BFH VI. Senat
EStG § 33 Abs 1, FGO § 96 Abs 1, FGO § 76, EStG § 33 Abs 2
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 16. June 2010, Az: 1 K 2864/09
Leitsätze
1. NV: Aufwendungen für eine Kinderkur können als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sein, wenn die Kur aufgrund der Erkrankungen des Kindes medizinisch angezeigt ist.
2. NV: An dem weitergehenden Erfordernis der bisherigen Rechtsprechung, die Aufwendungen für eine der Behandlung einer Krankheit dienenden Reise (Kur) nur dann als Krankheitskosten ansah, wenn die Reise zur Linderung der Krankheit nachweislich notwendig war und eine andere Behandlung nicht oder kaum erfolgsversprechend erschien (BFH-Urteil vom 2. April 1998 III R 67/97, BFHE 186, 79, BStBl II 1998, 613; BFH-Urteil vom 12. Juni 1991 III R 102/89, BFHE 164, 414, BStBl II 1991, 763 m.w.N.), hält der erkennende Senat nicht länger fest.
3. NV: Allerdings kommt bei einem Kuraufenthalt von Kindern üblicherweise in erster Linie eine Unterbringung in einem Kinderheim in Betracht.
4. NV: Ist die Unterbringung in einem Kinderheim zur Erreichung des Kurerfolgs medizinisch nicht geboten, ist bei minderjährigen Kindern die Notwendigkeit einer Begleitperson aufgrund ihres Alters allerdings offenkundig. Eines weiteren (medizinischen) Nachweises bedarf es insoweit nicht.
5. NV: Allein der Umstand, dass eine Klimakur medizinisch angezeigt ist, erlaubt jedoch noch nicht den Schluss, dass es sich bei dem streitigen Aufenthalt tatsächlich um eine Heilkur gehandelt hat. Denn diese Beurteilung setzt ferner voraus, dass die Reise nach ihrem Gesamtcharakter eine Kurreise und nicht ein Erholungsaufenthalt ist, der der Gesundheit letztlich auch förderlich ist.
Tatbestand
I. Streitig ist die Anerkennung von Kosten einer Begleitperson bei einer Kinderkur als außergewöhnliche Belastung.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist alleinerziehender Vater eines an Neurodermitis und Asthma leidenden 15-jährigen Kindes (K). Im Streitjahr machte er im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung Aufwendungen im Zusammenhang mit einem Kuraufenthalt seines Kindes an der französischen Mittelmeerküste in Höhe von insgesamt 4.696 € als außergewöhnliche Belastungen geltend. Zum Nachweis der Zwangsläufigkeit der entstandenen Kosten legte der Kläger u.a. folgende Unterlagen vor:
Ein Attest des Kinderarztes vom 11. Juni 2008, in dem dieser bestätigt, dass "jährliche heilklimatische Aufenthalte am Meer (in Begleitung des Vaters) zur Besserung des Krankheitsbildes beitragen" und er daher "einen dreiwöchigen Aufenthalt an der französischen Mittelmeerküste in den diesjährigen Sommerferien" empfiehlt. Des Weiteren eine amtsärztliche Bescheinigung vom 16. Juni 2008, in der es heißt: "Amtsärztlich wird (...) die kinderärztlich empfohlene heilklimatische Kur am Mittelmeer zur Erhaltung der Gesundheit bei vorliegendem Atopiesyndrom mit chronischer Neurodermitis sowie einem Exogen-allergischen Asthma Bronchiale für notwendig erachtet. K wird sich einer dreiwöchigen Kurmaßnahme in A an der französischen Mittelmeerküste zur Erhaltung der Gesundheit vom 21. Juni - 12. Juli 2008 unterziehen."
Im Rahmen der Veranlagung kürzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Kosten der Unterbringung und den Verpflegungsmehraufwand um 50 %, insgesamt um 1.718 €. Er war der Ansicht, von den geltend gemachten Aufwendungen könnten lediglich die Kurkosten des Kindes anerkannt werden, da die Notwendigkeit einer Begleitperson aus der amtsärztlichen Bescheinigung nicht hervorgehe. Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 526 veröffentlichten Gründen ab. Im Streitfall habe der Kläger die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen für die heilklimatische Kur seines Kindes nicht hinreichend nachgewiesen. Denn aus der vorgelegten Bescheinigung des Amtsarztes vom 16. Juni 2008 ergebe sich lediglich, dass "die kinderärztlich empfohlene heilklimatische Kur am Mittelmeer für notwendig erachtet wird" und sich das Kind "einer dreiwöchigen Kurmaßnahme in A an der französischen Mittelmeerküste unterziehen wird". Dass und warum der Kurerfolg ausnahmsweise auch bei einer anderweitigen Unterbringung als in einem Kinderheim erreicht werden könne, sei dagegen nicht amtsärztlich bescheinigt worden. Auf eine solche Bescheinigung könne jedoch nicht verzichtet werden. Da ‑‑entgegen der Auffassung des FA‑‑ schon die Kosten für den Aufenthalt des Kindes nicht abzugsfähig seien, so könnten die Kosten für die Begleitung durch den Vater erst recht nicht als außergewöhnliche Belastungen anerkannt werden.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Hessischen FG vom 17. Juni 2010 1 K 2864/09 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2008 vom 31. August 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Oktober 2009 dahingehend zu ändern, dass die Kosten einer Begleitperson bei einer Kinderkur als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt werden.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Denn das FG hat den Abzug der geltend gemachten Kosten der Kinderkur sowie die Aufwendungen der Begleitperson im vorliegenden Fall zu Unrecht allein deshalb versagt, weil der Kläger die medizinische Notwendigkeit der Kurmaßnahme nicht durch ein zuvor erstelltes amtsärztliches Attest nachgewiesen hat.
a) Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (u.a. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 29. September 1989 III R 129/86, BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418).
b) In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten ‑‑ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung‑‑ dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Sie sind auch dann zwangsläufig, wenn sie der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen, unter der ein unterhaltsberechtigtes minderjähriges Kind des Steuerpflichtigen leidet (BFH-Urteil vom 15. März 2007 III R 28/06, BFH/NV 2007, 1841).
c) Für die mitunter schwierige Trennung von echten Krankheitskosten einerseits und lediglich gesundheitsfördernden Vorbeuge- oder Folgekosten andererseits forderte der BFH bislang regelmäßig die Vorlage eines zeitlich vor der Leistung von Aufwendungen erstellten amts- oder vertrauensärztlichen Gutachtens bzw. eines Attestes eines anderen öffentlich-rechtlichen Trägers, aus dem sich die Krankheit und die medizinische Indikation der den Aufwendungen zugrundeliegenden Behandlung zweifelsfrei entnehmen lässt. Auch bei Aufwendungen für Maßnahmen, die ihrer Art nach nicht eindeutig nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen können und deren medizinische Indikation deshalb schwer zu beurteilen ist, wie regelmäßig auch bei Kurmaßnahmen (BFH-Urteile vom 30. Juni 1995 III R 52/93, BFHE 178, 81, BStBl II 1995, 614, 616, und vom 8. Juli 1994 III R 48/93, BFH/NV 1995, 24, 25, m.w.N.), verlangte der BFH diesen oder einen vergleichbaren (BFH-Urteil vom 2. April 1998 III R 67/97, BFHE 186, 79, BStBl II 1998, 613) formalisierten Nachweis. An dem Erfordernis einer vorherigen amts- oder vertrauensärztlichen Begutachtung (oder einem vergleichbaren Zeugnis) zum Nachweis der medizinischen Notwendigkeit einer Maßnahme, die auch zu den nicht abziehbaren Kosten der Lebensführung (§ 12 Nr. 1 EStG) gehören könnte, hält der erkennende Senat jedoch seit dem Senatsurteil vom 11. November 2010 VI R 17/09 (BFHE 232, 40) nicht länger fest.
2. Die Vorentscheidung beruht auf einer anderen Rechtsauffassung und ist daher aufzuheben. Der Senat kann jedoch nicht durcherkennen, da die Sache nicht spruchreif ist.
a) Das FG wird im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben, ob der Kuraufenthalt der Tochter des Klägers in A an der französischen Mittelmeerküste aufgrund der Erkrankungen des Kindes medizinisch angezeigt war.
b) In einem solchen Fall können die geltend gemachten Aufwendungen für den Kuraufenthalt der Tochter des Klägers unmittelbare Krankheitskosten sein. An der bisherigen Rechtsprechung, die Aufwendungen für eine der Behandlung einer Krankheit dienenden Reise (Kur) nur dann als Krankheitskosten ansah, wenn die Reise zur Linderung der Krankheit nachweislich notwendig war und eine andere Behandlung nicht oder kaum erfolgversprechend erschien (BFH-Urteile in BFHE 186, 79, BStBl II 1998, 613; vom 12. Juni 1991 III R 102/89, BFHE 164, 414, BStBl II 1991, 763, m.w.N.), hält der erkennende Senat nicht länger fest. Denn medizinisch indiziert (angezeigt) ist jedes diagnostische oder therapeutische Verfahren, dessen Anwendung in einem Erkrankungsfall hinreichend gerechtfertigt (angezeigt) ist (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl., Indikation). Eine medizinische oder therapeutische Notwendigkeit im Sinne einer Alternativlosig- oder einer Unausweichlichkeit der gewählten Heilmaßnahme muss im Rahmen des § 33 EStG nicht nachgewiesen werden. Zwangsläufig i.S. des § 33 Abs. 1 EStG ist das medizinisch Indizierte, nicht das medizinisch zwingend Erforderliche.
c) Allerdings kommt bei einem Kuraufenthalt von Kindern üblicherweise in erster Linie ein stationärer Aufenthalt in einer Kurklinik in Betracht. Dies erscheint regelmäßig auch zur Sicherstellung des Kurerfolges angezeigt. Für Klimakuren gilt insoweit nichts Besonderes. Auch bei solchen Kuren muss gewährleistet sein, dass der Heilerfolg fachgerecht etwa durch eine kurgemäße Tages- und Freizeitgestaltung, insbesondere durch sportliche Betätigung, und eine der Kur angepasste Ernährung unterstützt und zumindest nicht durch unkontrollierte schädliche Einflüsse gefährdet wird. Es ist davon auszugehen, dass dies bei Kindern am besten durch eine Unterbringung in einer Kurklinik gewährleistet werden kann. Außerdem kann bei Kuraufenthalten von Kindern die Abgrenzung von Kur- und Urlaubsaufenthalten besonders schwierig sein, weil nicht stationär untergebrachte Kinder regelmäßig von einer erwachsenen Person begleitet werden müssen. Aus diesen Gründen werden in ständiger Rechtsprechung ‑‑an der der erkennende Senat festhält‑‑ ein Kuraufenthalt von Kindern nur dann als Heilmaßnahme und die damit zusammenhängenden Aufwendungen nur dann als Krankheitskosten nach § 33 Abs. 1 EStG anerkannt, wenn das Kind während der Kur in einer Kurklinik untergebracht worden ist oder nachgewiesen wird, dass und warum der Kurerfolg ausnahmsweise auch bei einer anderweitigen Unterbringung erreicht werden kann (vgl. BFH-Urteile in BFHE 186, 79, BStBl II 1998, 613; in BFHE 164, 414, BStBl II 1991, 763, m.w.N.).
d) Ist die Unterbringung in einer Kurklinik zur Erreichung des Kurerfolges medizinisch nicht geboten, ist bei minderjährigen Kindern die Notwendigkeit einer Begleitperson aufgrund ihres Alters allerdings offenkundig. Eines weiteren (medizinischen) Nachweises bedarf es insoweit nicht. Ein solcher ist nur erforderlich, wenn ein Erwachsener wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen nur eingeschränkt reisefähig, deshalb begleitungsbedürftig ist und die Kur ohne Begleitperson nicht hätte durchgeführt werden können (vgl. BFH-Urteil vom 17. Dezember 1997 III R 35/97, BFHE 185, 34, BStBl II 1998, 298).
3. Die erforderlichen Feststellungen der Kurmaßnahme hat das FG nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu treffen. Es hat dabei zu berücksichtigen, dass ein von einem Beteiligten vorgelegtes Sachverständigengutachten im finanzgerichtlichen Verfahren lediglich als Privatgutachten zu behandeln und damit als urkundlich belegter Parteivortrag zu würdigen ist. Ein solches Gutachten kann daher nicht als Nachweis für die Richtigkeit des klägerischen Vortrags gewertet werden (Senatsurteil in BFHE 232, 40, m.w.N.). Da weder das FA noch das FG die Sachkunde besitzen, um die medizinische Indikation der den Aufwendungen zugrundeliegenden Maßnahme zu beurteilen, ist das FG aufgrund seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) gehalten, gegebenenfalls von Amts wegen ein entsprechendes Gutachten zu erheben. Dies ist insbesondere dann erforderlich, wenn aus dem bereits vorliegenden amtsärztlichen Gutachten vom 16. Juni 2008 nicht die medizinische Notwendigkeit der streitigen Kurmaßnahme erkennbar sein sollte. Weiter hat das FG ‑‑ebenfalls nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung‑‑ den Gesamtcharakter der Kurreise zu würdigen. Denn allein der Umstand, dass eine Klimakur medizinisch angezeigt ist, erlaubt noch nicht den Schluss, dass es sich bei dem streitigen Aufenthalt tatsächlich um eine Heilkur gehandelt hat. Denn diese Beurteilung setzt ferner voraus, dass die Reise nach ihrem Gesamtcharakter eine Kurreise und nicht ein Erholungsaufenthalt ist, der der Gesundheit letztlich auch förderlich ist (BFH-Urteil in BFHE 164, 414, BStBl II 1991, 763, m.w.N.).