BFH III. Senat
EStG § 64 Abs 2 S 1, FGO § 60 Abs 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, AO § 174 Abs 5, AO § 174 Abs 4 S 1
vorgehend FG München, 09. December 2009, Az: 5 K 3464/08
Leitsätze
NV: Die vom FG nach § 174 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 AO unterlassene Beiladung kann zwar auf Rüge der Familienkasse, nicht aber auf Rüge des Kindergeldberechtigten zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO führen. Denn § 174 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 AO bezweckt nicht, die Verfahrensposition des Kindergeldberechtigten zu verbessern und in seinem Interesse die Möglichkeiten der Sachaufklärung zu erweitern.
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bezog zunächst Kindergeld für ihre im August 1996 geborene Tochter J.
Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hob die Kindergeldfestsetzung für J mit Bescheid vom 12. Oktober 2007 gegenüber der Klägerin auf, weil J in den Haushalt ihrer Pflegemutter in S aufgenommen sei. Zugleich forderte sie das Kindergeld für den Zeitraum von September 2005 bis Juli 2007 in Höhe von 3.542 € zurück. Der Einspruch blieb erfolglos.
Im anschließenden Klageverfahren beantragten sowohl die Klägerin als auch die Familienkasse die Beiladung der Pflegemutter von J. In der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 2009 stellte die Familienkasse den Antrag, die Klage abzuweisen, "hilfsweise" die Pflegemutter von J gemäß § 174 Abs. 5 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) beizuladen (vgl. Sitzungsprotokoll vom 10. Dezember 2009).
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zu der Beiladung nahm das FG weder in einem eigenen Beschluss noch in dem angefochtenen Urteil Stellung. Zur Begründung der Klageabweisung führte das FG im Wesentlichen aus, die Pflegemutter sei gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (EStG) vorrangig kindergeldberechtigt. Es bestehe ein die Kindergeldberechtigung der Klägerin (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG) ausschließendes Pflegekindschaftsverhältnis (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Insbesondere liege ein familienähnliches Band zu den Pflegeeltern vor, zudem habe kein Obhuts- und Pflegeverhältnis der Klägerin zu J mehr bestanden. Ein Fall einer Kindesentziehung liege nicht vor.
Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen Rechts (vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑), weil das FG ‑‑auch wenn kein Fall einer notwendigen Beiladung (§ 60 Abs. 3 FGO) vorliege‑‑ es unterlassen habe, die Pflegemutter der J am Verfahren zu beteiligen. Hierdurch sei die Klägerin beschwert, weil bei Vornahme der gebotenen Beiladung eine weitere Aufklärung des Sachverhalts hätte erwartet werden können. Daneben verstoße das Urteil gegen materielles Recht. Das FG habe aufgrund einer unzutreffenden Würdigung der nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) maßgeblichen Kriterien zu Unrecht angenommen, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen der Klägerin und J nicht mehr bestehe. Aber selbst wenn dieses Verhältnis beendet gewesen sein sollte, lägen ausreichende Kontakte zwischen der Klägerin und J vor, die ein solches Verhältnis neu begründet hätten.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).
1. Die Revision ist nicht wegen des von der Klägerin gerügten Verfahrensmangels, wonach es das FG trotz Antrags der Familienkasse unterlassen habe, die Pflegemutter der J zu dem Verfahren beizuladen, zuzulassen.
Gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist die Revision nur zuzulassen, wenn bei einem geltend gemachten Verfahrensmangel die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Liegen diese Voraussetzungen vor, kann der BFH bereits in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zurückverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).
a) Ein solcher Verfahrensmangel läge zwar vor, wenn das FG eine notwendige Beiladung gemäß § 60 Abs. 3 FGO unterlassen und damit gegen die Grundordnung des Verfahrens verstoßen hätte (z.B. BFH-Beschluss vom 17. Juli 2003 X B 28/03, BFH/NV 2003, 1539). Ein Verstoß gegen § 60 Abs. 3 FGO ist aber nicht gegeben, weil die Entscheidung des FG über die Kindergeldberechtigung der Klägerin nicht unmittelbar die Rechte der Pflegemutter berührt (s. dazu BFH-Beschluss vom 25. September 2001 VI B 153/01, BFH/NV 2002, 160).
b) Aber auch dann, wenn im Streitfall ein Verfahrensmangel vorläge, weil das FG eine nach § 174 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 AO vorgeschriebene Beiladung versäumt hätte (s. dazu BFH-Beschlüsse vom 2. Oktober 1998 V B 79/98, BFH/NV 1999, 442, und in BFH/NV 2002, 160), könnte die Klägerin hiermit nicht die Zulassung der Revision erreichen.
Ein Verfahrensmangel ist nur dann erheblich, wenn die angefochtene Entscheidung auf ihm "beruhen kann". Auch wenn hierfür lediglich die Möglichkeit einer anderen Entscheidung bestehen muss (z.B. BFH-Urteil vom 16. November 1993 VIII R 7/93, BFH/NV 1994, 891), ist im Streitfall nicht erkennbar, dass bei einer erfolgten Beiladung der Pflegemutter nach § 174 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 AO eine für die Klägerin andere Entscheidung hätte ergehen können.
Der Sache nach geht es bei dem selbständigen Beiladungsgrund nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO um die Anwendbarkeit einer Korrekturvorschrift und um den Rechtsschutz des Dritten. So liegt nach dem Gesamtzusammenhang der in § 174 Abs. 4 und 5 AO getroffenen Regelung die Entscheidung, den Dritten zu dem Verfahren hinzuzuziehen oder beizuladen, allein im Ermessen der Finanzbehörde. Nur diese hat zu prüfen und zu entscheiden, ob wegen eines möglichen Verfahrenserfolges des Steuerpflichtigen oder Kindergeldberechtigten (hier der Klägerin) rechtliche Folgen gegenüber einem Dritten (hier der Pflegemutter) möglich sind, dessen Beiladung deshalb veranlasst oder beantragt werden müsste (BFH-Beschluss in BFH/NV 2002, 160). Wird die erforderliche Beteiligung des Dritten zu Unrecht unterlassen, hat dies nach § 174 Abs. 5 Satz 1 AO lediglich zur Folge, dass gegenüber dem Dritten keine Folgerungen aus einer Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Kindergeldbescheides gezogen werden können. Will die Finanzbehörde diese Konsequenz verhindern, muss sie die unterlassene Beiladung als Verfahrensfehler rügen (Senatsurteil vom 13. März 1997 III R 300/94, BFH/NV 1997, 659). Danach kann zwar die angefochtene Entscheidung, soweit die Rechtsstellung der Finanzbehörde betroffen ist, auf einem solchen Verfahrensmangel beruhen. Die Möglichkeiten der Klägerin, auf das Verfahrensergebnis einzuwirken, werden aber durch die unterlassene Beiladung nicht beeinträchtigt. Im Übrigen bezweckt § 174 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 AO nicht, die Verfahrensposition der Klägerin zu verbessern und in deren Interesse die Möglichkeiten der Sachaufklärung zu erweitern.
2. Soweit die Klägerin rügt, das FG habe gegen materielles Recht verstoßen, indem es den Einzelfall unzutreffend gewürdigt habe, wird schon kein Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 FGO behauptet. Mit der Rüge einer vermeintlich fehlerhaften Rechtsanwendung durch das FG lässt sich die Zulassung der Revision grundsätzlich nicht erreichen (Senatsbeschluss vom 8. März 2010 III B 123/09, BFH/NV 2010, 1288, m.w.N.).