Zum Hauptinhalt springen Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen
auf der Richterbank liegen Barett und Arbeitsmappe, dahinter ein Richterstuhl, auf dem eine Robe hängt

Decisions
of the Federal Fiscal Court

Decisions online

Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen

Beschluss vom 11. September 2012, VI B 67/12

Grundsätzliche Bedeutung - Haushaltsaufnahme - Heimunterbringung - Überraschungsentscheidung - Begründungserleichterung nach § 105 Abs. 5 FGO

BFH VI. Senat

GG Art 103 Abs 1, EStG § 32 Abs 1 Nr 2, SGB 8 § 27, SGB 8 § 34, SGB 8 § 35a, FGO § 118 Abs 2, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 105 Abs 5

vorgehend FG Bremen, 21. March 2012, Az: 4 K 92/11 (4)

Leitsätze

1. NV: Durch die Rechtsprechung des BFH ist geklärt, dass ein Kind, das im Rahmen der Eingliederungshilfe für seelische behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII in einem Heim oder einer sonstigen betreuten Wohnform untergebracht ist, weiterhin zum Haushalt der Eltern gehören kann, wenn es dort in einem zeitlich bedeutsamen Umfang betreut wird .

2. NV: Eine Überraschungsentscheidung ist nicht allein deshalb zu beklagen, weil das FG entgegen seiner vorherigen Ankündigung die Klage nicht als unzulässig abgewiesen, sondern wie vom Kläger gefordert in der Sache entschieden hat .

3. NV: Allein der Umstand, dass das Gericht in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht hat, dass die Klage als unzulässig abzuweisen sei, kommt einer Verhinderung weiteren Sachvortrags zur materiellen Rechtslage nicht gleich .

4. NV: Soweit der Kläger rügt, § 105 Abs. 5 FGO erlaube lediglich in Fällen der Anfechtungsklage auf die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf Bezug zu nehmen, verkennt er, dass die in § 105 Abs. 5 FGO in der seit dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung normierte Begründungserleichterung nicht länger nur auf (bestimmte) Anfechtungsklagen beschränkt ist, sondern auch bei Verpflichtungsklagen angewendet werden kann .

Gründe

  1. Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

  2. 1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.

  3. a) Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn eine Frage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht (sog. Klärungsbedürftigkeit) und die im angestrebten Revisionsverfahren gegen das angefochtene Urteil geklärt werden kann (sog. Klärungsfähigkeit, vgl. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 12. April 2012 VIII B 91/11, BFH/NV 2012, 1320, m.w.N.).

  4. b) Der Kläger wirft sinngemäß die Rechtsfrage auf, ob ein Kind, dessen Erziehungsberechtigte bei der Erziehung versagen bzw. der Erziehung nicht gewachsen sind und das deshalb im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe in einem Heim oder einer ähnlichen Wohnform nach § 34 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) untergebracht ist, zugleich in dem Haushalt des (zur Erziehung nicht geeigneten) Elternteils, bei dem es zuvor gewohnt hat, aufgenommen sein kann.

  5. c) Diese Frage ist in dem angestrebten Revisionsverfahren jedoch nicht klärungsfähig. Die Prämisse des Klägers, dass im Streitfall Hilfe zur Erziehung gewährt wurde, weil eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für dessen Entwicklung geeignet und notwendig war, trifft schon nicht zu. Nach den den BFH gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts (FG) im angefochtenen Urteil (Bl. 38 der mit Verfügung vom 29. Mai 2009 ‑‑Bl. 9 der FG-Akte‑‑ beigezogenen Kindergeldakte, "KG-Nr. …") ist den Personensorgeberechtigten durch die Heim-/Wohngruppenunterbringung des Kindes keine Hilfe zur Erziehung nach § 27 i.V.m. § 34 SGB VIII wegen mangelnder elterlicher Erziehungsleistungen gewährt worden. Vielmehr hat die Stadt A dem Kind Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder einer sonstigen betreuten Wohnform im Rahmen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII zugesprochen.

  6. d) Insoweit ist der Begriff der Haushaltsaufnahme i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes nicht klärungsbedürftig, sondern durch die Rechtsprechung des BFH geklärt. Danach kann ein behindertes Kind trotz (dauernder) Heimunterbringung weiterhin zum Haushalt der (Pflege-)Eltern gehören, wenn es dort in einem zeitlich bedeutsamen Umfang betreut wird (BFH-Beschluss vom 14. Januar 2011 III B 96/09, BFH/NV 2011, 788; zu den Voraussetzungen im Einzelnen vgl. BFH-Urteile vom 14. November 2001 X R 24/99, BFHE 197, 296, BStBl II 2002, 244; vom 26. August 2003 VIII R 91/98, BFH/NV 2004, 324). Der Kläger zieht diese Rechtsgrundsätze, von denen das FG bei seiner Entscheidung ausgegangen ist, nicht in Zweifel. Auch ist nicht ersichtlich, weshalb eine nochmalige Befassung mit den vorstehend dargestellten Grundsätzen erfolgen soll.

  7. 2. Die Revision ist schließlich auch nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Vorliegend ist weder eine Überraschungsentscheidung noch ein Verstoß gegen § 105 Abs. 5 FGO zu beklagen.

  8. a) Entgegen der Auffassung des Klägers hat das FG keine Überraschungsentscheidung erlassen, als es entgegen seiner vorherigen Ankündigung die Klage nicht als unzulässig, sondern als unbegründet abgewiesen hat.

  9. aa) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen mussten (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 18. Mai 2005 X B 107/04, BFH/NV 2005, 1617). Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt erst dann vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter ‑‑selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen‑‑ nicht zu rechnen brauchte, so dass dies im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleichkommt.

  10. Ein solches Geschehen ist im Streitfall nicht zu erkennen. Denn das FG hat über das Begehren des Klägers, wie von diesem im gesamten Klageverfahren stets (zutreffend) gefordert, ‑‑wenn auch zu seinen Lasten‑‑ in der Sache entschieden.

  11. bb) Das FG hat auch im Übrigen nicht gegen den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen. Der Anspruch umfasst in erster Linie das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und ‑‑gegebenenfalls‑‑ Beweisergebnissen zu äußern sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 10a, m.w.N.). Dass der Kläger am tatsächlichen oder rechtlichen Vortrag im Laufe des Verfahrens und insbesondere während der mündlichen Verhandlung gehindert gewesen wäre, ist nicht ersichtlich. Vielmehr hat er ausführlich schriftsätzlich zur materiellen Rechtslage vorgetragen und entsprechende Beweise angeboten. Auch ist ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung in der Sache der Verfahrensstand mit den Beteiligten erörtert worden.

  12. cc) Allein der Umstand, dass der Einzelrichter dabei zum Ausdruck gebracht haben soll, dass die Klage als unzulässig abzuweisen sei, kommt einer Verhinderung weiteren Sachvortrags zur materiellen Rechtslage nicht gleich. Vielmehr hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung auf seinem Rechtsstandpunkt, dass in der Sache zu entscheiden sei, beharrt. Nach der Niederschrift über die mündliche Verhandlung in dieser Sache hat er dem Gericht einen dementsprechenden Schriftsatz übergeben. Es war ihm deshalb auch unbenommen, weiter zur Sache vorzutragen und die seiner Ansicht nach für eine Sachentscheidung erforderlichen Beweisanträge ‑‑wie im Schriftsatz vom 1. März 2011‑‑ in der mündlichen Verhandlung zu stellen. Schließlich musste der fachkundige Kläger in dieser Situation damit rechnen, dass das FG von einer weiteren Sachaufklärung absehen werde. Angesichts dessen hätte er in der Beschwerdebegründung jedenfalls erläutern müssen, weshalb er das Vorgehen des FG nicht schon in der ersten Instanz gerügt hat. Allein der Vortrag, dass er sich wegen der Unrichtigkeit der richterlich geäußerten Rechtsauffassung zur Zulässigkeit der Klage in Sicherheit gewiegt habe, sein Recht erst vor dem BFH zu erhalten, und deshalb davon abgesehen habe, Beweisanträge zu stellen, wird dem Darlegungsgebot (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) nicht gerecht. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch die prozessuale Mitverantwortung des Beteiligten begrenzt (vgl. BFH-Beschluss vom 19. Januar 2007 VII B 171/06, BFH/NV 2007, 947).

  13. b) Soweit der Kläger rügt, § 105 Abs. 5 FGO erlaube lediglich in Fällen der Anfechtungsklage auf die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf Bezug zu nehmen, verkennt er, dass die in § 105 Abs. 5 FGO in der seit dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung normierte Begründungserleichterung nicht länger nur auf (bestimmte) Anfechtungsklagen beschränkt ist, sondern auch bei Verpflichtungsklagen angewendet werden kann (Gräber/von Groll, a.a.O., § 105 Rz 29; Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 105 FGO Rz 48).

Print Page