BFH VI. Senat
FGO § 110 Abs 1, FGO § 96 Abs 1 S 2, AO § 174 Abs 4 S 1, AO § 174 Abs 4 S 2
vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz , 09. November 2010, Az: 1 K 1914/08
Leitsätze
1. Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot begründet im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO kein allgemeines "Änderungsverbot". Es besagt lediglich, dass eine Schlechterstellung des Klägers bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung durch das FG verboten ist .
2. Einer erneuten Änderung eines zuvor bereits durch Gerichtsentscheidung geänderten Steuerbescheids stehen Sinn und Zweck des § 174 Abs. 4 AO sowie Rechtskraftgründe jedoch entgegen, wenn es sich um denselben Streitgegenstand handelt .
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob der Einkommensteuerbescheid 2002 nach § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO) geändert werden durfte.
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Die Klägerin erzielte seit 1997 als Prokuristin der A mbH (GmbH) in B, deren Geschäftsführer der Kläger war, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Anlässlich einer im Jahr 2005 bei der GmbH durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung stellte der Prüfer u.a. fest, dass der zuständige Sozialversicherungsträger C mit Schreiben vom 15. Mai 2002 auf eine pflichtversicherungsfreie Beschäftigung der Klägerin erkannt hatte und daraufhin die von der GmbH für die Klägerin seit 1997 abgeführten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung im Jahr 2002 in freiwillige Beiträge umgewandelt sowie die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile zur Arbeitslosenversicherung an den Arbeitgeber zurückgezahlt und von diesem einbehalten worden sind.
Nach Auffassung des Lohnsteuer-Außenprüfers führten die Feststellungen des Sozialversicherungsträgers zum rückwirkenden Wegfall der bis dahin für die Klägerin angenommenen Sozialversicherungspflicht. Damit seien die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 62 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes weggefallen. Die in freiwillige Beiträge umgewandelten Arbeitgeberanteile zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung seien ‑‑wie die ab Juni 2002 gezahlten Zuschüsse des Arbeitgebers zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung der Klägerin‑‑ deshalb steuerbarer Arbeitslohn. Dieser sei im jeweiligen Lohnzahlungszeitraum zugeflossen und der Bruttoarbeitslohn der Klägerin entsprechend zu erhöhen. Die Erstattung der Arbeitnehmeranteile zur Arbeitslosenversicherung sei hingegen als Rückzahlung von Arbeitslohn zu werten, da der Arbeitgeber diese nicht an die Klägerin weitergegeben habe.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) folgte dieser Auffassung in den nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geänderten Einkommensteuerbescheiden für die Jahre 1997 bis 1999 bzw. nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten Einkommensteuerbescheiden für 2000 bis 2002 und dem nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Bescheid für 2003, jeweils vom 3. April 2006.
Die hiergegen eingelegten Einsprüche wegen Einkommensteuer 1997 bis 2003 blieben erfolglos. Die daraufhin erhobene Klage war weitgehend erfolgreich. Mit Urteil vom 13. September 2007 1 K 2180/06 (juris) hob das Finanzgericht (FG) die geänderten Einkommensteuerfestsetzungen 1997 bis 2001 auf. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die Umwandlung der aufgrund rechtsirriger Beurteilung geleisteten Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung in freiwillige Beiträge hätte zwar bei der Klägerin zu steuerbarem Arbeitslohn geführt. Dieser sei jedoch nicht in den Jahren 1997 bis 2001, sondern erst ‑‑mit der Umwandlung der Beiträge‑‑ im Jahre 2002 zugeflossen. Deshalb seien die geänderten Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1997 bis 2001 rechtswidrig und aufzuheben. Gleichwohl seien die Besteuerungsgrundlagen im Veranlagungszeitraum 2002 nicht zu ändern. Mehr als eine Saldierung mit zu Unrecht angesetzten Einnahmen sei wegen des im finanzgerichtlichen Verfahren zu beachtenden Verböserungsverbotes nicht möglich. Die gegen das genannte Urteil des FG erhobene Nichtzulassungsbeschwerde nahm das FA zurück (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 7. Mai 2008 VI B 120/07, nicht veröffentlicht).
Anschließend änderte das FA jedoch den ‑‑nunmehr streitgegenständlichen‑‑ Einkommensteuerbescheid für 2002 ‑‑zuletzt vom 18. Mai 2009‑‑ erneut. Es nahm auf § 174 Abs. 4 AO Bezug und erhöhte die Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit ‑‑unter Anrechnung der Rückzahlung aus der Arbeitslosenversicherung‑‑ um die im Jahr 2002 in freiwillige Beiträge umgewandelten Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag der Jahre 1997 bis 2001 in Höhe von 26.879 €. Zugleich wurde dieser Betrag bei der Einkommensteuerfestsetzung 2002 im Rahmen der abziehbaren Vorsorgeaufwendungen berücksichtigt.
Der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage gab das FG statt (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 689). Das FA habe die Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 2002 im Streitfall nicht erneut ändern dürfen. Denn § 174 Abs. 4 AO erlaube der Finanzbehörde nicht, aus einer Gerichtsentscheidung Folgerungen zu Lasten des Steuerpflichtigen zu ziehen, die das FG aus Gründen des Verböserungsverbotes nicht habe ziehen dürfen.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
Es beantragt,
das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 10. November 2010 1 K 1914/08 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Denn das FA hat den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2002 nach § 174 Abs. 4 AO zu Lasten der Kläger ändern dürfen.
1. Zutreffend streiten die Beteiligten nicht darum, dass die in freiwillige Beiträge umgewandelten Arbeitgeberanteile am Gesamtsozialversicherungsbeitrag der Klägerin im Streitjahr als Arbeitslohn anzusetzen sind, sondern allein um die Änderungsvoraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO.
2. Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO können aus einem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dies gilt auch dann, wenn die Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids durch das Gericht erfolgt (§ 174 Abs. 4 Satz 2 AO).
a) Dadurch soll die Finanzbehörde die Möglichkeit erhalten, in bestimmten Fällen der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen, indem vermieden wird, dass Steuerfestsetzungen bestehen bleiben, die inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen (BFH-Urteil vom 28. Januar 2009 X R 27/07, BFHE 224, 15, BStBl II 2009, 620). Die Vorschrift setzt hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dies löst sodann ‑‑"nachträglich"‑‑ die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, nämlich dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Die Vorschrift zieht somit die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, dass der andere Bescheid nunmehr eine "widerstreitende Steuerfestsetzung" enthält, wie sie das Gesetz nach seiner amtlichen Überschrift zu § 174 AO voraussetzt (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 10. November 1997 GrS 1/96, BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83, unter C.II.1.).
b) Mithin müssen sich begrifflich zwei oder mehrere verschiedene Besteuerungsverfahren gegenüberstehen, in denen der "bestimmte Sachverhalt" möglicherweise geregelt werden könnte. Dementsprechend wird einhellig im Schrifttum von dem Erlass oder der Änderung einer "anderen" Steuerfestsetzung gesprochen (von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 174 AO Rz 257, 270; Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 174 Rz 145; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 48a; Weber-Grellet, Die steuerliche Betriebsprüfung 1982, 29, 34). Auch das BFH-Urteil vom 11. Juli 1991 IV R 52/90 (BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126) beruht auf der Überlegung, dass die weitere Berücksichtigung desselben Sachverhalts nur bei einem anderen Steuerpflichtigen oder bei einer anderen Steuerart oder in einem anderen Veranlagungszeitraum in Frage kommt. Eine Befugnis des FA zur Änderung ein und desselben bereits durch Gerichtsentscheidung modifizierten Steuerbescheids zu Ungunsten des Steuerpflichtigen eröffnet der Tatbestand des § 174 Abs. 4 AO hingegen nicht (vgl. BFH-Urteil vom 8. Juli 1992 XI R 54/89, BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867).
3. Nach diesen Grundsätzen war das FA berechtigt, den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2002 zu Lasten der Kläger zu ändern.
a) Das FG hatte mit Urteil vom 13. September 2007 1 K 2180/06 entschieden, die Sozialversicherungsbeiträge seien erst im Jahr 2002 als Lohn zu erfassen, und hatte daher auf die Klage der Kläger die Einkommensteuerfestsetzungen für 1997 bis 2001 aufgehoben. Das FA hat mit der nachträglichen Änderung des hier streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheids 2002 die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen, indem es die Sozialversicherungsbeiträge nunmehr in diesem Bescheid erfasst hat.
b) Das FA hat mit der streitbefangenen Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 keinen gerichtlich modifizierten Steuerbescheid nochmals geändert. Denn durch das insoweit klageabweisende Ersturteil des FG vom 13. September 2007 1 K 2180/06 hat der Einkommensteuerbescheid 2002 keine Änderung erfahren. Es hat vielmehr in dem Einkommensteueränderungsbescheid 2002 und damit in einem "anderen" Bescheid die zutreffenden steuerlichen Folgen aus dem die Einkommensteuerfestsetzungen 1997 bis 2001 ändernden FG-Urteil vom 13. September 2007 1 K 2180/06 gezogen.
4. Auch steht ‑‑entgegen der Auffassung des FG‑‑ der streitbefangenen Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 weder das finanzgerichtliche Verböserungsverbot noch (nach Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde VI B 120/07) die Rechtskraft des FG-Urteils vom 13. September 2007 1 K 2180/06 entgegen.
a) Denn das finanzgerichtliche Verböserungsverbot verwehrt dem FG lediglich, den Kläger bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung schlechter zu stellen (BFH-Urteil vom 1. Dezember 2010 XI R 46/08, BFHE 232, 232). Deshalb war zwar das FG in der Sache 1 K 2180/06 gehindert, die streitige Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 selbst vorzunehmen. Ein allgemeines "Änderungsverbot" im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO begründet das finanzgerichtliche Verböserungsverbot jedoch nicht (vgl. BFH-Urteil vom 8. Juni 2000 IV R 65/99, BFHE 192, 207, BStBl II 2001, 89). Die Vorinstanz verkennt insoweit, dass allenfalls die Rechtskraft eines Urteils die Änderung eines Steuerbescheids hindern kann, wenn das FG unter Hinweis auf das finanzgerichtliche Verböserungsverbot davon absieht, den ursprünglich angefochtenen Bescheid zu Lasten des Klägers zu ändern (BFH-Beschluss vom 30. Dezember 2008 I S 31/08, juris).
b) Vorliegend verbietet auch die Rechtskraft (§ 110 Abs. 1 FGO) des FG-Urteils vom 13. September 2007 1 K 2180/06 die streitbefangene Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 nicht.
aa) Zwar erstreckt sich die Rechtskraft, da sich das FG-Urteil vom 13. September 2007 1 K 2180/06 auf die Einkommensteuerfestsetzungen 1997 bis 2002 bezogen hat, auch auf den Einkommensteuerbescheid 2002.
bb) Jedoch ist die materielle Rechtskraftwirkung des § 110 Abs. 1 FGO nach ständiger Rechtsprechung des BFH auf den Teil des Streitgegenstands begrenzt, über den jeweils entschieden worden ist (BFH-Urteil vom 21. November 1989 VII R 3/88, BFH/NV 1990, 650; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 110 Rz 13; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 FGO Rz 10; Lange in HHSp, § 110 FGO Rz 48). Soweit über den Streitgegenstand (genauer: Entscheidungsgegenstand) entschieden worden ist, darf das FA deshalb nach einem rechtskräftigen Sachurteil nicht (mehr) korrigieren.
cc) Nach diesen Grundsätzen steht die FG-Entscheidung vom 13. September 2007 1 K 2180/06 einer Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 nicht entgegen. Denn die Sozialversicherungsbeiträge der Jahre 1997 bis 2001 waren nicht Streitgegenstand des Klageverfahrens gegen den Einkommensteuerbescheid 2002. Soweit das Gericht in einem Sachurteil einerseits nicht zugunsten des Klägers über dessen Klagebegehren hinausgehen (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO), andererseits den Steuerbescheid nicht zum Nachteil des Klägers ändern darf, wird über den Streitgegenstand nicht entschieden (zutreffend Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 FGO Rz 10 f.). Damit verletzt der streitige Änderungsbescheid insbesondere nicht die Entscheidungskompetenz des FG im Vorprozess.