BFH IX. Senat
EStG § 17 Abs 1, EStG § 52 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 27. December 2011, Az: 6 K 3822/11
Leitsätze
Der Beteiligungsbegriff gemäß § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 ist veranlagungszeitraumbezogen auszulegen, indem das Tatbestandsmerkmal "innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt" in § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG für jeden abgeschlossenen Veranlagungszeitraum nach der in diesem Veranlagungszeitraum jeweils geltenden Beteiligungsgrenze zu bestimmen ist.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war an der B-AG mit einem Aktienbestand beteiligt, der bis zum 28. Dezember 1997 13,52 %, seit dem 29. Dezember 1997 9,98 % und seit dem 27. Dezember 1998 9,22 % betrug. Am 1. Dezember 1999 (Streitjahr) veräußerte der Kläger 50 000 Aktien und erzielte dabei einen Gewinn von 12.867.935 DM, den der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zunächst voll der Besteuerung nach § 17 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Streitjahres (EStG) unterwarf.
Das Einspruchsverfahren ruhte zunächst bis zur Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) im Urteil vom 1. März 2005 VIII R 25/02 (BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436). Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dieses Urteil mit Beschluss vom 7. Juli 2010 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05 (BVerfGE 127, 61 ff., BGBl I 2010, 1296, BStBl II 2011, 86) aufgehoben und § 17 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002) vom 24. März 1999 (BGBl I 1999, 402) teilweise als nichtig erkannt hatte, erließ das FA am 23. März 2011 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, indem es bezugnehmend auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 20. Dezember 2010 (BStBl I 2011, 16) für den Zeitraum vom 31. März 1999 bis zum 1. Dezember 1999 einen Veräußerungsgewinn von 8.312.278 DM erfasste. Den Einspruch wies es als unbegründet zurück.
Die Klage blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) führte zur Begründung aus, das FA habe zutreffend Wertsteigerungen der Beteiligung nach dem 31. März 1999 erfasst. Zur Auslegung des § 17 Abs. 1 EStG folgt das FG dem BFH-Urteil in BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Er habe zu keinem Zeitpunkt die Wesentlichkeitsschwelle nach der jeweils gültigen Fassung des Gesetzes überschritten. Das BVerfG habe das BFH-Urteil in BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436 aufgehoben. Auch das BMF-Schreiben in BStBl I 2011, 16 sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Ferner verweist der Kläger zur Begründung auf den Beschluss des erkennenden Senats vom 24. Februar 2012 IX B 146/11 (BFHE 236, 492, BStBl II 2012, 335) in der Aussetzungssache.
Der Kläger beantragt,
den angefochtenen Gerichtsbescheid aufzuheben und den Bescheid für 1999 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag, geändert mit Bescheid vom 23. März 2011 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 7. Oktober 2011 aufzuheben und die Einkommensteuer für 1999 ohne Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns von 8.312.278 DM festzusetzen.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Nach der Rechtsprechung des BVerfG seien Wertsteigerungen nach dem 31. März 1999 zu erfassen. Das BVerfG habe die fünfjährige Rückwirkung der Beteiligungsgrenze nicht beanstandet. Deshalb seien die Grundsätze des BFH-Urteils in BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436 anzuwenden. Es sei daher unerheblich, dass die Beteiligung des Klägers bereits im Jahr 1997 unter 10 % sank.
Das beigetretene BMF wendet sich gegen die Wortlautinterpretation des BFH im Beschluss in BFHE 236, 492, BStBl II 2012, 335; überdies werde die veranlagungsbezogene Wesentlichkeitsgrenze dem historischen Willen des Gesetzgebers nicht gerecht und vom BVerfG-Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86 nicht gefordert.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet und führt nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Entscheidung in der Sache selbst, nämlich zur Stattgabe der Klage.
1. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist aufzuheben, weil er § 17 Abs. 1 EStG verletzt. Der Kläger erfüllt mit der Anteilsveräußerung im Streitjahr keinen Steuertatbestand.
a) Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch die Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Eine wesentliche Beteiligung ist gegeben, wenn der Veräußerer an der Gesellschaft zu mindestens 10 % unmittelbar oder mittelbar beteiligt war (§ 17 Abs. 1 Satz 4 EStG).
Diese Fassung des Gesetzes ist gemäß § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden. Veräußert jemand im Jahr 1999 eine Beteiligung von 10 %, ist dieser Vorgang steuerbar. Veräußert er allerdings eine Beteiligung von ‑‑wie im Streitfall‑‑ unter 10 %, liegt ein steuerbares Veräußerungsgeschäft nur vor, wenn er innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. Da die Wesentlichkeitsgrenze von 10 % nach § 52 Abs. 1 EStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999 gilt, folgt daraus umgekehrt zugleich, dass sie für frühere Veranlagungszeiträume nicht anwendbar ist. Deshalb ist es unerheblich, ob der Steuerpflichtige, der im Jahr 1999 eine Beteiligung unter 10 % veräußert, innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft über 10 %, aber bis einschließlich 25 % beteiligt war. Denn in den Veranlagungszeiträumen vor 1999 war eine wesentliche Beteiligung nur dann gegeben, wenn der Veräußerer an der Gesellschaft zu mehr als einem Viertel unmittelbar oder mittelbar beteiligt war (so § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG in früheren Fassungen).
b) Diesem sog. veranlagungszeitraumbezogenen Beteiligungsbegriff (so für Verlustfälle bereits BFH-Urteil vom 29. Mai 2008 IX R 62/05, BFHE 221, 227, BStBl II 2008, 856; vgl. zur nachfolgenden Rechtslage auch BFH-Urteil vom 24. Januar 2012 IX R 8/10, BFHE 237, 33 Rz 28), der sich ‑‑wie gezeigt‑‑ aus dem Wortlaut der einschlägigen Normen erschließt (zweifelnd Paus, Finanz-Rundschau ‑‑FR‑‑ 2012, 959, 960), widerspricht entgegen der Auffassung des beigetretenen BMF nicht die Entwurfsbegründung, ist doch danach "eine wesentliche Beteiligung" eben erst "künftig" bereits gegeben, wenn der Gesellschafter mindestens 10 % der Anteile an der Kapitalgesellschaft hält (so BTDrucks 14/265, S. 179). Der Veranlagungszeitraumbezug der Wesentlichkeitsgrenze entsprach überdies der überwiegenden Auffassung im Schrifttum, indes nicht der damaligen Rechtsprechung des BFH (vgl. zu den unterschiedlichen Auffassungen eingehend das BFH-Urteil in BFHE 209, 275, BStBl II 2005, 436). Das BVerfG hat dieses Urteil aber mit seinem Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86 aufgehoben. Damit ist dieses Urteil nicht mehr existent und die dort entschiedene Rechtsfrage wieder offen.
Der erkennende Senat beantwortet sie in dem Sinne, dass der Beteiligungsbegriff veranlagungszeitraumbezogen auszulegen ist, indem das Tatbestandsmerkmal "innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt" in § 17 Abs. 1 EStG für jeden abgeschlossenen Veranlagungszeitraum nach der in diesem Veranlagungszeitraum jeweils geltenden Beteiligungsgrenze zu bestimmen ist (so aus dem neueren Schrifttum auch Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 31. Aufl., § 17 Rz 35; Gosch in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 17 Rz 34, m.w.N.; Rapp in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 17 Rz 94; Eilers/R. Schmidt in Herrmann/Heuer/Raupach, § 17 EStG Rz 131; Strahl in Korn, § 17 EStG Rz 40; differenzierend Schneider, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 17 Rz A 256 und B 157).
c) Dem entspricht der vom BVerfG in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86 hervorgehobene Zweck der Veräußerungsgewinnbesteuerung: Die Besteuerung ist danach nicht deshalb auf die Realisation bezogen, weil erst zu diesem Zeitpunkt der Wertzuwachs entsteht, sondern obwohl er bereits vorher beim Steuerpflichtigen entstanden ist. Es wird also im Zeitpunkt der Realisation ein über den vorangegangenen Zeitraum akkumulierter Zuwachs an Leistungsfähigkeit nachholend der Besteuerung unterworfen. Auf die bloß formale Zuordnung des Veräußerungsgewinns zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum kommt es daher nicht an, sondern maßgeblich ist, dass sich die höhere Leistungsfähigkeit, auf die mit der steuerlichen Erfassung des Veräußerungsgewinns zugegriffen wird, materiell auf den gesamten Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung bezieht (so der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86, unter B.I.2.b bb). Unter dieser Prämisse eines steuerbaren Zuwachses an Leistungsfähigkeit muss die sog. latente Verstrickung irgendwann einmal aktuell geworden sein. Wenn es auf die "formale Zuordnung des Veräußerungsgewinns zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum" nicht ankommt, so kann auch nicht entscheidend sein, ob der Steuerpflichtige allein aus der Retrospektive dieses Zeitraums früher einmal wesentlich und damit steuerbar beteiligt war, ohne es aber während des Zuwachses an Leistungsfähigkeit je gewesen zu sein (vgl. näher BFH-Beschluss in BFHE 236, 492, BStBl II 2012, 335; dem folgend Söffing/Bron, Der Betrieb 2012, 1585, 1590; Bode, FR 2012, 589, 591; Milatz/Herbst, GmbH-Rundschau 2012, 520 ff.; Paus, FR 2012, 959, 960).
Diesen Zusammenhang verstärkt folgender Aspekt: Wenn das BVerfG im o.g. Beschluss mit Gesetzeskraft (BGBl I 2010, 1296) entschieden hat, dass § 17 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 nichtig ist, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 am 31. März 1999 entstanden sind und die ‑‑so wie auch im Streitfall‑‑ bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können, so kann es nicht rückwirkend auf eine Beteiligungsgrenze ankommen, die der Steuerpflichtige allein in dem Zeitraum verwirklicht hat, in dem ein Wertzuwachs nicht steuerbar war.
d) Entgegen der Auffassung des FA und des BMF hat das BVerfG in seinem Beschluss in BVerfGE 127, 61 ff., BStBl II 2011, 86 keine Stellung zu dem Tatbestandsmerkmal des § 17 Abs. 1 EStG bezogen, um das es hier geht. Es hat vielmehr allgemeine Maßstäbe zu den Grundsätzen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes entwickelt und hat das einfache Recht nicht ausgelegt (eingehend BFH-Beschluss in BFHE 236, 492, BStBl II 2012, 335).
Die Interpretation des Gesetzes durch den erkennenden Senat vermeidet, dass das Gesetz überhaupt zurückwirkt. Sie ist entgegen der in der mündlichen Verhandlung vom FA hervorgehobenen Auffassung mit dem Fünf-Jahreszeitraum des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG vereinbar. Wenn danach die Veräußerung nur dann steuerbar ist, wenn der Veräußerer am Kapital der Gesellschaft innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung qualifiziert beteiligt war, so wird dieses Tatbestandsmerkmal durch die veranlagungszeitraumbezogene Auslegung des Beteiligungsbegriffs nicht in Frage gestellt. Durch diese im gesetzlichen Tatbestand angelegte Rückbezüglichkeit soll Gestaltungen entgegengewirkt werden, den Rechtsfolgen des § 17 EStG mittels Teilveräußerungen auszuweichen (vgl. zum Zweck Gosch in Kirchhof, EStG, 11. Aufl., § 17 Rz 30; s. auch BFH-Urteil vom 1. April 2009 IX R 31/08, BFHE 224, 530, BStBl II 2009, 810). Ob sich diese Rückanknüpfung indes auf die im Veräußerungszeitraum gültige Wesentlichkeitsgrenze oder auf die im jeweiligen Veranlagungszeitraum geltende Beteiligungsgrenze bezieht, ist die Frage, um die es geht. Sie ist ‑‑als vorrangige Fragestellung‑‑ nach Wortlaut und Zweck der Veräußerungsgewinnbesteuerung veranlagungszeitraumbezogen zu beantworten. Veräußert also jemand wie im Streitfall 1999 eine nicht wesentliche Beteiligung von 9,22 %, ist der Vorgang gleichwohl steuerbar, wenn der Veräußerer in den letzten fünf Jahren wesentlich, und das bedeutet, zu mehr als einem Viertel beteiligt war. Dabei kommt es auf Dauer und Gründe dieser Beteiligung nicht an. Es reicht aus, wenn die wesentliche Beteiligung von mehr als ein Viertel nur kurze Zeit innerhalb des retrospektiven Fünf-Jahreszeitraums bestanden hat (vgl. dazu Blümich/Ebling, § 17 EStG Rz 301, m.w.N.).
2. Da das FG-Urteil diesen Maßstäben nicht entspricht, ist es aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der Klage ist stattzugeben. Der Kläger erfüllt mit seiner Veräußerung im Streitjahr keinen Steuertatbestand. Der angefochtene (geänderte) Einkommensteuerbescheid ist zu ändern und die Einkommensteuer für das Streitjahr ohne Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns von 8.312.278 DM festzusetzen. Das FA muss die Einkommensteuer nach § 100 Abs. 2 Satz 2, § 121 FGO entsprechend berechnen.