‑‑ZfZ‑‑ 2010, 325).
Der Antrag ist auch nach Art. 236 Abs. 1 ZK begründet, weil der Einfuhrabgabenbetrag im Zeitpunkt der Zahlung nicht gesetzlich geschuldet war. Nach den Feststellungen des FG ist zwar davon auszugehen, dass die Zollschuld gemäß Art. 203 Abs. 1 ZK entstanden ist, weil die zollamtlich nicht abgefertigten Waren mit ihrem Entfernen vom Amtsplatz der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sind. Die F-AG ist jedoch nicht Schuldner des Abgabenbetrags.
Nach der insoweit im Streitfall allein in Betracht kommenden Vorschrift des Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK kann als Zollschuldner ggf. die Person in Anspruch genommen werden, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der vorübergehenden Verwahrung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der F-AG nicht vor.
Ihr oblagen keine Verpflichtungen aus der Inanspruchnahme eines Zollverfahrens, denn wegen des unerlaubten Entfernens der Waren vom Amtsplatz ist kein Zollverfahren eröffnet worden. Ein "Verfahren der vorübergehenden Verwahrung", von dem im FG-Urteil die Rede ist, gibt es nicht (Art. 4 Nr. 16 ZK).
Die F-AG hatte auch keine Verpflichtungen aus der vorübergehenden Verwahrung einzuhalten, in der sich die Waren nach ihrer Gestellung befanden (Art. 50 ZK). Nach dem EuGH-Urteil vom 15. September 2005 C-140/04 ‑‑United Antwerp Maritime Agencies und Seaport Terminals‑‑ (Slg. 2005, I-8245, ZfZ 2005, 406) folgt aus Art. 51 Abs. 2 ZK und Art. 184 ZKDVO a.F. (im Streitfall maßgebliche Fassung), dass die Person, welche i.S. des Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK die Verpflichtungen aus der vorübergehenden Verwahrung einzuhalten hat, der Besitzer der Waren ist, der sie in seiner Obhut hat und sie auf Verlangen vorführen kann, während die Person, die die summarische Anmeldung unterzeichnet hat, zu diesem Zeitpunkt ggf. nicht mehr die Sachherrschaft über die Waren ausübt.
Im Streitfall übte die F-AG die Sachherrschaft über die der Zollstelle gestellten Waren nicht aus und war somit nicht in der Lage, diese dem Zollamt auf Verlangen vorzuführen. Sie hatte daher keine Verpflichtungen aus der vorübergehenden Verwahrung einzuhalten. Die der F-AG als Zollanmelder obliegende Verpflichtung, den in vorübergehender Verwahrung befindlichen Waren eine zollrechtliche Bestimmung innerhalb der Fristen des Art. 49 ZK zu geben, gehört nicht zu den in Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK genannten Verpflichtungen, der nur die Verpflichtungen betrifft, die mit dem Verbleib der Waren in vorübergehender Verwahrung zusammenhängen (vgl. EuGH-Urteil in Slg. 2005, I-8245, ZfZ 2005, 406).
Ist somit der gezahlte Zollbetrag nach Art. 236 Abs. 1 ZK zu erstatten, kommt es auf das Merkmal der offensichtlichen Fahrlässigkeit sowie auf Fragen der Zurechnung fahrlässigen Verhaltens Dritter nicht an. Anhaltspunkte für ein betrügerisches Vorgehen, welches nach Unterabs. 3 dieser Vorschrift die Erstattung ausschließt, liegen nach den Feststellungen des FG nicht vor.