BFH VI. Senat
EStG § 32 Abs 1, EStG § 32 Abs 3, EStG § 62 Abs 1 Nr 1, EStG § 63 Abs 1 S 1 Nr 1, EStG § 63 Abs 1 S 2, EStG § 65 Abs 1 S 1 Nr 1, EStG § 65 Abs 1 S 1 Nr 2, EWGV 1408/71 Art 2 Abs 1, EWGV 1408/71 Art 13 Abs 2 Buchst a, EGV 883/2004 Art 2 Abs 1, EGV 883/2004 Art 11 Abs 3 Buchst a, EStG VZ 2010
vorgehend FG Düsseldorf, 12. July 2011, Az: 15 K 1899/10 Kg
Leitsätze
Ein nach §§ 62 ff. EStG bestehender Kindergeldanspruch ist entgegen § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht ausgeschlossen, wenn ein Wanderarbeitnehmer in einem nach den gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Familienleistungen erhält. Solche Leistungen sind auf den Kindergeldanspruch anzurechnen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob und in welcher Höhe zugunsten eines Wanderarbeitnehmers ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld besteht, wenn diesem zugleich nach niederländischem Recht Familienleistungen zu gewähren sind.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Er ist Vater zweier minderjähriger Kinder, die im Streitzeitraum Januar bis Mai 2010 mit ihm zusammen in seinem im Inland belegenen Haushalt lebten. Der Kläger ist in den Niederlanden nichtselbständig tätig. Er hat nach niederländischem Recht einen Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag auf Gewährung von Kindergeld für den Streitzeitraum Januar bis Mai 2010 ab. Der Kindergeldanspruch sei ausgeschlossen, da der Kläger in das soziale Sicherungssystem der Niederlande eingegliedert sei und nach den dortigen Vorschriften einen Anspruch auf dem deutschen Kindergeld vergleichbare Familienleistungen habe.
Die im Anschluss an das erfolglos durchgeführte Einspruchsverfahren erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen. Der nach deutschem Recht bestehende Kindergeldanspruch des Klägers werde zwar nicht durch vorrangige Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, aber aufgrund des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausgeschlossen. Denn die nach niederländischem Recht zu gewährenden Familienleistungen seien mit dem Anspruch auf Kindergeld nach deutschen Rechtsvorschriften vergleichbar.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG sowie den Bescheid der Familienkasse vom 10. Februar 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. Mai 2010 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, nach Maßgabe der deutschen Vorschriften unter Anrechnung von Ansprüchen auf Familienleistungen nach niederländischem Recht zugunsten des Klägers Kindergeld für die Monate Januar bis Mai 2010 festzusetzen.Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Zu Unrecht hat das FG angenommen, dass die nach dem niederländischen Recht zu gewährenden Familienleistungen zu einem Ausschluss des Kindergeldanspruchs führen; diese werden lediglich angerechnet. Der Senat kann jedoch auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend prüfen, in welcher Höhe eine solche Anrechnung zu erfolgen hat.
1. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Denn er hatte nach den den Senat bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG einen Wohnsitz im Inland und die beiden minderjährigen Kinder, für die er Kindergeld beantragt hat, waren i.S. des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG, § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 3 EStG bei der Festsetzung von Kindergeld zu berücksichtigen.
2. Abweichend von der Vorentscheidung steht diesem Kindergeldanspruch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen.
a) Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ist der Kindergeldanspruch ausgeschlossen, wenn für ein Kind Leistungen im Ausland zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären und diese Leistungen dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind.
b) Dieser Ausschluss gilt indes nicht, wenn ein Wanderarbeitnehmer in einem nach den gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Familienleistungen erhält. Solche Leistungen sind entgegen dem Regelungswortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG lediglich anzurechnen. Dies folgt aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht, der gilt, soweit der Kompetenzverstoß des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ‑‑wie möglicherweise hier‑‑ noch nicht hinreichend qualifiziert erscheint. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist naturgemäß nicht umfassend. Insoweit gilt vielmehr unverändert das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Letztentscheidungsrecht durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Ultra-vires-Kontrolle des Handelns europäischer Organe und Einrichtungen, das unter Umständen auch die Unanwendbarkeit kompetenzüberschreitender Handlungen für die deutsche Rechtsordnung festzustellen hat (Beschluss des BVerfG vom 6. Juli 2010 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286). Danach ist die Grenze der zulässigen Rechtsfortbildung erst überschritten, wenn der EuGH ausdrückliche (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert und ohne ausreichende gesetzliche Rückbindung neue Regelungen schafft (dazu im Einzelnen BVerfG-Beschluss in BVerfGE 126, 286, 302 ff.). Für den hier vorliegenden Streitfall ist die Spruchpraxis des EuGH einschlägig aus dessen Urteilen vom 20. Mai 2008 C-352/06, Bosmann (Slg. 2008, I-3827), vom 12. Juni 2012 C-611/10, Hudzinski und C-612/10, Wawrzyniak (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst ‑‑DStRE‑‑ 2012, 999).
c) Nach diesen Grundsätzen sind auf den zugunsten des Klägers bestehenden Kindergeldanspruch die nach niederländischen Rechtsvorschriften zu gewährenden Familienleistungen anzurechnen.
Denn in dem Streitzeitraum Januar bis April 2010 unterlag der in den Niederlanden als Arbeitnehmer sozialversicherte Kläger aufgrund seiner dortigen Beschäftigung den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates (Art. 2 Abs. 1, Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ‑‑VO Nr. 1408/71‑‑ des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern). In derartigen Fällen ist die nationale Antikumulierungsregel des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unter Beachtung der vom EuGH in seinen Urteilen in Slg. 2008, I-3827 und in DStRE 2012, 999 aufgestellten Grundsätze dahingehend auszulegen, dass die nach dem Recht des Beschäftigungsmitgliedstaates zu gewährenden, mit dem Kindergeld vergleichbaren Familienleistungen zu einer entsprechenden Kürzung des Kindergeldanspruchs führen.
Gleiches gilt für den Streitzeitraum Mai 2010, für den die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) Anwendung findet (vgl. zur zeitlichen Anwendbarkeit der VO Nr. 883/2004 näher Urteil des Bundesfinanzhofs vom 27. September 2012 III R 40/09, BFHE 239, 102). Denn die Grundsätze der EuGH-Urteile in Slg. 2008, I-3827 und in DStRE 2012, 999 greifen auch für die VO Nr. 883/2004 (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Stand 6/10, Art. 68 der VO Nr. 883/2004 Rz 10; Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 11 Rz 5; im Ergebnis ebenso bereits Devetzi in Eichenhofer, 50 Jahre nach ihrem Beginn - Neue Regeln für die Koordinierung sozialer Sicherheit, S. 291, 300). Da die Niederlande für den Streitzeitraum Mai 2010 aufgrund der dortigen Beschäftigung des Klägers gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 der für die Gewährung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat ist und der Kläger weiterhin Wanderarbeitnehmer war, ist der Kindergeldanspruch folglich auch in diesem Streitzeitraum um die nach dem niederländischen Recht gewährten Familienleistungen zu kürzen.
d) Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben.
Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat bislang keine Feststellungen zu der Höhe der nach den niederländischen Rechtsvorschriften zu gewährenden und auf den Kindergeldanspruch anzurechnenden Familienleistungen getroffen. Diese Feststellungen wird es im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.