BFH XI. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst b, EStG § 63 Abs 1 S 2, WehrPflG § 21, DA-FamEStG 2009 Abschn 63.3.2.6 S 1, DA-FamEStG 2009 Abschn 63.3.2.6 S 2, EStG VZ 2010
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 21. June 2011, Az: 14 K 14243/10
Leitsätze
Wird ein Kind, das das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, innerhalb des viermonatigen Übergangszeitraums des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG zwischen einem Ausbildungsabschnitt und der Ableistung des gesetzlichen Wehrdienstes nicht bereits am ersten, sondern erst an einem späteren Tag des Monats zum gesetzlichen Wehrdienst einberufen, besteht für diesen Monat grundsätzlich ein Anspruch auf Kindergeld (Abweichung von Abschn. 63.3.2.6 Sätze 1 und 2 DA-FamEStG 2009, BStBl I 2009, 1030).
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) Kindergeld für April 2010 (Streitzeitraum) zusteht, obwohl sein Sohn A in diesem Monat zum gesetzlichen Wehrdienst einberufen worden ist.
Der Kläger bezog für den am 8. Dezember 1990 geborenen A zunächst über das 18. Lebensjahr hinaus Kindergeld, weil sich A am Oberstufenzentrum X in Z in Ausbildung befand. Anfang 2010 brach A diese Ausbildung ab. Er meldete sich anschließend zur Musterung und wurde mit Wirkung ab 1. April 2010 zur Ableistung des Grundwehrdienstes einberufen.
Tatsächlich trat A nach den ‑‑unstreitigen‑‑ Feststellungen des Finanzgerichts (FG) seinen Wehrdienst wegen der Osterfeiertage (Karfreitag, 2. April 2010, bis Ostermontag, 5. April 2010) aber erst am 6. April 2010 an. Gleichwohl erhielt er für den gesamten Monat April 2010 Wehrsold.
Die frühere Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) hob, nachdem der Kläger ihr unter dem 21. April 2010 die Einberufung des A mitgeteilt hatte, durch Bescheid vom 18. Mai 2010 die Kindergeldfestsetzung für A ab April 2010 auf und forderte das gezahlte Kindergeld für April 2010 vom Kläger zurück.
Den Einspruch des Klägers vom 14. Juni 2010, der sich nur gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Monat April 2010 richtete und mit dem der Kläger geltend machte, es reiche aus, dass A an einem Tag des Monats die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt habe, was vorliegend vom 1. bis 5. April 2010 der Fall gewesen sei, wies die Familienkasse durch Einspruchsentscheidung vom 21. Juni 2010 als unbegründet zurück. Sie führte aus, der Wehrdienst beginne immer am Monatsersten, selbst wenn er erst einige Tage später tatsächlich angetreten werde.
Das FG wies die Klage, mit der der Kläger geltend machte, der Beginn des Wehrdienstes ergebe sich gemäß § 21 des Wehrpflichtgesetzes (WPflG) aus dem Einberufungsbescheid, ab. Es vertrat die Auffassung, A habe sich am 1. April 2010 nicht mehr in einer Übergangszeit zwischen Ausbildung und Ableistung des Wehrdienstes i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes (EStG) befunden; denn die Ableistung des Wehrdienstes in diesem Sinne beginne zu dem Zeitpunkt, ab dem nach § 2 Abs. 3 des Soldatengesetzes (SG) die Dienstzeit des Soldaten gerechnet werde. A habe deshalb für den gesamten Monat April 2010 Sold erhalten. Das Abstellen auf den Beginn der Besoldung sei gerechtfertigt, weil Hintergrund des Ausschlusses von Wehrdienstleistenden aus dem Katalog der Berücksichtigungstatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG der Umstand sei, dass die Kinder eine einheitliche und umfängliche Besoldung erhalten. Es entspreche daher Sinn und Zweck des Gesetzes, diesen Zeitpunkt für den Ausschluss aus dem Katalog der Berücksichtigungstatbestände heranzuziehen.
Hiergegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 62, § 63 Abs. 1, § 32 Abs. 4 und 5 EStG, § 1, § 2 Abs. 3 SG und § 21 WPflG) rügt. Er macht geltend, A habe sich zwischen dem 1. und 6. April 2010 noch in einer Übergangszeit befunden. Zwar sei für die Dienstzeitberechnung und Besoldung des A nach § 2 Abs. 3 SG der 1. April 2010 maßgeblich; die soldatischen Verpflichtungen des A hätten jedoch erst im Zeitpunkt der Einberufung eingesetzt. Deshalb beginne z.B. auch die rentenversicherungsrechtliche Beitragszeit nach der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit erst mit der Einberufung. Das Urteil des FG weiche zudem von den Urteilen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 27. August 2008 III R 88/07 (BFH/NV 2009, 132) und vom 20. Mai 2010 III R 4/10 (BFHE 229, 337, BStBl II 2010, 827) ab. Soweit sich die Familienkasse auf entgegenstehende Verwaltungsanweisungen berufe, seien diese für die Gerichte nicht bindend.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG, den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 18. Mai 2010 sowie die Einspruchsentscheidung vom 21. Juni 2010 aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie macht geltend, sie sei aufgrund des ‑‑für sie bindenden‑‑ Abschn. 63.3.2.6 Abs. 3 Sätze 1 und 2 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes ‑‑DA-FamEStG 2009‑‑ (BStBl I 2009, 1030) gehalten, den Anspruch des Klägers zu verneinen. Die Dienstanweisung gehe ‑‑wie das FG‑‑ davon aus, dass der Wehrdienst am ersten Tag des Monats beginne, auch wenn der Dienstantritt ‑‑wie hier‑‑ erst einige Tage später erfolge.
Entscheidungsgründe
II.
Im Streitfall hat zum 1. Mai 2013 ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel stattgefunden; Beklagter ist nunmehr die Familienkasse B (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 22. August 2007 X R 2/04, BFHE 218, 533, BStBl II 2008, 109; vom 16. Mai 2013 III R 8/11, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2013, 1698, Rz 11; vom 28. Mai 2013 XI R 38/11, juris, Rz 14). Das Rubrum des Verfahrens ist deshalb zu ändern.
III.
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Entscheidung in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Dem Kläger steht im Monat April 2010 Kindergeld für A zu, weil A bis einschließlich 5. April 2010 als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG im Rahmen des Kindergeldrechts zu berücksichtigen war.
1. Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, beim Kindergeld u.a. dann berücksichtigt, wenn es sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Monaten befindet, die zwischen einem Ausbildungsabschnitt und der Ableistung des gesetzlichen Wehr- oder Zivildienstes liegt. Dies gilt auch dann, wenn ‑‑wie im Streitfall‑‑ das Kind eine Ausbildung abgebrochen und auf diese Weise einen Ausbildungsabschnitt beendet hat (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23. Februar 2006 III R 82/03, BFHE 212, 476, BStBl II 2008, 702; Abschn. 63.3.3 Abs. 2 Satz 2 DA-FamEStG 2009, BStBl I 2009, 1030).
2. Nach der Rechtsprechung des BFH befindet sich ein Kind, das den Wehrdienst (z.B. wegen eines davorliegenden Wochenendes) nicht am ersten Tag eines Monats, sondern erst am dritten Tag des Monats antreten kann, am ersten und zweiten Tag des Monats noch in der Übergangszeit zwischen einem Ausbildungsabschnitt und der Leistung des Wehrdienstes, wodurch in diesem Monat noch ein Anspruch auf Kindergeld begründet wird (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2009, 132, unter II.3.c; siehe auch BFH-Urteile in BFHE 229, 337, BStBl II 2010, 827, Rz 14 f.; vom gleichen Tag III R 5/10, nicht veröffentlicht, unter II.3.d, beide zum Antritt des Zivildienstes am vierten Tag des Monats; BFH-Beschluss vom 31. Mai 2010 III B 38/10, BFH/NV 2010, 2242, zum Antritt des Zivildienstes am 16. Tag des Monats; siehe erstmals auch Abschn. 63.5 Abs. 3 Satz 2 DA-FamEStG 2011, BStBl I 2011, 716; a.A. Abschn. 63.3.2.6 Sätze 1 und 2 DA-FamEStG 2009, BStBl I 2009, 1030).
Dahinter steht die Überlegung, dass nach dem Monatsprinzip des § 66 Abs. 2 EStG das Kindergeld monatlich vom Beginn des Monats an gezahlt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, bis zum Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen. Es reicht deshalb zur Begründung eines Kindergeldanspruchs aus, dass an einem Tag des Monats die Berücksichtigungsvoraussetzungen nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 EStG erfüllt sind; eine Kürzung ist nur dann erlaubt, wenn die Anspruchsvoraussetzungen an keinem Tag des Monats vorliegen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 229, 337, BStBl II 2010, 827; zum Monatsprinzip siehe auch BFH-Urteile vom 15. März 2012 III R 51/08, BFH/NV 2012, 1765; vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491).
3. Nach diesen Grundsätzen, denen sich der erkennende Senat anschließt, steht dem Kläger ‑‑entgegen der Auffassung der Familienkasse und des FG‑‑ im Streitzeitraum ein Anspruch auf Kindergeld für A zu; denn A befand sich vom 1. April 2010 bis zum Tag vor seiner Einberufung in einer Übergangszeit i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG. Dies reicht zur Begründung eines Kindergeldanspruchs im Monat April 2010 aus.
a) Soweit das FG dagegen ‑‑unter Berufung auf den BFH-Beschluss vom 28. Januar 2009 III B 183/08 (BFH/NV 2009, 911)‑‑ die Auffassung vertreten hat, es sei für den Berücksichtigungstatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG maßgeblich, dass A bereits ab 1. April 2010 besoldet worden sei, weil seine Dienstzeit nach § 2 Abs. 3 SG bereits am 1. April 2010 begonnen habe, greift diese Überlegung aus zwei Gründen nicht durch:
aa) Zum einen ist, soweit das FG mit dem Abstellen auf die Besoldung im Ergebnis berücksichtigen will, dass auch schon vom 1. bis 5. April 2010 keine typische Unterhaltssituation bestand, nach der Rechtsprechung des BFH das Vorliegen einer typischen Unterhaltssituation kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der einzelnen Berücksichtigungstatbestände; ob ein Kind wegen eigener Einkünfte typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen der Eltern angewiesen und deshalb nicht als Kind zu berücksichtigen ist, war im Streitzeitraum nicht (bereits) bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nrn. 1 und 2 EStG zu ermitteln, sondern erst auf einer zweiten Stufe bei der Prüfung, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgebenden Grenzbetrag überschreiten (vgl. BFH-Urteile vom 17. Juni 2010 III R 34/09, BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982; vom 7. April 2011 III R 50/10, BFH/NV 2011, 1329; vom 11. April 2013 III R 24/12, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2013, 1307).
bb) Außerdem hat das FG bei seiner Argumentation nicht hinreichend berücksichtigt, dass sowohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als auch der BFH als "einheitliche und umfängliche Besoldung", auf die das FG als schädlich für den Berücksichtigungstatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG abstellen will, die Leistungen nach §§ 2 ff. des Wehrsoldgesetzes in der im Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑WSG a.F.‑‑ (BGBl I 2008, 1718) angesehen haben (BVerfG-Beschluss vom 29. März 2004 2 BvR 1670/01 u.a., Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2004, 694; BFH-Beschluss in BFH/NV 2009, 911). Zu der von BVerfG und BFH für die Verfassungsmäßigkeit des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG argumentativ herangezogenen "einheitlichen und umfänglichen Besoldung" des Wehrdienstleistenden zählten nicht nur der vom FG erwähnte Wehrsold (§ 2 WSG a.F.), sondern u.a. auch die unentgeltliche Gemeinschaftsverpflegung (§ 3 Abs. 1 WSG a.F.) und die unentgeltliche Unterkunft (§ 4 Satz 1 WSG a.F.). Diese Sachbezüge hat A vor seiner Einberufung am 6. April 2010 indes nicht erhalten; denn er hatte sich erst entsprechend dem Einberufungsbescheid, der Ort und Zeitpunkt des Diensteintritts bekanntgab (§ 21 Abs. 1 Satz 2 WPflG), zum Wehrdienst in der Bundeswehr zu stellen (§ 21 Abs. 2 WPflG). Das Wehrdienstverhältnis begann im Streitzeitraum bei Soldaten, die ‑‑wie A‑‑ aufgrund des WPflG zum Wehrdienst einberufen wurden, erst mit dem Zeitpunkt, der nach Maßgabe des WPflG für den Diensteintritt festgesetzt wurde (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 SG). Zeitpunkt des Diensteintritts des A war nach den unstreitigen tatsächlichen Feststellungen des FG, die mit Verfahrensrügen nicht angegriffen worden sind, erst der 6. April 2010.
b) Der Hinweis der Familienkasse auf eine anders lautende Dienstanweisung (Abschn. 63.3.2.6 Sätze 1 und 2 DA-FamEStG 2009, BStBl I 2009, 1030) führt zu keiner anderen Beurteilung; denn dabei handelt es sich um eine norminterpretierende Verwaltungsanweisung, die die Gerichte nicht bindet (vgl. Senatsurteil vom 26. April 1995 XI R 81/93, BFHE 178, 4, BStBl II 1995, 754, unter II.3.; Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2008 XI B 250/07, BFH/NV 2009, 394; BFH-Urteil vom 13. Januar 2011 V R 12/08, BFHE 232, 261, BStBl II 2012, 61, Rz 68).
4. Die Sache ist spruchreif. Die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für A liegen nach Lage der Akten, auf die das FG Bezug genommen hat, vor. Insbesondere ergibt sich aus dem Antrag des A auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch sowie der Höhe des vom FG festgestellten Wehrsolds, dass der Grenzbetrag im Jahr 2010 nicht überschritten worden ist. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.