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Urteil vom 07. April 2011, III R 72/09

Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung der Kindergeldberechtigung von nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern - Verhältnis von Kindergeld und Sozialleistungen

BFH III. Senat

AufenthG § 25 Abs 3, BErzGG § 1 Abs 6, MRK Art 8, EStG § 62 Abs 2, GG Art 3 Abs 1, GG Art 3 Abs 3 S 2, SGB 2 § 11 Abs 1 S 3, SGB 12 § 82 Abs 1 S 2, SGB 10 § 104

vorgehend FG München, 16. September 2009, Az: 5 K 2158/08

Leitsätze

NV: Die Neuregelung der Kindergeldberechtigung von nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern in § 62 Abs. 2 EStG begegnet trotz der Vorlagebeschlüsse des BSG vom 3.12.2009 B 10 EG 5/08 R, B 10 EG 6/08 R sowie B 10 EG 7/08 R, die zur wortgleichen Regelung der Berechtigung von Ausländern zur Inanspruchnahme von Kindergeld nach § 1 Abs. 6 BErzGG ergangen sind, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken .

Tatbestand

  1. I. Die aus Äthiopien stammende Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) lebt seit Juni 2003 mit ihrem Sohn in der Bundesrepublik Deutschland, seit November 2007 ist sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Sie bezog zunächst Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, ab November 2007 bis Januar 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und ab Februar 2008 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Nach einem amtsärztlichen Gutachten vom Dezember 2007 ist die Klägerin auf Dauer erwerbsunfähig; eine Nachuntersuchung wurde erst nach Ablauf von 18 Monaten empfohlen. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag der Klägerin auf Kindergeld mit Bescheid vom 7. Januar 2008 ab, da die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht erfüllt seien. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.

  2. Das Finanzgericht (FG) wies die wegen Kindergeld für Oktober 2007 bis Juni 2008 erhobene Klage mit Urteil vom 17. September 2009  5 K 2158/08 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 244) ab. Es führte aus, nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sei die Regelung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG verfassungsgemäß, auch soweit sie auf nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer zur Anwendung komme, die erwerbsunfähig seien. Ein Anspruch auf Kindergeld ergebe sich auch nicht aus Art. 28 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 304, 12) ‑‑Qualifikationsrichtlinie‑‑, da das Kindergeld keine Sozialhilfeleistung im Sinne der Qualifikationsrichtlinie sei.

  3. Mit der vom FG zugelassenen Revision macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, es sei eine verfassungskonforme Auslegung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG geboten. Unter der Fallgruppe derjenigen Menschen, die eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1, § 23a, § 24, § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG erhalten haben, gebe es eine Vielzahl solcher, bei denen der Grund für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis besondere individuelle Umstände gewesen seien, die gleichzeitig eine Erwerbstätigkeit ausschlössen wie etwa eine schwere Erkrankung oder Behinderung, hohes Alter oder Minderjährigkeit. Bei den Betroffenen sei die fehlende Erwerbstätigkeit kein Indiz für eine mangelhafte Integration. Zwar habe der Gesetzgeber durchaus zu Recht die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit als ein Indiz für einen Daueraufenthalt formuliert, dies rechtfertige jedoch nicht den Ausschluss oder die Nichtberücksichtigung anderer Indizien. Zudem dürfe die Klägerin nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe in der Sache 59140/00, Okpisz durch Urteil vom 25. Oktober 2005 (BFH/NV 2006, Beilage 3, 357) entschieden, dass die unterschiedliche Behandlung von Ausländern mit dauerhafter Aufenthaltsberechtigung und Ausländern ohne eine solche bei der Gewährung von Kindergeld gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 i.V.m. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße.

  4. Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 7. Januar 2008 und die Einspruchsentscheidung vom 19. Juni 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für den Zeitraum Oktober 2007 bis Juni 2008 zu gewähren.

  5. Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

  6. Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin für den streitigen Zeitraum kein Kindergeld beanspruchen kann.

  2. a) Ein Anspruch auf Kindergeld kann insbesondere nicht auf § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG gestützt werden. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) war die Klägerin im Streitzeitraum Oktober 2007 bereits nicht im Besitz eines der in § 62 Abs. 2 EStG angeführten Aufenthaltstitel. Seit November 2007 verfügte sie zwar über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Personen mit einem solchen Aufenthaltstitel haben aber nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten und darüber hinaus dort berechtigt erwerbstätig sind, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.

  3. b) Der Senat hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Beschränkung der Kindergeldberechtigung von Ausländern (s. Urteile vom 15. März 2007 III R 93/03, BFHE 217, 443, BStBl II 2009, 905; vom 22. November 2007 III R 54/02, BFHE 220, 45, BStBl II 2009, 913). Die vom Bundessozialgericht mit Vorlagebeschlüssen vom 3. Dezember 2009 B 10 EG 5/08 R, B 10 EG 6/08 R sowie B 10 EG 7/08 R (jeweils juris) vorgebrachten Bedenken gegen § 1 Abs. 6 des Gesetzes zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit (BErzGG) kommen im Rahmen der Gewährung des steuerrechtlichen Kindergeldes nicht zum Tragen, da das Kindergeld, anders als das Erziehungsgeld (s. § 8 Abs. 1 Satz 1 BErzGG), als Einkommen auf Sozialleistungen angerechnet wird. Die Anrechnung des Kindergeldes ist verfassungsgemäß (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. März 2010  1 BvR 3163/09, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2010, 800, zu Leistungen nach dem SGB II). Nicht in den Arbeitsmarkt integrierte Ausländer, die nach § 62 Abs. 2 EStG keinen Anspruch auf Kindergeld haben, erhalten ‑‑wie im Streitfall auch die Klägerin‑‑ typischerweise Sozialleistungen, deren Höhe sich u.a. nach der Anzahl der im gemeinsamen Haushalt lebenden Kinder richtet. Solchen Ausländern entsteht durch die Beschränkung der Kindergeldberechtigung in § 62 Abs. 2 EStG typischerweise kein finanzieller Nachteil, der zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 GG führen könnte. Ausländern, die Anspruch auf Kindergeld haben und die darüber hinaus Sozialleistungen beziehen, wird das Kindergeld entweder als Einkommen des anspruchsberechtigten Elternteils oder als Einkommen des minderjährigen Kindes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II, § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) auf die Sozialleistungen angerechnet oder auf Antrag nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch an den Sozialleistungsträger erstattet oder nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG an diesen abgezweigt. Eine Ausweitung der Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, die ihren Unterhalt mit Sozialleistungen bestreiten, brächte für diese somit in der Regel keine finanziellen Vorteile (Senatsurteil vom 28. April 2010 III R 1/08, BFHE 229, 262, BStBl II 2010, 980).

  4. c) Es ist von Verfassungs wegen nicht geboten, Ausländern, die den Lebensunterhalt ihrer Familien mit Hilfe von Sozialleistungen bestreiten, darüber hinaus Kindergeld zu gewähren. Auch aus Art. 8 EMRK ergibt sich kein derartiger Anspruch. Im Übrigen wurde bereits entschieden, dass § 62 Abs. 2 EStG nicht im Widerspruch zum Urteil des EGMR in BFH/NV 2006, Beilage 3, 357 steht (Senatsurteil in BFHE 220, 45, BStBl II 2009, 913) und das Kindergeld nicht zu den Sozialhilfeleistungen i.S. des Art. 28 der Qualifikationsrichtlinie gehört (Senatsbeschluss vom 23. Oktober 2009 III S 72/08 (PKH), BFH/NV 2010, 203).

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