BFH X. Senat
FGO § 6 Abs 1, FGO § 119 Nr 1, FGO § 116 Abs 6, FGO § 126 Abs 3 S 1 Nr 2, GG Art 101 Abs 1 S 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 124 Abs 2
vorgehend Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern , 28. May 2012, Az: 3 K 102/10
Leitsätze
1. NV: Ein Beschluss zur Übertragung der Entscheidung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter ist unwirksam, wenn der senatsinterne Geschäftsverteilungsplan keine Bestimmung darüber enthält, wer der jeweils zuständige Einzelrichter sein soll (Anschluss an den BFH-Beschluss vom 23. November 2011 IV B 7/10, BFH/NV 2012, 429) .
2. NV: Erkennt ein FG vor der instanzabschließenden Entscheidung, dass ein zuvor gefasster Beschluss zur Übertragung auf den Einzelrichter unwirksam war, muss es diejenigen Verfahrenshandlungen wiederholen, die der ‑‑nicht wirksam bestellte‑‑ Einzelrichter zwischenzeitlich anstelle des Senats vorgenommen hatte .
3. NV: Hatte der nicht wirksam bestellte Einzelrichter allein über einen gegen ihn gerichteten Ablehnungsantrag entschieden und entscheidet der Senat nach Erkennen der Unwirksamkeit der Einzelrichterübertragung nicht selbst über den Ablehnungsantrag, verletzt eine unter Mitwirkung des abgelehnten Richters ergehende Endentscheidung den Anspruch auf den gesetzlichen Richter .
4. NV: Der BFH kann einen vom FG dem Einzelrichter übertragenen Rechtsstreit, der auf die Nichtzulassungsbeschwerde eines Beteiligten zur Zurückverweisung an das FG führt, an den Vollsenat zurückverweisen, wenn nicht erkennbar ist, dass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO vorliegen könnten .
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betreibt eine Gaststätte und erzielt daraus Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Im Anschluss an eine Außenprüfung erhöhte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) mit den angefochtenen Bescheiden den Gewinn und die Umsätze für die Streitjahre 2003 bis 2005. Zur Begründung berief er sich auf formelle Buchführungsmängel und das Ergebnis einer für das Jahr 2004 durchgeführten Ausbeutekalkulation. Das Einspruchsverfahren führte ‑‑nach vorherigem Hinweis‑‑ zu einer Verböserung.
Während des anschließenden Klageverfahrens lehnte der Kläger den beim Finanzgericht (FG) eingesetzten Berichterstatter mit Schriftsatz vom 31. Januar 2011 wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Der Senat des FG, dem der Berichterstatter angehörte, wies das Ablehnungsgesuch ‑‑ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters‑‑ mit Beschluss vom 18. März 2011 zurück. Am 28. März 2011 übertrug der Senat die Entscheidung des Rechtsstreits auf den Berichterstatter als Einzelrichter und führte zur Begründung aus, die Sache weise weder besondere Schwierigkeiten auf noch habe sie grundsätzliche Bedeutung.
Am 24. Mai 2011 lehnte der Kläger den nunmehrigen Einzelrichter erneut wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Der abgelehnte Einzelrichter entschied über dieses Gesuch, ohne seinen Vertreter damit zu befassen, und verwarf den Antrag am 3. Juni 2011 als unzulässig. Zur Begründung führte er aus, der Kläger habe sein Ablehnungsrecht gemäß § 43 der Zivilprozessordnung verloren, da er sein Gesuch auf einen ihm am 12. Mai 2011 zugestellten Schriftsatz des Gerichts stütze, sich am 17. Mai 2011 aber auf ein früheres Schreiben des FA eingelassen habe. Das erst am 24. Mai 2011 angebrachte Ablehnungsgesuch sei daher unbeachtlich.
Am 21. Dezember 2011 führte der Einzelrichter eine mündliche Verhandlung durch, die aber noch nicht die Entscheidungsreife des Rechtsstreits bewirkte. Die Beteiligten verzichteten auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung.
Mit Beschluss vom 7. Mai 2012 übertrug der Senat den Rechtsstreit erneut auf den Einzelrichter. Im Rubrum des Beschlusses sind neben dem Berichterstatter (dem eingesetzten Einzelrichter) die Richter A und B angegeben; als unterzeichnende Richter sind in der Ausfertigung neben dem Berichterstatter hingegen die Richter A und C genannt. Ausweislich der auf dem Original befindlichen Unterschriften haben tatsächlich die Richter A und B unterzeichnet.
Die Begründung dieses Übertragungsbeschlusses ist identisch mit derjenigen des Beschlusses vom 28. März 2011. Der Grund für die erneute Beschlussfassung wurde den Beteiligten nicht mitgeteilt. Er ist darin zu sehen, dass der Bundesfinanzhof (BFH) im Beschluss vom 23. November 2011 IV B 7/10 (BFH/NV 2012, 429) die von einem anderen Senat des FG in einem anderen Verfahren beschlossene Übertragung auf den Einzelrichter als unwirksam angesehen hatte, weil der senatsinterne Geschäftsverteilungsplan keine Bestimmung des Einzelrichters enthalten habe. Da der senatsinterne Geschäftsverteilungsplan des im vorliegenden Verfahren zuständigen Senats des FG denselben Mangel aufwies, wurde er durch Senatsbeschluss vom 28. Dezember 2011 um eine entsprechende Bestimmung ergänzt.
Mit Urteil vom 29. Mai 2012 entschied der Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung über die Klage. Nach dem Tenor der Entscheidung gab er der Klage für das Streitjahr 2004 teilweise statt und wies sie im Übrigen ab. Nach dem Obersatz der Entscheidungsgründe hielt er die Klage für insgesamt unbegründet. Aus den Entscheidungsgründen wird deutlich, dass der Einzelrichter den streitgegenständlichen Bescheiden hinsichtlich der Höhe der Hinzuschätzungen einen Inhalt beigelegt hatte, den diese Bescheide tatsächlich nicht hatten (vgl. hierzu bereits Senatsbeschluss vom 29. August 2012 X S 27/12, BFH/NV 2013, 55).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger zahlreiche Verfahrensmängel.
Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.
Während des Rechtsmittelverfahrens hat das FA am 27. August 2012 die angefochtenen Bescheide zugunsten des Klägers geändert. Dabei hat es nicht allein die teilweise Klagestattgabe für das Jahr 2004 umgesetzt, sondern auch für die Streitjahre 2003 und 2005 ‑‑für die das FG die Klage abgewiesen hat‑‑ diejenigen Steuerminderungen vorgenommen, die sich nach Auffassung des FA den Entscheidungsgründen des vorinstanzlichen Urteils entnehmen lassen könnten.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Im Streitfall ist der absolute Revisionsgrund des § 119 Nr. 1 FGO gegeben, da das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war.
a) Der (erste) Beschluss zur Übertragung der Entscheidung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter war aus den im BFH-Beschluss in BFH/NV 2012, 429 angeführten Gründen unwirksam, weil der senatsinterne Geschäftsverteilungsplan keine Bestimmung darüber enthielt, wer der jeweils zuständige Einzelrichter sein solle. Da diese rechtliche Wertung zwischen den Beteiligten nicht umstritten ist und ‑‑wie aus der Wiederholung des Übertragungsbeschlusses deutlich wird‑‑ ersichtlich auch vom FG geteilt wird, sieht der Senat von weiteren Ausführungen hierzu ab.
Folge der Unwirksamkeit der Einzelrichterübertragung war, dass weiterhin der Vollsenat als der für die Entscheidung des Streitfalls ‑‑samt der Nebenverfahren‑‑ zuständige gesetzliche Richter anzusehen war. Damit hätte auch der (zweite) Ablehnungsantrag vom 24. Mai 2011 durch den Senat beschieden werden müssen. Der abgelehnte Richter allein war nicht derjenige, der für den Erlass des am 3. Juni 2011 ergangenen Beschlusses zuständig war. Der zweite Beschluss zur Übertragung der Entscheidung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter vom 7. Mai 2012 ändert nichts daran, dass das instanzabschließende Urteil vom 29. Mai 2012 durch einen Einzelrichter gefällt worden ist, gegen den ein noch nicht ordnungsgemäß beschiedener Ablehnungsantrag gestellt worden war.
b) Verletzt die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes), kann dies als Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 1 FGO geltend gemacht werden. Denn die in § 124 Abs. 2 FGO angeordnete Bindung des Rechtsmittelgerichts an unanfechtbare Entscheidungen, die dem Endurteil der Vorinstanz vorausgegangen sind, schließt die Rüge solcher Verfahrensmängel nicht aus, die als Folge einer zu beanstandenden vorausgehenden Entscheidung fortwirken und damit dem angefochtenen instanzabschließenden Urteil anhaften, sofern ein Verfahrensgrundrecht ‑‑wie z.B. der Anspruch auf den gesetzlichen Richter‑‑ verletzt wird. Voraussetzung ist allerdings ein greifbar gesetzwidriger und damit willkürlicher Verstoß (zum Ganzen BFH-Beschlüsse vom 28. Mai 2003 III B 87/02, BFH/NV 2003, 1218, unter 1.a, und vom 15. Dezember 2009 VIII B 211/08, BFH/NV 2010, 663, beide m.w.N.). Ein Verfahrensgrundrecht wird u.a. dann verletzt, wenn die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch dem Beteiligten versehentlich nicht bekanntgegeben wird, da dann die Entscheidung (und die Frage der Willkür) nicht geprüft werden kann (vgl. BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2005 XI B 4/05, BFH/NV 2006, 1301).
Nichts anderes kann gelten, wenn das Ablehnungsgesuch seinerseits nicht vom gesetzlichen Richter beschieden wurde. Auch dieser Verfahrensmangel haftet dem Endurteil noch an, da der Einzelrichter vor einer ‑‑die grundlegenden Verfahrensgrundrechte wahrenden‑‑ Entscheidung über das gegen ihn gestellte Ablehnungsgesuch das Endurteil nicht hätte erlassen dürfen. Der Verfahrensverstoß ist auch als greifbar gesetzwidrig anzusehen. Denn das FG hatte ‑‑wie aus der Wiederholung des Übertragungsbeschlusses am 7. Mai 2012 deutlich wird‑‑ erkannt, dass der erste Beschluss zur Übertragung auf den Einzelrichter unwirksam war. Es hätte sich dem FG daher aufdrängen müssen, auch diejenigen Verfahrenshandlungen zu wiederholen, die der ‑‑nicht wirksam bestellte‑‑ Einzelrichter in der Zwischenzeit anstelle des Senats vorgenommen hatte.
2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Dabei macht der Senat von der Möglichkeit einer Zurückverweisung des vom FG dem Einzelrichter übertragenen Rechtsstreits an den Vollsenat Gebrauch (vgl. zu § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO BFH-Urteile vom 15. April 1996 VI R 98/95, BFHE 180, 509, BStBl II 1996, 478, unter 3., und vom 30. November 2010 VIII R 19/07, BFH/NV 2011, 449, unter II.4.). Denn angesichts der im zweiten Rechtsgang im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Einwendungen des Klägers (vgl. u.a. den Schriftsatz vom 15. März 2012) voraussichtlich erforderlich werdende Beweisaufnahme und Gesamtwürdigung ist derzeit nicht erkennbar, dass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO vorliegen könnten. Auch die zahlreichen Ungereimtheiten im angefochtenen Einzelrichter-Urteil (Widerspruch zwischen dem Tenor und dem Obersatz der Entscheidungsgründe; Fehlverständnis der tatsächlichen Höhe der vom FA vorgenommenen Hinzuschätzung; Herausnahme des Herings aus der Nachkalkulation, obwohl der Kläger ein Fischrestaurant an einem der bedeutendsten deutschen Fischereistandorte betreibt) deuten darauf hin, dass die Sache jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht so komplex gelagert ist, dass sie nicht in den Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 FGO fällt.
Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.