BFH IV. Senat
EStG § 4 Abs 5 S 1 Nr 8 S 4, FGO § 76 Abs 1, FGO § 76 Abs 2, FGO § 96 Abs 1 S 1, FGO § 96 Abs 2, FGO § 105 Abs 4 S 2, FGO § 105 Abs 4 S 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 2
vorgehend FG Münster, 04. October 2010, Az: 13 K 3807/06 F
Leitsätze
1. NV: Die Behauptung, das angefochtene Urteil sei erst 53 Tage nach der mündlichen Verhandlung zugestellt worden, weshalb davon auszugehen sei, dass die Zweiwochenfrist des § 105 Abs. 4 Satz 1 FGO nicht eingehalten worden sei, genügt zur Darlegung eines Verfahrensmangels nicht.
2. NV: Eine Überraschungsentscheidung kann sich nicht daraus ergeben, dass der Vorsitzende Richter die Rechtslage vor der mündlichen Verhandlung für die Klägerin günstiger eingeschätzt hatte.
3. NV: Die Entscheidung, dass das Abzugsverbot für Geldbußen bei einem Kartellrechtsverstoß eingreift, weil die verhängte Geldbuße nicht "mehrerlösbezogen" festgesetzt wurde, sondern (ausnahmsweise) reinen Ahndungscharakter hatte, weicht nicht von dem BFH-Urteil vom 9. Juni 1999 I R 100/97, BFHE 189, 79 BStBl II 1999, 658 ab.
Gründe
Die Beschwerde ist nicht begründet. Die Revision ist weder wegen Verfahrensmängeln noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen.
1. Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Die Voraussetzungen müssen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO in der Begründung der Beschwerde dargelegt werden. Im Streitfall liegen die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) geltend gemachten Verfahrensmängel nicht vor.
a) Das Finanzgericht (FG) hat die Frist zur Abfassung des Urteils (§ 105 Abs. 4 FGO) nicht überschritten.
aa) Die Klägerin macht geltend, das Urteil sei ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung am 5. Oktober 2010 verkündet, jedoch erst am 27. November 2010 zugestellt worden, weshalb davon auszugehen sei, dass die Zweiwochenfrist des § 105 Abs. 4 Satz 1 FGO nicht eingehalten worden sei. Da es sich um einen internen Vorgang des FG handele, entfalle die Darlegungslast der Klägerin.
bb) Nach § 105 Abs. 4 FGO ist ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefasst war, vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle zu übermitteln (Satz 1). Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle zu übermitteln (Satz 2). Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übermitteln (Satz 3). Die Frist des § 105 Abs. 4 Satz 3 FGO ist nicht eingehalten, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 GmS-OGB 1/92, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 2603). In diesem Fall gilt die Entscheidung i.S. des § 119 Nr. 6 FGO als "nicht mit Gründen versehen" (vgl. u.a. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 20. Oktober 2005 I B 75/05, BFH/NV 2006, 337).
cc) Einen solchen Verfahrensmangel hat die Klägerin nicht dargelegt. Zu den Voraussetzungen des § 105 Abs. 4 Sätze 2 und 3 FGO hat sie nichts vorgetragen. Wie der FG-Akte zu entnehmen ist, sind ‑‑nach der Verkündung des Urteils am 5. Oktober 2010‑‑ der Tenor der Entscheidung (ohne Gründe) am 8. Oktober 2010 und das vollständig abgefasste Urteil am 24. November 2010, also jeweils rechtzeitig, bei der Geschäftsstelle eingegangen. Dies wäre auch für die Klägerin erkennbar gewesen, wenn sie Akteneinsicht genommen hätte.
b) Es liegt auch kein Verfahrensmangel wegen einer unzulässigen Überraschungsentscheidung oder einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht vor (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 76 Abs. 1 und Abs. 2, § 96 Abs. 2 FGO).
aa) Die Klägerin macht geltend, bei dem angefochtenen Urteil handele es sich um eine Überraschungsentscheidung. Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt; das FG habe gegen seine Sachaufklärungspflicht verstoßen. Dass die wirtschaftliche Lage der Klägerin entscheidungserheblich sein könnte, sei vom FG vor dem Ergehen des Urteils nicht thematisiert worden. Damit sei auch nicht zu rechnen gewesen, zumal sich der Vorsitzende Richter anlässlich eines Anrufs beim Prozessbevollmächtigten noch am 19. Mai 2010 zu ihren Gunsten geäußert habe. Hätte das FG seiner Sachaufklärungspflicht genügt und die maßgeblichen Bilanzen und Gewinn- und Verlust-Rechnungen angefordert, hätte die Klägerin ihre durchgängig gute wirtschaftliche Lage darlegen und durch Vorlage der Unterlagen unter Beweis stellen können. Insoweit sei kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden.
bb) Aus § 76 Abs. 2 FGO und aus dem Recht der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) kann sich die Verpflichtung des FG zu Hinweisen an die Beteiligten ergeben. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt allerdings nicht vor, wenn das FG das angefochtene Urteil auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat, der im bisherigen Verfahren zumindest am Rande angesprochen worden ist (BFH-Urteil vom 23. September 1999 VI R 106/98, BFH/NV 2000, 448, m.w.N.; ferner BFH-Beschlüsse vom 3. Februar 2003 I B 49/02, BFH/NV 2003, 1058, unter II.1. der Gründe, m.w.N.; vom 10. Mai 2005 IV B 114/03, juris, unter I.2.b der Gründe).
Die Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO erfordert, dass das FG Tatsachen und Beweismitteln nachgeht, die sich ihm in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hätten aufdrängen müssen. Es darf substantiierte Beweisanträge, die den entscheidungserheblichen Sachverhalt betreffen, grundsätzlich weder ablehnen noch übergehen. Da die Sachaufklärungspflicht dazu dient, die Spruchreife der Klage herbeizuführen, hat das Gericht jedoch nur das aufzuklären, was aus seiner Sicht entscheidungserheblich ist (u.a. BFH-Beschluss vom 23. September 2009 IV B 133/08, BFH/NV 2010, 52, unter 2.a der Gründe, m.w.N.).
cc) Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt danach nicht vor. Die wirtschaftliche Lage der Klägerin war nach ihrem eigenen Vorbringen während des Verfahrens ausdrücklich angesprochen worden. Wie die Klägerin in der Beschwerdebegründung vorgetragen hat, hat der Vorsitzende Richter den Prozessbevollmächtigten am 20. September 2010 angerufen und mitgeteilt, "dass sich aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nichts über die wirtschaftliche Lage/Gewinnsituation der Klägerin zum Zeitpunkt des Bußgeldbescheids bzw. der davorliegenden Jahre ergebe. Er fragte den Unterzeichner [der Beschwerdebegründung], ob dieser Näheres wisse, was dieser mangels ihm zu diesem Zeitpunkt vorliegender Unterlagen verneinte". Dass der Vorsitzende Richter die Rechtslage für die Klägerin früher günstiger eingeschätzt hatte ‑‑wie sie vorgetragen hat‑‑, rechtfertigt die Annahme einer Überraschungsentscheidung nicht. Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) und musste daher auch das Ergebnis der mündlichen Verhandlung einschließlich der Zeugenaussage berücksichtigen.
Auf eine darüber hinausgehende Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch die unterlassene Anforderung der Bilanzen und Gewinn- und Verlust-Rechnungen kann sich die ‑‑bereits während des Klageverfahrens fachkundig vertretene‑‑ Klägerin schon deshalb nicht berufen, weil sie den behaupteten Mangel nicht spätestens in der mündlichen Verhandlung gerügt hat. Es kann deshalb offenbleiben, ob sich diese Unterlagen bei den Finanzamts-Akten befanden und dem FG bekannt waren und ob es darauf ‑‑ausgehend von der Ansicht des FG‑‑ überhaupt angekommen wäre. Das FG hat seine Auffassung in diesem Punkt maßgeblich auf die Sicht des Bundeskartellamts, wie sie sich aus der Zeugenaussage des Berichterstatters beim Bundeskartellamt und der im vorliegenden Fall seiner Auffassung nach nicht mehrerlösbezogenen Höhe des Bußgelds ergab, gestützt, die inzidenter durch die Begründung der Stundungsbitte der Klägerin bestätigt werde.
c) Das FG hat auch nicht gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen.
aa) Die Klägerin trägt vor, das FG habe die (vorherige) schriftliche Aussage des Zeugen, die gegenüber dessen mündlicher Aussage besonderes Gewicht habe, völlig unberücksichtigt gelassen.
bb) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Diese Regelung ist nach der Rechtsprechung des BFH dahin auszulegen, dass neben dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung auch der gesamte Akteninhalt vollständig zu berücksichtigen ist. Ein Verstoß dagegen kann mit der Verfahrensrüge (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) geltend gemacht werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4. August 1999 IV B 96/98, BFH/NV 2000, 70; vom 25. Juli 2006 IV B 116/04, BFH/NV 2006, 2270, unter 2. der Gründe). Mit Einwänden gegen die durch die jeweiligen Gesamtumstände des Einzelfalls bestimmte konkrete Tatsachen- und Beweiswürdigung des FG wird aber kein Verfahrensmangel dargelegt; denn die Würdigung von Tatsachen und Beweisen ist dem materiellen Recht zuzuordnen (u.a. BFH-Beschluss vom 15. April 2008 IX B 159/07, BFH/NV 2008, 1341).
cc) Der behauptete Verstoß liegt nicht vor. Das FG hat auf das Schreiben des Zeugen ausdrücklich Bezug genommen (S. 11 der Urteilsreinschrift). Ein Widerspruch zu der mündlichen Aussage des Zeugen ist nicht erkennbar. Falls der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gleichwohl von einem solchen Widerspruch ausgegangen sein sollte, hätte er im Übrigen Gelegenheit gehabt, diesen im Rahmen der mündlichen Verhandlung aufzuklären. Die Einwände der Klägerin richten sich inhaltlich gegen die Beweiswürdigung des FG; ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens ergibt sich daraus nicht.
2. Die Revision ist auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).
a) Die Klägerin stützt die Nichtzulassungsbeschwerde in diesem Punkt darauf, dass das beanstandete Urteil in derselben Rechtsfrage von den Entscheidungen des BFH vom 9. Juni 1999 I R 100/97 (BFHE 189, 79, BStBl II 1999, 658) sowie vom 24. März 2004 I B 203/03 (BFH/NV 2004, 959) und des FG Baden-Württemberg vom 20. September 2001 3 K 168/01 (Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2002, 72) sowie des Niedersächsischen FG vom 27. April 2006 10 K 65/01 (EFG 2006, 1737) abweiche und deshalb nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordere.
b) Die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO setzt voraus, dass das FG in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Gerichts abgewichen ist, dass dabei über dieselbe Rechtsfrage entschieden wurde und diese für beide Entscheidungen rechtserheblich war, dass die Entscheidungen zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sind, dass die abweichend beantwortete Rechtsfrage im Revisionsverfahren geklärt werden kann und dass eine Entscheidung des BFH zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich ist (u.a. BFH-Beschluss vom 31. März 2010 IV B 131/08, BFH/NV 2010, 1487). Eine Divergenz liegt deshalb nur vor, wenn das FG seiner Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz zu Grunde gelegt hat, der mit tragenden Rechtsausführungen in der Divergenzentscheidung des anderen Gerichts nicht übereinstimmt (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 18. Januar 1991 VI B 140/89, BFHE 163, 204, BStBl II 1991, 309; vom 4. August 2010 X B 172/09, BFH/NV 2010, 2053). Nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO müssen diese Voraussetzungen in der Begründung der Beschwerde dargelegt werden. Dazu ist es erforderlich, abstrakte Rechtssätze des erstinstanzlichen Urteils herauszustellen, die mit tragenden Rechtssätzen der Entscheidung eines anderen Gerichts nicht übereinstimmen (vgl. u.a. BFH-Beschluss vom 8. September 2005 IV B 23/04, BFH/NV 2006, 51, m.w.N.).
c) Eine die Zulassung der Revision rechtfertigende Abweichung des angefochtenen Urteils von den Entscheidungen, auf die sich die Klägerin berufen hat, liegt danach nicht vor. Denn die Abweichung beruht auf Unterschieden in den Sachverhalten, nicht auf abweichenden Rechtssätzen. Das FG hat seiner Entscheidung ausdrücklich die Rechtsansicht des BFH im Urteil in BFHE 189, 79, BStBl II 1999, 658 zu Grunde gelegt (S. 12 bis 14 der Urteilsreinschrift), ist dann jedoch ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen (S. 15 der Urteilsreinschrift) zu der Einschätzung gelangt, dass die Geldbuße im Streitfall ‑‑anders als in den von der Klägerin als Divergenzentscheidungen angeführten Fällen‑‑ nicht "mehrerlösbezogen" festgesetzt worden sei, sondern (ausnahmsweise) reinen Ahndungscharakter gehabt habe. Diese Auffassung hat das FG mit den Besonderheiten des Streitfalls begründet, wofür insbesondere die nicht an der Höhe des Mehrerlöses der Klägerin ‑‑der nach Berechnungen während des Klageverfahrens mindestens … Mio. € betragen habe‑‑, sondern an der oberen Grenze des Regelbußgeldrahmens orientierte Höhe des Bußgelds (1/2-Anteil der Klägerin von 500.000 €) in Verbindung mit der Zeugenaussage ausschlaggebend war. Bei den von der Klägerin beanstandeten Abweichungen handelt es sich dementsprechend auch nicht um einander widersprechende, abstrakte Rechtssätze, sondern im Kern um eine unterschiedliche Tatsachen- und Beweiswürdigung, die jedoch im Wesentlichen auf die Besonderheiten des Streitfalls zurückzuführen ist und daher die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht rechtfertigen kann.
3. Von der Darstellung des Tatbestandes und einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.