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Urteil vom 04. Mai 2011, I R 67/10

Anfechtung eines Betragserrechnungsbescheids i.S.d. § 100 Abs. 2 Satz 3 2. Halbs. FGO - Rechtsschutz - Änderung von Steuerbescheiden nach § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 174 Abs. 3 und 4 sowie § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO - Höhe einer Steuer als "Tatsache" - Ertragsteuerliche Behandlung von Vorsteuerbeträgen - Wirkung des § 351 Abs. 1 AO - Billigkeitserweis trotz fehlendem Bemühen um Abtrennung einer Streitsache

BFH I. Senat

FGO § 100 Abs 2 S 2, FGO § 100 Abs 2 S 3, AO § 172 Abs 1 S 1 Nr 2 Buchst a, AO § 173 Abs 1 Nr 2, AO § 174 Abs 3, AO § 174 Abs 4, AO § 175 Abs 1 S 1 Nr 2, EStG § 4 Abs 1, EStG § 5 Abs 1, KStG § 8 Abs 1, KStG § 8 Abs 1, GewStG § 7, GewStG § 7, UStG § 15 Abs 1 Nr 1, UStG § 15 Abs 1 Nr 1, BGB § 779, FGO § 73 Abs 1, AO § 118 S 1, AO § 347 Abs 1 S 1 Nr 1, FGO § 40 Abs 1, AO § 227, AO § 351 Abs 1

vorgehend FG Düsseldorf, 28. June 2010, Az: 6 K 360/08 K,G

Leitsätze

NV: Die Überprüfung eines mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Bescheids i.S.d. § 100 Abs. 2 Satz 3 2. Halbs. FGO ist angesichts der Rechtskraft des vorangegangenen Urteils grundsätzlich darauf beschränkt, ob das FA die in jenem Urteil enthaltenen Vorgaben rechnerisch zutreffend umgesetzt hat. Sie muss sich aber auch auf die Frage erstrecken, ob seit Ergehen des Urteils Umstände eingetreten sind, die nach den insoweit einschlägigen Vorschriften eine Änderung des Verwaltungsakts gebieten .

Tatbestand

  1. I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Steuerbescheide zu Gunsten der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) geändert werden dürfen oder ob dem die Rechtskraft eines finanzgerichtlichen Urteils entgegensteht.

  2. Die Klägerin, eine GmbH, hatte in den Streitjahren (1990 bis 1994) Honorare an einen Wirtschaftsprüfer (W) gezahlt und die Zahlungen als Betriebsausgaben sowie die in den Rechnungen des W ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer abgezogen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) hatte im Anschluss an eine Außenprüfung angenommen, dass sowohl der Betriebsausgabenabzug als auch der Vorsteuerabzug zu versagen seien. Daraufhin waren Steuerbescheide ergangen, in denen das zu versteuernde Einkommen der Klägerin um die Nettobeträge erhöht und ‑‑im Umsatzsteuerbescheid‑‑ die von der Klägerin abgezogene Vorsteuer gekürzt war.

  3. Die Klägerin griff diese Steuerbescheide mit Einspruch und nachfolgender Klage an. Im Klageverfahren kam es zu einem Urteil des Finanzgerichts (FG) mit dem Tenor: "Die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuermessbeträge werden in der Weise festgesetzt, dass (unter Korrektur der Gewerbesteuerrückstellung) die Hinzurechnung außerhalb der Bilanz der gezahlten Beraterhonorare als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben rückgängig gemacht wird und die Honorare in Höhe von netto 422.013,00 DM (1990), 75.234,00 DM (1991), 679.859,00 DM (1992), 420.000 DM (1993) und 284.450,00 DM (1994) als abzugsfähige Betriebsausgaben berücksichtigt werden und die Umsatzsteuer in der Weise festgesetzt wird, dass die auf die Beratungsleistungen entfallende Umsatzsteuer in Höhe von 59.081,00 DM (1990), 10.532,00 DM (1991), 185.180,00 DM (1992), 63.000,00 DM (1993) und 42.667,00 DM (1994) als Vorsteuer abgezogen werden. Die Berechnung der Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuermeßbeträge sowie der gemäß § 47 Abs. 2 KStG festzustellenden Beträge und der geänderten Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals wird dem Beklagten übertragen." Das Urteil vom 10. Dezember 2002 (6 K 3593/99 K,G,U,F) wurde, soweit es die Ertragsteuern betrifft, nicht angefochten.

  4. Im Hinblick auf die Umsatzsteuer legte das FA gegen das Urteil Revision ein. Nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) das Urteil aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen hatte (Aktenzeichen des FG: 5 K 3726/04), kam es im zweiten Rechtsgang zu einer tatsächlichen Verständigung des Inhalts, dass 4/13 der im Streit befindlichen Vorsteuerbeträge als abziehbar berücksichtigt werden können. Auf dieser Basis wurde das Verfahren wegen Umsatzsteuer abgeschlossen.

  5. Im Anschluss an das ursprüngliche Klageverfahren (6 K 3593/99 K,G,U,F) hatte das FA im Jahr 2003 die vom FG vorgenommene Änderung der Körperschaftsteuerbescheide und Gewerbesteuermessbescheide umgesetzt. Die Klägerin hatte die entsprechenden Bescheide mit einem Einspruch angefochten. Nach Abschluss des Verfahrens wegen Umsatzsteuer beantragte sie, die Körperschaftsteuerbescheide und die Gewerbesteuermessbescheide dahin zu ändern, dass die im Verfahren 5 K 3726/04 nicht als nach § 15 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes abziehbar anerkannten Umsatzsteuern als Betriebsausgaben berücksichtigt würden. Diesen Antrag lehnte das FA ab; es ging davon aus, dass die Steuerbescheide nicht geändert werden dürften, da sie auf einem rechtskräftigen Urteil beruhten. Der deshalb erhobenen Klage hat das FG mit der Begründung stattgegeben, dass die von der Klägerin begehrte Änderung der Steuerbescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) geboten sei (FG Düsseldorf, Urteil vom 29. Juni 2010  6 K 360/08 K,G); sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 1665 abgedruckt.

  6. Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA eine Verletzung materiellen Rechts. Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  7. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage.

  2. 1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass über den von der Klägerin gestellten Antrag im Rahmen des an die Einspruchsentscheidung anschließenden Klageverfahrens zu befinden ist. Dem steht nicht entgegen, dass die Einspruchsentscheidung sich auf Steuerfestsetzungen bezieht, die das FG in seinem Urteil 6 K 3593/99 K,G,U,F vorgenommen hat.

  3. a) Das FG hat in dem genannten Urteil die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuermessbeträge abweichend von den zuvor ergangenen Steuerbescheiden festgesetzt und gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO dem FA die Berechnung der festgesetzten Beträge übertragen. Das FA musste daraufhin, nachdem das Urteil insoweit rechtskräftig geworden war, die Steuerbescheide mit dem geänderten Inhalt neu bekannt geben (§ 100 Abs. 2 Satz 3, 2. Halbsatz FGO). So ist es im Streitfall verfahren.

  4. b) Der gemäß § 100 Abs. 2 Satz 3, 2. Halbsatz FGO bekannt gegebene Steuerbescheid ist Verwaltungsakt i.S. des § 118 Satz 1 AO. Er kann mit dem Einspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO) und ggf. mit einer nachfolgenden Klage (§ 40 Abs. 1 FGO) angefochten werden (ebenso Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 100 FGO Rz 97; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 100 FGO Rz 34; Schmidt-Troje in Beermann/ Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 100 FGO Rz 77; vgl. auch BFH-Urteil vom 18. November 2004 V R 37/03, BFHE 208, 98, 103, BStBl II 2005, 217, 219, m.w.N.). Das ist im Streitfall geschehen.

  5. c) Wird ein nach Maßgabe des § 100 Abs. 2 Satz 3, 2. Halbsatz FGO erlassener Verwaltungsakt mit einem Rechtsbehelf angefochten, so kann er im Rechtsbehelfsverfahren zwar nur insoweit überprüft werden, als die Rechtskraft des vorangegangenen Urteils einer solchen Prüfung nicht entgegensteht (Schmidt-Troje in Beermann/Gosch, a.a.O., § 100 FGO Rz 77). Das bedeutet aber nicht, dass die Prüfung sich auf die Frage beschränken muss, ob das FA die in jenem Urteil enthaltenen Vorgaben rechnerisch zutreffend umgesetzt hat. Vielmehr muss sie sich auch auf die Frage erstrecken, ob seit Ergehen des Urteils Umstände eingetreten sind, die nach den insoweit einschlägigen Vorschriften eine Änderung des Verwaltungsakts gebieten. Ist Letzteres der Fall, so ist die gebotene Änderung im Rahmen des Einspruchs- oder Klageverfahrens zu berücksichtigen, soweit dem nicht wiederum besondere Gründe entgegenstehen.

  6. Vor diesem Hintergrund darf die Klägerin im Streitfall geltend machen, dass die vom FA erlassenen Änderungsbescheide nach den einschlägigen verfahrensrechtlichen Bestimmungen zu ändern sind; sie kann nicht darauf verwiesen werden, diesen Einwand in einem weiteren Verfahren geltend zu machen und ggf. mit einer Verpflichtungsklage durchzusetzen. Zugleich folgt daraus, dass das FG das Bestehen einer Änderungsmöglichkeit zu Recht geprüft hat.

  7. 2. In der Sache kann der Beurteilung durch das FG aber nicht beigepflichtet werden. Vielmehr hat das FA zu Recht angenommen, dass die vom FG im Ausgangsverfahren geänderten Steuerbescheide nicht erneut geändert werden dürfen, soweit das seinerzeit ergangene FG-Urteil rechtskräftig geworden ist.

  8. a) Die Klägerin ermittelt ihren Gewinn nach § 4 Abs. 1 und § 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG), jeweils i.V.m. § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes sowie § 7 des Gewerbesteuergesetzes. Im Rahmen einer solchen Gewinnermittlung ist ein nicht abziehbarer Vorsteuerbetrag als den Gewinn mindernd zu erfassen, während eine abziehbare Vorsteuer im Hinblick auf den zu aktivierenden Erstattungsanspruch gegen die Finanzbehörde erfolgsneutral bleibt. Davon gehen sowohl das FG als auch die Beteiligten aus.

  9. b) Nach den Feststellungen des FG haben die Beteiligten sich im Klageverfahren wegen Umsatzsteuer (5 K 3726/04) dahin verständigt, dass die Klägerin nur 4/13 der von W in Rechnung gestellten Umsatzsteuer als Vorsteuer abziehen könne. Diese Verständigung beruht erkennbar auf einer ‑‑vom FG nicht näher festgestellten‑‑ tatsächlichen Würdigung des Verhältnisses zwischen der Klägerin und W und ist deshalb bindend. Aus ihr folgt für den Streitfall in materiell-rechtlicher Hinsicht, dass bei der Besteuerung der Klägerin für das Streitjahr 9/13 des von W in Rechnung gestellten Umsatzsteuerbetrags als gewinnmindernder Posten in Ansatz hätte gebracht werden müssen. Dagegen hat das FG in seinem insoweit rechtskräftig gewordenen Urteil 6 K 3593/99 K,G,U,F die von W berechneten Beträge nur "netto" berücksichtigt; die von W ausgewiesene Umsatzsteuer ist damit insgesamt unberücksichtigt geblieben. Die nunmehr bestehenden Ertragsteuerbescheide beruhen folglich auf dem Ansatz eines Gewinns, der zu Ungunsten der Klägerin um 9/13 des Umsatzsteuerbetrags von dem zutreffenden Gewinnbetrag abweicht.

  10. c) Das FG hat angenommen, dass die genannten Bescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geändert werden dürfen und auf diese Weise der ihnen anhaftende Fehler beseitigt werden kann. Dem ist nicht zu folgen.

  11. aa) Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Rückwirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ob ein Ereignis in diesem Sinne Rückwirkung entfaltet, ist nach Maßgabe des jeweils einschlägigen materiellen Rechts zu beurteilen (BFH-Urteile vom 21. Dezember 1993 VIII R 69/88, BFHE 174, 324, BStBl II 1994, 648; vom 12. Januar 1994 II R 72/91, BFHE 173, 226, BStBl II 1994, 302). § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO verlangt jedoch allgemein, dass ein bestimmtes nach dem Erlass eines Bescheids eingetretenes tatsächliches Ereignis den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt verändert (BFH-Beschluss vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897). Die Vorschrift greift deshalb nicht ein, wenn ein schon vor Erlass des Bescheids eingetretenes Ereignis im weiteren Verlauf rechtlich anders als beim Erlass des Bescheids beurteilt wird (BFH-Urteile vom 26. Oktober 1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75; vom 23. November 2006 V R 28/05, BFH/NV 2007, 872; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 175 AO Rz 48.2, m.w.N.). Deshalb wird z.B. ein Vergleich i.S. des § 779 des Bürgerlichen Gesetzbuchs von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht erfasst (BFH-Urteil vom 26. Februar 2008 II R 82/05, BFHE 220, 526, BStBl II 2008, 629, m.w.N.).

  12. bb) Im Streitfall liegt hiernach kein rückwirkendes Ereignis vor. Denn die Leistungsbeziehung zwischen der Klägerin und W war, soweit es um die für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Punkte geht, schon vor dem Erlass der hier in Rede stehenden Bescheide abgewickelt. Insbesondere hatte W seine Leistungen erbracht und der Klägerin in Rechnung gestellt und dabei die Umsatzsteuer gesondert ausgewiesen. Darauf beruhte die im Verfahren 6 K 3593/99 K,G,U,F getroffene Entscheidung des FG, die zuvor ergangenen Steuerbescheide nach Maßgabe des Antrags der Klägerin zu ändern. Dass sich die seinerzeit vorliegende Einschätzung im weiteren Verlauf geändert hat, berührt nur die rechtliche Beurteilung jener Beziehung und kann daher eine erneute Änderung der Bescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht rechtfertigen.

  13. cc) Die genannte Vorschrift kann auch nicht, wie die Klägerin meint, zwecks Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt entsprechend angewendet werden. Zwar hat der IV. Senat des BFH eine analoge Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO in einem Fall befürwortet, in dem in der Zeit zwischen dem Erlass und dem Eintritt der Unanfechtbarkeit eines Steuerbescheids ein Wahlrecht anders als zuvor ausgeübt worden war (BFH-Urteil vom 30. August 2001 IV R 30/99, BFHE 196, 507, BStBl II 2002, 49), und dazu auf den Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung verwiesen. Dieser Grundsatz ist aber im Streitfall nicht berührt. Während es nämlich in der Entscheidung des IV. Senats darum ging, dass dem Gewinn aus der Veräußerung von Grundstücken die Bildung einer Rücklage nach § 6c EStG entgegengerechnet werden sollte, geht es im Streitfall um die bloße zeitliche Verlagerung des Betriebsausgabenabzugs. Im Fall des IV. Senats stand die endgültige und später nicht mehr rückgängig zu machende Besteuerung der Veräußerungsgewinne in Rede, während die bei der Klägerin eingetretene Gewinnminderung nach dem Grundsatz des "formellen Bilanzenzusammenhangs" (dazu Senatsbeschluss vom 13. Juni 2006 I R 58/05, BFHE 213, 559, BStBl II 2006, 928) im nächsten nachfolgenden Veranlagungszeitraum zu berücksichtigen ist, für den die Steuerfestsetzungen nach den allgemeinen Regeln vorzunehmen sind oder geändert werden können. Angesichts dessen muss der Frage, ob der Entscheidung des IV. Senats zuzustimmen ist (kritisch dazu z.B. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., Vor §§ 172-177 AO Rz 40.1 f.) oder ob richtigerweise dort § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sogar unmittelbar anwendbar war (vgl. dazu von Wedelstädt, a.a.O., § 175 AO Rz 47), im Streitfall nicht nachgegangen werden. Die vom FG zitierte Entscheidung des IX. Senats des BFH (BFH-Beschluss vom 30. August 1995 IX B 74/95, BFH/NV 1996, 41) betrifft nicht die Änderung von Steuerbescheiden und ist daher im Streitfall nicht einschlägig.

  14. 3. Eine Änderung der gegenwärtig bestehenden Bescheide kann entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht auf andere Vorschriften gestützt werden.

  15. a) Das gilt zunächst im Hinblick auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Danach sind ‑‑vorbehaltlich einer Einschränkung bei grobem Verschulden des Steuerpflichtigen‑‑ Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen. Dabei ist "Tatsache" jeder Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuerbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses Tatbestands erfüllt; "nachträglich" wird eine Tatsache bekannt, wenn sie der Finanzbehörde nach dem Erlass des ggf. zu ändernden Steuerbescheides bekannt wird (BFH-Urteil vom 26. Februar 2009 II R 4/08, BFH/NV 2009, 1599). Im Streitfall scheidet eine Änderung nach diesen Maßgaben aus.

  16. Zwar ist nach der Rechtsprechung des II. Senats des BFH aus vermögensteuerrechtlicher Sicht die Höhe der Einkommensteuer eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO. Deshalb kann, wenn im Anschluss an den Erlass eines Vermögensteuerbescheids eine Einkommensteuer festgesetzt wird und der festgesetzte Betrag von dem im Vermögensteuerbescheid berücksichtigten abweicht, der Vermögensteuerbescheid nach § 173 Abs. 1 AO geändert werden, und zwar unabhängig davon, ob innerhalb der Finanzbehörde für die Festsetzung der Einkommensteuer und der Vermögensteuer unterschiedliche Stellen zuständig sind oder nicht (BFH-Urteil vom 13. Januar 2005 II R 48/02, BFHE 208, 392, BStBl II 2005, 451). Ob dieser Rechtsprechung uneingeschränkt (und auch für das Verhältnis von Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheid) beizupflichten ist, kann für den Streitfall indessen dahinstehen. Der dort entwickelte Grundsatz bleibt hier bereits deswegen unanwendbar, weil einer Änderung der Steuerbescheide die sog. Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO entgegensteht. Denn die in Rede stehenden Bescheide sind aufgrund einer Außenprüfung ergangen und deswegen der in § 173 Abs. 1 AO angeordneten Änderungspflicht grundsätzlich und auch im Streitfall entzogen.

  17. b) Ebenso kann die von der Klägerin begehrte Bescheidänderung nicht auf § 174 Abs. 3 AO gestützt werden. Denn diese Norm greift nur dann ein, wenn ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, dass der Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid berücksichtigt werden muss. Um eine solche Situation geht es im Streitfall nicht. § 174 Abs. 3 AO erfasst ausschließlich Fälle, in denen ein Sachverhalt alternativ entweder in dem einen oder in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen ist; er betrifft Situationen, in denen die Berücksichtigung eines Vorgangs in einem Steuerbescheid die Berücksichtigung desselben Vorgangs in einem anderen Steuerbescheid denkgesetzlich ausschließt (BFH-Urteil vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, m.w.N.). Die von W an die Klägerin erbrachten Leistungen und speziell die darauf bezogenen Fragen zum Vorsteuerabzug waren jedoch sowohl im Umsatzsteuerbescheid als auch in den Ertragsteuerbescheiden zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung hat zwar letztlich in ertragsteuerrechtlicher Hinsicht einerseits und in umsatzsteuerrechtlicher Hinsicht andererseits zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Eine solche schlicht abweichende Behandlung in mehreren Steuerbescheiden erfasst § 174 Abs. 3 AO aber nicht.

  18. Dem steht nicht entgegen, dass nach Ansicht der Finanzverwaltung § 174 Abs. 4 AO eingreifen kann, wenn ein Umsatzsteuerbescheid aufgrund eines Rechtsbehelfs zu Gunsten des Steuerpflichtigen geändert worden ist und es daraufhin um die Anpassung eines Ertragsteuerbescheids an die geänderte umsatzsteuerrechtliche Beurteilung geht (Oberfinanzdirektion Hannover, Verfügung vom 10. Dezember 2004, nicht veröffentlicht): Denn einerseits greift § 174 Abs. 4 AO im Streitfall nicht ein; die Vorschrift setzt die Änderung eines anderen Steuerbescheids zu Gunsten des Steuerpflichtigen voraus, und hier sind im Anschluss an die "tatsächliche Verständigung" die zuvor bestehenden ‑‑im Anschluss an das FG-Urteil 6 K 3593/99 K,G,U,F ergangenen‑‑ Umsatzsteuerbescheide zum Nachteil der Klägerin geändert worden. Andererseits kann der Klägerin nicht darin gefolgt werden, dass sich die genannte verwaltungsseitige Handhabung ‑‑ihre Richtigkeit unterstellt‑‑ auf die vorliegend zu beurteilende Problematik des § 174 Abs. 3 AO übertragen lasse. § 174 Abs. 4 AO ist nämlich eine gegenüber Abs. 1 bis 3 der Vorschrift eigenständige Änderungsnorm (BFH-Urteil vom 23. April 2008 II R 52/06, BFH/NV 2008, 1493; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 10. Aufl., § 174 Rz 52; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 91, m.w.N.), die im Gegensatz zu jenen nicht auf die Fälle alternativ zu berücksichtigender Sachverhalte beschränkt ist (BFH-Urteil vom 10. März 1999 XI R 28/98, BFHE 188, 409, BStBl II 1999, 475). Sein Anwendungsbereich geht mithin insoweit über den des § 174 Abs. 3 AO hinaus. Die in § 174 Abs. 4 AO getroffene Regelung, die letztlich den Grundsätzen von Treu und Glauben zur Geltung verhelfen soll (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 92), hat der Gesetzgeber erkennbar bewusst auf die Situation des erfolgreichen Vorgehens gegen einen anderen Bescheid begrenzt. Das schließt es aus, sie auf den im Streitfall vorliegenden gegenteiligen Sachverhalt zu übertragen.

  19. c) Schließlich kann die von der Klägerin begehrte Rechtsfolge auch nicht auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO gestützt werden. Nach dieser Vorschrift kann zwar ein Steuerbescheid geändert werden, soweit der Steuerpflichtige zustimmt oder seinem Antrag der Sache nach entsprochen wird. Eine solche Änderung ist aber zu Gunsten des Steuerpflichtigen nur dann zulässig, wenn entweder der Steuerpflichtige vor Ablauf der Einspruchsfrist zugestimmt hat oder einen entsprechenden Antrag gestellt hat oder die Finanzbehörde einem Einspruch oder einer Klage abhilft. Beide Varianten greifen im Streitfall nicht durch.

  20. aa) Eine Zustimmung oder ein Antrag i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO liegt nur dann vor, wenn der Steuerpflichtige eine vom Betrag her bestimmte oder zumindest in groben Umrissen konkretisierte Änderung der Steuerfestsetzung begehrt (BFH-Urteile vom 7. Juli 2004 XI R 10/03, BFHE 206, 303, BStBl II 2004, 911; vom 20. Dezember 2006 X R 30/05, BFHE 216, 31, BStBl II 2007, 503). Dementsprechend können sowohl die Zustimmung als auch der Antrag nur zu einer "punktuellen Fehlerkorrektur" führen (BFH in BFHE 206, 303, BStBl II 2004, 911); darin unterscheiden sich beide Varianten von dem ebenfalls in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO genannten Einspruch, der eine umfassende Überprüfung des Steuerbescheids zur Folge hat (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO). Antrag oder Zustimmung einerseits und Einspruch andererseits sind daher streng auseinanderzuhalten. Im Streitfall hat jedoch nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) die Klägerin die Verwaltungsakte, die das FA im Anschluss an das FG-Urteil 6 K 3593/99 K,G,U,F erlassen hat, mit einem Einspruch angegriffen. Sie hat mithin insoweit bis zum Ablauf der Einspruchsfrist keinen Änderungsantrag i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO gestellt, weshalb auf diese Variante der Regelung die nunmehr begehrte Änderung der Bescheide nicht gestützt werden kann.

  21. bb) Im Ergebnis dasselbe gilt im Hinblick auf die in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO genannte Abhilfe im Rahmen eines Einspruchsverfahrens. Denn diese Möglichkeit wird durch § 351 Abs. 1 AO begrenzt. Danach können Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, vorbehaltlich der Vorschriften über die Aufhebung oder Änderung von Verwaltungsakten nur im Umfang der Änderung angegriffen werden. Diese Einschränkung beschränkt zugleich die Möglichkeit einer Änderung von Verwaltungsakten im Rahmen eines Einspruchsverfahrens (BFH-Urteil vom 14. Mai 2003 XI R 21/02, BFHE 202, 228, BStBl II 2003, 888). Sie greift im Streitfall ein.

  22. Denn soweit das FG-Urteil 6 K 3593/99 K,G,U,F rechtskräftig geworden ist, sind zugleich die ihm zu Grunde liegenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden. Die im Anschluss an das Urteil bekannt gegebenen Verwaltungsakte konnten daher grundsätzlich nur insoweit angefochten werden, als durch sie jene Bescheide zu Lasten der Klägerin geändert worden sind. Eine solche Änderung ist jedoch nach den Feststellungen des FG nicht erfolgt; die neu bekannt gegebenen Verwaltungsakte entsprachen vielmehr den zuvor ergangenen Steuerfestsetzungen in deren vom FG angeordneter Fassung. Angesichts dessen hätte die Klägerin wegen § 351 Abs. 1 Satz 1 AO mit einem Einspruch nur dann bewirken lassen können, dass die an das Urteil anschließenden Bescheide zu ihren Gunsten geändert werden, wenn eine solche Änderung auf anderweitige Vorschriften gestützt werden könnte. Daran fehlt es, weshalb das FA die beantragte Änderung im Ergebnis zu Recht abgelehnt hat.

  23. 4. Es verbleibt deswegen dabei, dass die Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils hinsichtlich der Festsetzung der Körperschaftsteuer sowie des Gewerbesteuermessbetrags einer Berücksichtigung des Verfahrensausgangs in Sachen Umsatzsteuer entgegensteht. Um dies zu verhindern, hätte die Klägerin vor dem FG auf eine Abtrennung der Streitsache wegen Umsatzsteuer hinwirken müssen (vgl. § 73 Abs. 1 FGO). Das ist unterblieben. Dennoch erscheint die mangelnde Berücksichtigung der nunmehrigen Umsatzsteuerfestsetzung möglicherweise ‑‑und wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch seitens des Vertreters des FA konzediert‑‑ als unbillig. Der Senat hatte deshalb den Beteiligten einen Verständigungsvorschlag gemacht, den das FA abgelehnt hat. Gleichwohl könnte Anlass bestehen, nochmals die Gewährung eines Billigkeitserweises (§ 227 AO) zu bedenken.

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