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Urteil vom 09. März 2011, IX R 70/04

Inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 9.3.2011 IX R 56/05 - Auslegung des § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002

BFH IX. Senat

EStG § 2 Abs 3

vorgehend FG Münster, 10. February 2004, Az: 7 K 5227/00 E

Leitsätze

NV: Unter den Begriff der "negativen Summen" in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 fallen keine Verluste, die tatsächlich wirtschaftlich erzielt werden (sog. "echte" Verluste).

Tatbestand

  1. I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), zusammen veranlagte Eheleute, erzielten im Streitjahr 1999 positive Einkünfte aus Gewerbebetrieb, nichtselbständiger Arbeit und Kapitalvermögen; daneben erzielte der Kläger positive Einkünfte aus selbständiger Arbeit sowie u.a. gesondert festgestellte negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von ./. 1.329.332 DM als Gesellschafter einer GbR, die ein bereits im Jahr 1995 geplantes Gebäude errichtet hat, in dem u.a. ein Altenheim betrieben wurde. In den negativen Einkünften sind Schuldzinsen und (degressive) Absetzungen für Abnutzung oder Substanzverringerung (AfA) enthalten.

  2. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) ermittelte die Einkommensteuer für das Streitjahr unter Anwendung des § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002).

  3. Der Einspruch der Kläger, mit dem sie vortrugen, die Regelung verletze den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und den Vertrauensschutz für die von Ihnen bereits im Jahr 1995 getroffene Vermögensdisposition, blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2004, 996 veröffentlichten Urteil ab. Es vertrat die Auffassung, der begrenzte Verlustausgleich nach § 2 Abs. 3 EStG sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

  4. Mit ihrer Revision rügen die Kläger weiterhin die Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 3 EStG.

  5. Die Kläger beantragen,

    das angefochtene Urteil des FG aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr in Gestalt des letzten Änderungsbescheides vom 18. August 2006 mit der Maßgabe zu ändern, dass die Einkommensteuer unter voller Berücksichtigung des Verlusts aus Vermietung und Verpachtung ermittelt wird,

    hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Frage der Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 einzuholen.

  6. Das FA beantragt,

    die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es vertritt die Auffassung, § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

  7. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Beschluss vom 6. September 2006 XI R 26/04 das Verfahren ausgesetzt und eine Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8, § 10d Abs. 1 Sätze 2 bis 4, Abs. 2 Sätze 2 bis 4, Satz 5 Halbsatz 2 soweit auf Sätze 2 bis 4 verweisend, und Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 wegen Verletzung des Grundsatzes der Normenklarheit (Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) verfassungswidrig sind. Durch Beschluss vom 12. Oktober 2010  2 BvL 59/06 (BFH/NV 2010, 2387) hat das BVerfG den Vorlagebeschluss des BFH als unzulässig verworfen. Mit Beschluss vom 27. Januar 2011 IX R 70/04 hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und das Revisionsverfahren fortgesetzt.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG ist zu Unrecht zu der Auffassung gelangt, dass das FA die Summe der Einkünfte zutreffend nach der maßgeblichen gesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 ermittelt hat.

  2. 1. Die Vorentscheidung ist bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben. Sie hat über den Einkommensteuerbescheid vom 10. April 2003 entschieden. Während des Revisionsverfahrens ist am 18. August 2006 ein geänderter Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr ergangen. Damit liegt dem FG-Urteil ein nicht mehr wirksamer Bescheid zugrunde, mit der Folge, dass auch das FG-Urteil keinen Bestand haben kann. Der Senat entscheidet gleichwohl nach §§ 100, 121 FGO auf der Grundlage der bestehen bleibenden tatsächlichen Feststellungen des FG und sieht wegen Spruchreife der Sache von einer Zurückverweisung nach § 127 FGO ab.

  3. 2. Nach § 2 Abs. 1 EStG unterliegen der Einkommensteuer die Einkünfte aus den in dieser Vorschrift genannten sieben Einkunftsarten.

  4. a) Für die Besteuerung war nach § 2 Abs. 3 Satz 1 EStG in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung (a.F.) die "Summe der Einkünfte" maßgeblich, und das heißt, positive und negative Ergebnisse unterschiedlicher Einkunftsarten waren im Rahmen eines periodeninternen (horizontalen und vertikalen) Verlustausgleichs zu saldieren. Soweit die negativen Einkünfte die positiven Einkünfte im jeweiligen Veranlagungszeitraum überstiegen, wurden die übrigen Verluste nach § 10d EStG a.F. in anderen Veranlagungszeiträumen zum Abzug gebracht (periodenübergreifender Verlustausgleich).

  5. b) Um dem Rückgang von Steuereinnahmen entgegenzuwirken und steuerpolitisch nicht anerkennenswerte Verlustquellen einzuschränken, beabsichtigte der Gesetzgeber, eine "quellenbezogene Mindestbesteuerung" zu schaffen. § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 sieht in Satz 3 der Vorschrift vor, dass die Summe der positiven Einkünfte, soweit sie den Betrag von 100.000 DM übersteigt, durch "negative Summen der Einkünfte" aus anderen Einkunftsarten nur bis zur Hälfte zu mindern ist. Der Senat legt den Begriff der "negativen Summen" der Einkünfte dahin aus, dass hierunter grundsätzlich nur solche (negativen) Einkünfte fallen, die, wie der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung ausgeführt hat, nicht wirtschaftlich erzielt werden (sog. "unechte" Verluste). Demgegenüber fallen Verluste, die tatsächlich wirtschaftlich erzielt werden (sog. "echte" Verluste), im Gegensatz zu "unechten" Verlusten überhaupt nicht in den Anwendungsbereich der Regelungen in § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 (ebenso Weber-Grellet, Die Steuerberatung 2004, 31, 39); sie sind unbeschadet der Frage, aus welcher Einkunftsart sie stammen, bei der Bildung der Summe der Einkünfte nach § 2 Abs. 3 Satz 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 stets und in vollem Umfang horizontal und vertikal auszugleichen.

  6. Der Begriff der "unechten" Verluste, welche dem Grunde nach entsprechend den Regelungen in § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 nur eingeschränkt mit positiven Einkünften im Veranlagungszeitraum auszugleichen sind, ist nicht einkunftsartbezogen, sondern wirtschaftlich zu verstehen. Zu den "unechten" Verlusten zählen negative Einkünfte jedenfalls insoweit, als sie auf die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen zurückzuführen sind. Demgegenüber führt die Inanspruchnahme der in § 7 EStG gesetzlich vorgesehenen (regulären oder erhöhten) AfA nicht zu einem lediglich buchmäßigen und damit nicht wirtschaftlich erzielten "unechten" Verlust. Der Senat verweist zur weiteren Begründung auf sein Urteil vom 9.3.2011 IX R 56/05, BFHE 233, 152.

  7. 3. Die Sache ist spruchreif. Das FG ist auf der Grundlage des seinerzeitigen Meinungsstandes zur Auslegung des § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 zu einem unzutreffenden Auslegungsergebnis gelangt und hat daher den Klägern zu Unrecht den von ihnen begehrten vollständigen Ausgleich der negativen Einkünfte im Streitjahr verwehrt.

  8. Die Vorentscheidung ist aufzuheben und der Klage stattzugeben. Denn nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO für den Senat bindenden Feststellungen des FG handelt es sich bei den Verlusten des Klägers aus Vermietung und Verpachtung um tatsächlich wirtschaftlich erzielte ‑‑und damit "echte"‑‑ Verluste; die GbR hatte lediglich degressive AfA, nicht aber Sonderabschreibungen in Anspruch genommen.

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