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Urteil vom 14. Dezember 2011, XI R 33/10

Innergemeinschaftliche Lieferung: Steuerpflicht bei Täuschung über Abnehmer

BFH XI. Senat

EWGRL 388/77 Art 28c, FGO § 68 S 1, FGO § 96, FGO § 118 Abs 2, FGO § 121 S 1, FGO § 127, FGO § 155, UStG § 4 Nr 1 Buchst b, UStG § 6a Abs 1, UStG § 6a Abs 3, UStG § 18e, UStDV §§ 17aff, UStDV § 17a, ZPO § 554

vorgehend FG Münster, 01. September 2010, Az: 5 K 1129/05 U

Leitsätze

NV: Beteiligt sich ein Unternehmer vorsätzlich durch Täuschung über die Identität des Abnehmers an einer Umsatzsteuerhinterziehung, um hierdurch die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs im Bestimmungsmitgliedstaat zu vermeiden, ist die Lieferung nicht nach § 6a UStG steuerfrei.

Tatbestand

  1. I. Die Klägerin, Revisionsklägerin und Anschlussrevisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, betrieb einen Großhandel mit Reifen und lieferte im Streitjahr 2001 nach ihren Angaben Reifen u.a. an die Kunden D und B, zwei Gesellschaften mit beschränkter Haftung belgischen Rechts, nach Belgien.

  2. Der registrierte Geschäftszweck der D lautete "Süßwarenfabrik, Großhandel mit Zucker, Süßwaren, Schokolade". Die Gesellschaftsanteile der D wurden von H und J zum Zweck des Betriebs eines Umsatzsteuerkarussells erworben. H und J wurden mit Strafurteil vom 22. Februar 2002 des Strafgerichts X u.a. wegen Mehrwertsteuerbetrug in Form der Beteiligung an Umsatzsteuerkarussellen und Urkundenfälschung verurteilt. J hat im Strafverfahren eingestanden, dass D als Scheinfirma fungierte. Das Strafgericht stellte fest, dass die formell als Geschäftsführerin der D benannte, in Tunesien wohnende N nur Strohfrau war und H und J als Geschäftsführer auftraten. D hat nach den Feststellungen des Strafgerichts für die Voranmeldungszeiträume Januar bis Mai 2001 keine Voranmeldungen abgegeben und auch keine Zahlungen auf Umsatzsteuerverbindlichkeiten geleistet. Das Unternehmen hatte keine Mitarbeiter und wurde im April 2002 "von der Mehrwertsteuer-Verwaltung gestrichen". An den Lieferadressen in Belgien wurde jeweils J angetroffen. D und J haben keine Erwerbsbesteuerung vorgenommen.

  3. Die Klägerin führte in der Zeit vom 23. Januar 2001 bis 14. Mai 2001 insgesamt elf Mal Bestätigungsverfahren nach § 18e des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) beim Bundesamt für Finanzen (BfF) zur Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-ID-Nummer) BE … der D mit dem Ergebnis durch, dass diese USt-ID-Nummer als ungültig bezeichnet wurde. Im Juni und Juli 2001 wurde die Gültigkeit der angegebenen USt-ID-Nummer drei Mal bestätigt.

  4. Gesellschaftszweck der B, deren Geschäftsführer nach den Feststellungen des Strafgerichts X im Urteil vom 22. Februar 2002 (ebenfalls) J und S waren, war der Großhandel mit Textilien. Die Klägerin hat im Streitjahr zehn einfache Bestätigungsabfragen nach § 18e UStG beim BfF durchgeführt, die die Gültigkeit der USt-ID-Nummer ergaben. Das Strafgericht X stellte fest, dass B in ein Mehrwertsteuer-Karussell eingebunden war, das J und S mit weiteren Personen organisiert hatten und das weitere Firmen umfasste. Feststellungen zum Abgabe- und Zahlungsverhalten der B im Streitjahr und zur Versteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs der Reifen durch B enthält das Strafurteil nicht.

  5. Die Klägerin behandelte die Lieferungen an D und B als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen und erklärte eine Umsatzsteuer für 2001 in Höhe von ./. … €.

  6. Der Beklagte, Revisionsbeklagte und Anschlussrevisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) erkannte im Anschluss an eine Umsatz-steuer-Sonderprüfung sowie Ermittlungen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung A die Lieferungen der Klägerin an D nicht als steuerbefreit an und setzte die Umsatzsteuer im Umsatzsteuerbescheid für 2001 vom 1. März 2004 entsprechend fest. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Während des finanzgerichtlichen Verfahrens erging nach einer weiteren Umsatzsteuer-Sonderprüfung am 14. Juli 2010 ein geänderter Umsatzsteuerbescheid für 2001, der gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Verfahrens wurde, und durch den die Umsatzsteuer der Klägerin auf … € festgesetzt wurde. In diesem Bescheid erkannte das FA die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen an D und B nicht an.

  7. Mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 185 veröffentlichten Urteil hat das Finanzgericht (FG) der Klage überwiegend stattgegeben und die Umsatzsteuer auf ./. … € festgesetzt. Zwar seien die Lieferungen an D nicht als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen anzuerkennen. Die Lieferungen an B seien allerdings steuerfrei.

  8. Die Lieferungen an D seien nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 FGO) steuerpflichtig, da die Klägerin gewusst habe, dass die D nicht der wirkliche Abnehmer der Reifen gewesen sei, sondern nur zwischengeschaltet worden sei, um die Erwerbsbesteuerung des wahren Abnehmers, J, zu vermeiden.

  9. Die Lieferungen an B seien gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG steuerfrei. Zwar habe J zusammen mit weiteren Personen nach den Feststellungen des Strafgerichts B dazu genutzt, Umsatzsteuerhinterziehungen zu begehen. Im Unterschied zum Sachverhalt bei D sei im Hinblick auf B vom Strafgericht keine Verletzung von Umsatzsteuererklärungs- und Zahlungspflichten für den Zeitraum ab Januar 2001 festgestellt worden. Im Streitfall habe der insoweit die Feststellungslast tragende Beklagte nicht dargelegt und nachgewiesen, dass B lediglich zwischengeschaltet worden sei, um die Erwerbsbesteuerung durch J hinsichtlich der konkret zu beurteilenden Lieferungen zu umgehen, und dass die Klägerin dies gewusst habe oder hätte wissen müssen.

  10. Die Klägerin stützt ihre vom FG zugelassene Revision auf die Verletzung materiellen Rechts. Sie ist zunächst der Auffassung der Vorinstanz entgegengetreten, dass eine Ausnahme von der Steuerbefreiung bei tatsächlich ausgeführten innergemeinschaftlichen Lieferungen möglich sei. Den vom FG hierzu angeführten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des FG sei gemeinsam, dass die Lieferer jeweils bewusst und planmäßig die tatsächlichen Erwerber zum Schaden des jeweiligen Bestimmungslandes verschleiert hätten. Eine solche Kollusion sei sie mit J nicht eingegangen. Der von der Vorinstanz angenommene Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns dürfe nicht einem "Wissen" gleichgesetzt werden.

  11. Nach Ergehen des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 7. Dezember 2010 C-285/09 ‑‑R‑‑ (Umsatzsteuer-Rundschau ‑‑UR‑‑ 2011, 15, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2010, 2572) trägt die Klägerin vor, die Voraussetzungen, unter denen nach dieser Entscheidung die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung (ausnahmsweise) versagt werden dürfe, lägen im Streitfall nicht vor.

  12. Die Klägerin beantragt,

    die Vorentscheidung aufzuheben und die Umsatzsteuer für 2001 auf ./. … € festzusetzen.

  13. Das FA hat Anschlussrevision eingelegt. Es beantragt, die Revision zurückzuweisen und unter Aufhebung des FG-Urteils die Umsatzsteuer für 2001 auf … € festzusetzen.

  14. Es rügt die Verletzung materiellen Rechts und meint, das FG hätte auch die Lieferungen an B als steuerpflichtig behandeln müssen. Das FG hätte aufgrund der vorliegenden Unterlagen ‑‑insbesondere des Urteils des Strafgerichts X‑‑ zu der Überzeugung kommen müssen, dass die Lieferungen der Klägerin nach Belgien dort nicht als innergemeinschaftliche Erwerbe erklärt und versteuert worden seien und somit in Belgien bezüglich der streitigen Lieferungen Steuerhinterziehung vorgelegen habe. Die Klägerin sei nachweislich in diese Steuerhinterziehung eingeweiht gewesen.

  15. Während des Revisionsverfahrens hat das FA durch Bescheid vom 2. November 2010 die Umsatzsteuer für 2001 entsprechend der Vorentscheidung des FG auf ./. … € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision der Klägerin hat im Ergebnis keinen Erfolg. Sie führt aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, nicht aber zu einer über den Urteilstenor der Vorinstanz hinausgehenden günstigeren Festsetzung der Umsatzsteuer. Die Anschlussrevision des FA war als unbegründet zurückzuweisen.

  2. A. Das angefochtene Urteil ist aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben, weil sich während des Revisionsverfahrens der Verfahrensgegenstand, über dessen Rechtmäßigkeit das FG zu entscheiden hatte, geändert hat (§ 127 FGO).

  3. Das FG hat über den Umsatzsteuerbescheid 2001 vom 14. Juli 2010 entschieden. An dessen Stelle ist während des Revisionsverfahrens der Änderungsbescheid vom 2. November 2010 getreten, der nach § 68 Satz 1 i.V.m. § 121 Satz 1 FGO Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Das angefochtene Urteil ist daher gegenstandslos geworden und aufzuheben (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 17. Januar 2008 VI R 44/07, BFHE 220, 269, BStBl II 2011, 21; vom 10. November 2010 XI R 79/07, BFHE 231, 373, BStBl II 2011, 311, unter II.1., m.w.N.). Da sich durch den Änderungsbescheid die tatsächlichen Grundlagen des Streitstoffs nicht geändert haben, kann der Senat über die streitigen Rechtsfragen selbst entscheiden und braucht die Sache nicht nach § 127 FGO an das FG zurückzuverweisen. Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen bilden nach wie vor die Grundlage für die Entscheidung des BFH; sie fallen durch die Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils nicht weg, weil das finanzgerichtliche Verfahren nicht an einem Verfahrensmangel leidet (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 12. Januar 2011 II R 30/09, BFH/NV 2011, 755, unter II.1., m.w.N.).

  4. B. Revision der Klägerin

  5. Die Revision ist erfolglos. Soweit die Klägerin eine über den Tenor des vorinstanzlichen Urteils hinausgehende günstigere Festsetzung der Umsatzsteuer begehrt, ist die Klage unbegründet und daher abzuweisen. Der entsprechend dem Urteilstenor geänderte Umsatzsteuerbescheid vom 2. November 2010 ist rechtmäßig. Zutreffend hat das FG die behaupteten Lieferungen der Klägerin an "D" nicht als steuerfrei beurteilt.

  6. 1. Innergemeinschaftliche Lieferungen sind unter den Voraussetzungen von § 6a UStG steuerfrei.

  7. a) Die Steuerfreiheit für die innergemeinschaftliche Lieferung setzt gemäß § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG voraus, dass der Unternehmer oder der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet. Darüber hinaus bestehen bei Lieferungen an Unternehmer oder juristische Personen weitere, in der Person des Erwerbers zu erfüllende Voraussetzungen. Nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und b, Nr. 3 UStG muss es sich beim Abnehmer der Lieferung entweder um einen Unternehmer, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unternehmen erworben hat, oder um eine juristische Person handeln, die nicht Unternehmer ist oder die den Gegenstand der Lieferung nicht für ihr Unternehmen erworben hat; der Erwerb des Gegenstands der Lieferung muss in allen Fällen beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegen.

  8. Die Steuerfreiheit beruht auf Art. 28c Teil A Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG). Danach sind steuerfrei "die Lieferungen von Gegenständen im Sinne des Artikels 5, die durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb des in Artikel 3 bezeichneten Gebietes, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, wenn diese Lieferungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt werden, der/die als solcher/solche in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns des Versands oder der Beförderung der Gegenstände handelt."

  9. b) Der Unternehmer hat die Voraussetzungen der Steuerfreiheit nach § 6a Abs. 1 UStG gemäß § 6a Abs. 3 UStG i.V.m. §§ 17a ff. der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung 1999 durch Belege und buchmäßige Aufzeichnungen nachzuweisen. Dieser Beleg- und Buchnachweis beruht auf dem ersten Satzteil des Art. 28c Teil A der Richtlinie 77/388/EWG (BFH-Urteil vom 12. Mai 2009 V R 65/06, BFHE 225, 264, BStBl II 2010, 511, unter II.B.1.b). Danach legen die Mitgliedstaaten Bedingungen "zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Mißbrauch" fest, wobei sie die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zu beachten haben (EuGH-Urteil in UR 2011, 15, DStR 2010, 2572, Rz 45; BFH-Urteil vom 11. August 2011 V R 50/09, BFHE 235, 32, BStBl II 2012, 151, unter II.1.b). Der Unternehmer hat den Beweis für die Steuerfreiheit einschließlich der von den Mitgliedstaaten aufgestellten Bedingungen zu erbringen (EuGH-Urteil in UR 2011, 15, DStR 2010, 2572, Rz 46; BFH-Urteile in BFHE 235, 32, BStBl II 2012, 151, unter II.1.b; vom 11. August 2011 V R 19/10, BFHE 235, 50, BStBl II 2012, 156, unter II.B.1.b).

  10. 2. Erbringt der Unternehmer den Beleg- und Buchnachweis nicht vollständig, erweisen sich Nachweisangaben als unzutreffend oder bestehen berechtigte und nicht durch den Unternehmer ausgeräumte Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Angaben (vgl. BFH-Urteile in BFHE 235, 32, BStBl II 2012, 151, unter II.1.c; in BFHE 225, 264, BStBl II 2010, 511, unter II.B.2.b; vom 17. Februar 2011 V R 28/10, BFHE 233, 331, BFH/NV 2011, 1448, unter II.2.c), ist die Lieferung steuerpflichtig, wenn diese Mängel den "sicheren Nachweis" der materiellen Anforderungen verhindern (EuGH-Urteil vom 27. September 2007 C-146/05 ‑‑Collée‑‑, Slg. 2007, I-7861, BFH/NV Beilage 2008, 34, Rz 31).

  11. 3. Darüber hinaus ist die Lieferung auch steuerpflichtig, wenn ‑‑obwohl die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung objektiv vorliegen‑‑ der Steuerpflichtige unter Verstoß gegen die auf dem ersten Satzteil des Art. 28c Teil A der Richtlinie 77/388/EWG beruhenden Pflichten zum Beleg- und Buchnachweis die Identität des Erwerbers verschleiert, um diesem im Bestimmungsmitgliedstaat eine Mehrwertsteuerhinterziehung zu ermöglichen (EuGH-Urteil in UR 2011, 15, DStR 2010, 2572, Rz 51 und Leitsatz; BFH-Urteile in BFHE 235, 32, BStBl II 2012, 151, unter II.1.c und II.2.; in BFHE 233, 331, BFH/NV 2011, 1448; vom 17. Februar 2011 V R 30/10, BFHE 233, 341, BStBl II 2011, 769, jeweils unter II.2.c, und in BFHE 235, 50, BStBl II 2012, 156, unter II.B.1.c).

  12. Diese Voraussetzungen hat das FG hinsichtlich der angeblich an D erfolgten Lieferungen der Klägerin in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen. Das FG konnte im Streitfall den Sachverhalt ohne Rechtsverstoß dahingehend würdigen, dass die Klägerin die Unredlichkeit von J und die bloß formale Zwischenschaltung der D bei den Geschäften kannte, um die Erwerbsbesteuerung des wahren Abnehmers, J, zu vermeiden (Urteil S. 11 unten, 12).

  13. a) Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 FGO) ergab sich diese Überzeugung für das FG aus folgenden Indizien: Die Klägerin habe insgesamt elf Mal Bestätigungsverfahren mit negativem Ergebnis durchgeführt. Der eingetragene Geschäftszweck der D sei der Handel mit Süßigkeiten gewesen. Das Unternehmen habe keine Mitarbeiter gehabt. Der Kontakt habe ausschließlich zwischen der Klägerin und J stattgefunden. Kontakte zwischen der Geschäftsführung der D und der Klägerin habe es nicht gegeben. Die Kontakte zwischen J und der Klägerin könnten entgegen ihrer Behauptung nicht erst ab April 2001 entstanden sein, denn die Klägerin habe bereits seit Januar 2001 versucht, die USt-ID-Nummer der D vom BfF bestätigen zu lassen. Die Verschleierungsmaßnahmen durch Zwischenschaltung der D haben der Vermeidung einer Erwerbsbesteuerung der Lieferungen in Belgien gedient. D habe keine Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgegeben und auch keine Umsatzsteuerzahlungen geleistet. Der wirkliche Abnehmer J habe ebenfalls keine Erwerbsbesteuerung durchgeführt. Zwar sei im Urteil des Strafgerichts X nichts über eine Täterschaft oder eine Beteiligung der Klägerin am Umsatzsteuerbetrug des J ausgeführt. Dies sei aber auch nicht möglich gewesen, weil die Klägerin nicht der Strafgewalt des belgischen Gerichts unterlegen habe. Im Übrigen sei für die Versagung der Steuerfreiheit unerheblich, ob der Abnehmer oder der Lieferant strafrechtlich belangt worden seien. Der Senat habe aufgrund der genannten Indizien die Überzeugung erlangt, dass die Klägerin die Unredlichkeit des J und die bloß formale Zwischenschaltung der D gekannt habe.

  14. b) Die Feststellung, welcher Leistungsbeziehung die Verschaffung der Verfügungsmacht zuzurechnen ist, und mithin die Feststellung, ob Rechnungsempfänger und Leistungsempfänger identisch sind, obliegt dem FG als Tatsacheninstanz und ist im Wesentlichen das Ergebnis einer tatsächlichen Würdigung (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 4. September 2003 V R 9-10/02, BFHE 203, 389, BStBl II 2004, 627, unter II.3.; in BFHE 235, 32, BStBl II 2012, 151, unter II.2.b aa).

  15. Zu den der Bindung nach § 118 Abs. 2 FGO unterliegenden Feststellungen gehören auch die Schlussfolgerungen tatsächlicher Art auf das Vorliegen bestimmter subjektiver Tatbestandsmerkmale, wie Absicht oder Vorsatz (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 27. August 1991 VIII R 84/89, BFHE 165, 330, BStBl II 1992, 9, unter 3.b; zu § 25d Abs. 1 Satz 1 UStG: BFH-Urteil vom 28. Februar 2008 V R 44/06, BFHE 221, 415, BStBl II 2008, 586, unter II.4.b aa).

  16. c) Der BFH als Revisionsgericht kann solche Tatsachenwürdigungen nur daraufhin überprüfen, ob sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind und mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen im Einklang stehen. Ist das zu bejahen, so ist die Tatsachenwürdigung selbst dann bindend, wenn sie nicht zwingend, sondern nur möglich wäre (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 203, 389, BStBl II 2004, 627, unter II.3.; in BFHE 165, 330, BStBl II 1992, 9, unter 3.b; in BFHE 221, 415, BStBl II 2008, 586, unter II.4.b aa; vom 11. Oktober 2007 IV R 38/05, BFHE 219, 136, BStBl II 2009, 135, unter II.2.; in BFHE, 235, 32, BStBl II 2012, 151, unter II.2.b aa; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 30, 54; Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 118 FGO Rz 140 ff., 143; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 118 FGO Rz 87).

  17. d) Danach ist es im Streitfall revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das FG entgegen den Belegen und den Angaben der Klägerin den J und nicht die D als Abnehmer der durch die Klägerin ausgeführten Lieferungen angesehen hat und dass das FG anhand der von ihm dafür dargelegten Indizien die Überzeugung gewonnen hat, dass die Klägerin wusste, dass nicht D der wirkliche Abnehmer der Reifen war, sondern nur zwischengeschaltet wurde, um die Erwerbsbesteuerung des wahren Abnehmers J zu vermeiden.

  18. aa) Diese Würdigung des FG im Streitfall ist verfahrensfehlerfrei zustande gekommen; sie verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze.

  19. Soweit die Klägerin vorträgt, nach ihrer Auffassung ergebe sich "aus dem festgestellten Sachverhalt ... eindeutig, dass sie bei der Abwicklung der Geschäfte nicht bewusst und vorsätzlich an der Steuerhinterziehung in Belgien mitgewirkt hat", setzt sie lediglich ihre Meinung an die Stelle der ‑‑im Streitfall möglichen‑‑ Würdigung des FG.

  20. bb) Der Ausnahmefall, dass die Bindung des BFH nach § 118 Abs. 2 FGO an die tatsächliche Würdigung des FG entfällt, weil aus den Gründen des angefochtenen Urteils nicht nachvollziehbar ist, aus welchen Tatsachen das FG eine Schlussfolgerung tatsächlicher Art ableitet (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 25. Juni 2003 X R 72/98, BFHE 202, 514, BStBl II 2004, 403, unter II.2.; Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz 55; Lange in HHSp, § 118 FGO Rz 144, jeweils m.w.N.) liegt im Streitfall nicht vor; dies macht die Klägerin auch nicht geltend.

  21. e) Soweit die Klägerin sich in ihrer Revisionsbegründung darauf berufen hat, dass der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 29. Juni 2010 in der Rechtssache C-285/09 dem EuGH vorgeschlagen habe, die vorgelegte Frage in der Weise zu beantworten, dass Art. 28c Teil A Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG keine Ausnahme von der Mehrwertsteuerbefreiung vorsehe, ist dem der EuGH nicht gefolgt. Der EuGH hat entschieden, dass die Steuerfreiheit zu versagen ist, wenn sich der Lieferer dadurch vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt, dass er die Identität des wahren Erwerbers verschleiert, um diesem zu ermöglichen, Mehrwertsteuer zu hinterziehen (vgl. EuGH-Urteil in UR 2011, 15, DStR 2010, 2572, Rz 48 bis 55; BFH-Urteil in BFHE, 235, 32, BStBl II 2012, 151, unter II.2.a). Dementsprechend geht auch das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass "die Steuerbefreiung jedenfalls nicht eingreift, wenn die Erwerbsbesteuerung in einem anderen Mitgliedstaat unterlaufen wird" (Beschluss vom 16. Juni 2011  2 BvR 542/09, UR 2011, 775, unter C.I.1.b bb).

  22. f) Entgegen der Ansicht der Klägerin hat das FG im Streitfall nicht lediglich einen Verstoß der Klägerin gegen die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns angenommen.

  23. C. Anschlussrevision des FA

  24. Die nach § 155 FGO i.V.m. § 554 der Zivilprozessordnung zulässige Anschlussrevision des FA ist unbegründet. Das FG hat die Steuerfreiheit der von der Klägerin an B ausgeführten Lieferungen in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise bejaht.

  25. 1. Nach den insoweit nicht angegriffenen und den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG wurden keine Tatsachen zum Abgabe- und Zahlungsverhalten der B im Streitjahr und zur konkreten Versteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs der Reifen durch B festgestellt. Das FG hat rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass keine Erkenntnisse darüber bestünden, ob B die Erwerbsbesteuerung der Reifenlieferungen der Klägerin durchgeführt habe. Anders als bei D sei im Hinblick auf B vom Strafgericht X keine Verletzung von Umsatzsteuererklärungs- und Zahlungspflichten für den Zeitraum ab Januar 2001 festgestellt worden.

  26. 2. Im Unterschied zum unter II.B.3. behandelten Sachverhalt D konnte das FG nicht feststellen, dass B mit Kenntnis der Klägerin zwischengeschaltet worden ist, um die Erwerbsbesteuerung von J zu umgehen. Diese tatsächliche Würdigung des FG ist nach dem dargelegten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab (s. unter II.B.3.b bis d) nicht zu beanstanden. Sie ist möglich; zwingend muss sie nicht sein. Verfahrensmängel hat das FA nicht gerügt. Auch Verstöße gegen die Denkgesetze oder allgemeinen Erfahrungssätze liegen nicht vor.

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