BFH XI. Senat
FGO § 53 Abs 2, FGO § 76, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 116 Abs 5 S 2, FGO § 155, ZPO § 182 Abs 1 S 2, ZPO § 189, ZPO § 295, ZPO § 418 Abs 1, ZPO § 418 Abs 2
vorgehend FG München, 30. March 2011, Az: 14 K 3971/10
Leitsätze
1. NV: Die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nach § 418 i.V.m. § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO erstreckt sich nicht nur auf das Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten, sondern insbesondere auch darauf, dass der Postbedienstete unter der angegebenen Anschrift weder den Adressaten persönlich noch eine zur Entgegennahme einer Ersatzzustellung in Betrecht kommende Person angetroffen hat .
2. NV: Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es nach § 53 Abs. 2 FGO i.V.m. § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Mit der fingierten Zustellung beginnen die prozessualen Fristen zu laufen .
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betrieb einen Büroservice. Nachdem der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Klägerin mehrfach ohne Erfolg zur Abgabe der Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre 2003 und 2004 aufgefordert hatte, wurden die Besteuerungsgrundlagen geschätzt und die Umsatzsteuer für diese Jahre mit Bescheiden vom 18. Oktober 2005 sowie 13. März 2006 festgesetzt. Das FA änderte nach einer betriebsnahen Veranlagung der Klägerin, die ebenfalls im Schätzungsweg abgeschlossen wurde, mit Bescheiden vom 9. August 2007 die Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre. Die hiergegen eingelegten Einsprüche hatten keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die sich anschließende Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. Juli 2009 als unbegründet ab. Nach den in der Postzustellungsurkunde gemachten Angaben hat die Postzustellerin unter der angegebenen Anschrift weder den Adressaten persönlich noch eine zur Entgegennahme einer Ersatzzustellung in Betracht kommende Person angetroffen; der Gerichtsbescheid wurde mittels Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung der Klägerin am 6. August 2009 zugestellt.
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 24. November 2010 Wiedereinsetzung in das Verfahren und mündliche Verhandlung.
Aufgrund mündlicher Verhandlung vom 31. März 2011, in der die Postzustellerin als Zeugin über die näheren Umstände der Zustellung vernommen wurde, entschied das FG, dass der Gerichtsbescheid vom 30. Juli 2009 als Urteil wirke. Es führte im Wesentlichen aus, die Behauptung der Klägerin, der Gerichtsbescheid sei ihr nicht ordnungsgemäß zugestellt worden, erschüttere trotz ihrer eidesstattlichen Versicherung nicht die Beweiskraft der Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde.
Aber selbst wenn man davon ausginge, dass der Gerichtsbescheid der Klägerin nicht am 6. August 2009 (wirksam) zugestellt worden sei, sei er der Klägerin durch die ‑‑von ihr nicht bestrittene‑‑ Übermittlung einer Ablichtung durch die Geschäftsstelle des Senats am 9. März 2010 wirksam bekannt gegeben worden. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht. Die mangelnde Kenntnis vom zugestellten Gerichtsbescheid sei spätestens am 9. März 2010 mit der unbestrittenen Zusendung der Ablichtung des Gerichtsbescheids entfallen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung sei mithin verspätet, selbst wenn der Gerichtsbescheid am 6. August 2009 nicht (wirksam) zugestellt worden wäre; es sei auch kein Wiedereinsetzungsgrund vorgetragen worden.
Im Übrigen bestünden gegen die durch das FG vorgenommenen Schätzungen keinerlei Bedenken.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Sie war als unzulässig zu verwerfen.
1. Nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Ist das Urteil des FG kumulativ auf mehrere Begründungen gestützt, von denen ‑‑wie hier‑‑ jede für sich das Entscheidungsergebnis trägt, muss zudem mit der Nichtzulassungsbeschwerde für jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 FGO schlüssig dargelegt werden (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 20. Juli 2005 XI B 95/03, BFH/NV 2005, 2032; vom 7. August 2008 IX B 50/08, Zeitschrift für Steuern und Recht ‑‑ZSteu‑‑ 2008, R882, jeweils m.w.N.).
2. Die Klägerin hat keinen Revisionszulassungsgrund den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargetan.
a) Sie rügt, die angefochtene Entscheidung des FG sei verfahrensfehlerhaft. Das FG gehe davon aus, der Gerichtsbescheid sei ihr, der Klägerin, zugestellt worden, obgleich sie nachgewiesen habe, dass die Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Zustellung nicht gegeben seien. Die in der mündlichen Verhandlung vom 31. März 2011 vernommene Zeugin sei unglaubwürdig und habe falsch ausgesagt. Sie, die Klägerin, habe inzwischen Strafanzeige wegen uneidlicher Falschaussage erstattet.
aa) Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind grundsätzlich nur Verstöße des FG gegen die Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts (vgl. BFH-Beschlüsse vom 9. Dezember 2003 III B 135/03, BFH/NV 2004, 339; vom 4. Juli 2007 IV B 103/06, nicht veröffentlicht ‑‑n.v.‑‑, juris). Daher kann ein Verfahrensmangel regelmäßig nicht ‑‑wie die Klägerin im Kern vorbringt‑‑ mit der Begründung gerügt werden, die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des FG sei fehlerhaft. Die Sachverhaltswürdigung und die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen und deshalb der Prüfung des BFH im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde entzogen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 22. März 2011 X B 151/10, BFH/NV 2011, 1165, m.w.N.).
bb) Abgesehen davon liegt der geltend gemachte Verfahrensfehler nicht vor.
Gemäß § 418 i.V.m. § 182 Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) erbringt die Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen. Der Gegenbeweis kann nach § 418 Abs. 2 ZPO nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden. Davon ist das FG unter Hinweis auf die BFH-Beschlüsse vom 24. April 2007 VIII B 249/05 (BFH/NV 2007, 1465) und vom 16. Juni 2009 V E 1/09 (BFH/NV 2009, 1658) zutreffend bei seiner Beweiswürdigung ausgegangen.
Die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nach § 418 i.V.m. § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO erstreckt sich nicht nur auf das Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten, sondern insbesondere auch darauf, dass der Postbedienstete unter der angegebenen Anschrift weder den Adressaten persönlich noch eine zur Entgegennahme einer Ersatzzustellung in Betracht kommende Person angetroffen hat (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 1991 2 BvR 511/89, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 1992, 224; BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 2008 IV R 78/05, BFH/NV 2008, 1860; vom 3. November 2010 I B 104/10, BFH/NV 2011, 809).
Derartige Gründe, die ein Fehlverhalten der Postzustellerin bei der Zustellung und damit eine Falschbeurkundung in der Postzustellungsurkunde belegen (vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Mai 1986 4 CB 8/86, NJW 1986, 2127; BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2008, 1860; in BFH/NV 2011, 809), hat die Klägerin mit ihrer Behauptung, die Postzustellerin habe keine Zustellung durch persönliche Übergabe des Schriftstücks versucht, nicht schlüssig vorgetragen. Dies hat das FA in der Beschwerdeerwiderung zutreffend ausgeführt (vgl. auch BFH-Beschluss vom 10. November 2003 VII B 366/02, BFH/NV 2004, 509).
b) Soweit die Klägerin einen weiteren Verfahrensfehler darin zu erkennen glaubt, dass das Verfahren entgegen dem FG auch ohne Antrag auf Wiedereinsetzung auf Grund der nicht ordnungsgemäßen Zustellung hätte fortgesetzt werden müssen, fehlt es schon an Ausführungen dazu, inwiefern das angefochtene Urteil nach der insoweit maßgebenden materiell-rechtlichen Auffassung des Gerichts ‑‑wonach auch kein Wiedereinsetzungsgrund vorgetragen worden sei‑‑ auf dem vermeintlichen Verfahrensmangel beruhen kann und es zu einer anderen Entscheidung hätte kommen können (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 14. März 2007 IV B 76/05, BFHE 216, 507, BStBl II 2007, 466; vom 11. Juli 2007 IV B 121/06, BFH/NV 2007, 2241, jeweils m.w.N.).
Es trifft im Übrigen nicht zu, dass ‑‑wie die Klägerin meint‑‑ nur eine ordnungsgemäße Zustellung eine Rechtsmittelfrist in Lauf setzen würde. Selbst wenn sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen lässt oder es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, gilt es nach § 53 Abs. 2 FGO i.V.m. § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 17. November 2008 VII B 148/08, BFH/NV 2009, 777; vom 18. August 2009 X B 14/09, ZSteu 2009, R1144, m.w.N.). Mit der fingierten Zustellung beginnen die prozessualen Fristen zu laufen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2009, 777).
c) Soweit die Klägerin mit ihrem Vorbringen, das FG habe ihren "Ausführungen ... keine Folge geleistet" und "verfahrensrechtlich relevante Aspekte nicht geprüft und bewertet", die Rüge der mangelnden Sachaufklärung (§ 76 FGO) erheben will, ist den Darlegungsanforderungen nicht genügt.
Der Beschwerdeführer hat darzutun, welche Tatsachen noch hätten aufgeklärt oder welche Beweise noch hätten erhoben werden müssen, aus welchen Gründen sich die Beweiserhebung auch ohne Antrag hätte aufdrängen müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich bei weiterer Aufklärung oder Beweisaufnahme voraussichtlich ergeben hätten und inwiefern sich daraus auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des Gerichts eine andere Entscheidung hätte ergeben können (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 26. Juni 2003 IV B 195/01, BFH/NV 2003, 1437; vom 16. Juni 2008 V B 75/07, n.v., juris, jeweils m.w.N.). Hieran fehlt es.
Bei der Verletzung der Sachaufklärungspflicht handelt es sich zudem um einen verzichtbaren Verfahrensmangel (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO), bei dem das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren geht, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Wird die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht, auf deren Beachtung der Betroffene verzichten kann, so muss der Beschwerdeführer vortragen, dass er den Verstoß in der Vorinstanz gerügt habe oder aus welchen entschuldbaren Gründen er an einer solchen Rüge vor dem FG gehindert gewesen sei (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 24. August 2006 V B 36/05, BFH/NV 2007, 69; vom 2. Oktober 2007 IX B 24/07, BFH/NV 2008, 92; vom 29. April 2009 VI B 126/08, BFH/NV 2009, 1267, jeweils m.w.N.). Auch hierzu fehlt ein Vortrag der Klägerin.
d) Die Revision ist ebenso wenig wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine bestimmte für die Entscheidung des Streitfalls erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellt, der grundsätzliche Bedeutung zukommen soll (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 10. Februar 2010 III B 112/09, BFH/NV 2010, 881, m.w.N.).
Der pauschale Hinweis der Klägerin, der Rechtssache komme grundsätzliche Bedeutung zu (Beschwerdeschrift, Seite 1), genügt nicht. Sie hat mithin auch den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht den Anforderungen entsprechend dargelegt.
e) Weiter hat die Klägerin auch den Zulassungsgrund der Divergenz nicht dargetan.
Zur Darlegung einer Divergenz ist erforderlich, dass sich aus der Beschwerdebegründung ergibt, in welcher konkreten Rechtsfrage das FG in der angefochtenen Entscheidung nach Ansicht des Beschwerdeführers von der Rechtsprechung anderer Gerichte abgewichen ist. Er hat rechtserhebliche abstrakte Rechtssätze im angefochtenen Urteil und in der von ihm angeführten Divergenzentscheidung so genau zu bezeichnen, dass die Abweichung erkennbar wird (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 18. November 2010 XI B 56/10, BFH/NV 2011, 199; vom 15. Oktober 2008 XI B 247/07, n.v., juris; vom 4. Dezember 2000 V B 15/00, BFH/NV 2001, 819, jeweils m.w.N.).
Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin nicht. Sie bezieht sich zwar auf eine mit Datum und Aktenzeichen zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16. Juni 2011 III ZR 342/09 (NJW 2011, 2440), ohne jedoch rechtserhebliche abweichende Rechtssätze bei vergleichbaren Sachverhalten derart darzutun, dass die Nichtübereinstimmung verschiedener Gerichte im Grundsätzlichen erkennbar wäre.
3. Überdies hat das FG sein Urteil auch darauf gestützt, dass der Gerichtsbescheid (jedenfalls) durch die Übermittlung einer Kopie im März 2010 wirksam bekannt gegeben worden sei.
Zu dieser die Entscheidung des FG selbständig tragenden Begründung, hat die Klägerin keinen Revisionszulassungsgrund vorgetragen.
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).