BFH XI. Senat
FGO § 74, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 3 S 3, AO § 227, AEUV Art 267 Abs 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 28. June 2010, Az: 5 K 2292/06 B
Leitsätze
NV: Im Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision kommt eine Vorlage an den EuGH zur Frage der Bedeutung des Unionsrechts für die Anwendung des § 115 Abs. 2 FGO jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn diese Frage nicht entscheidungserheblich ist .
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Der Kläger ist selbständiger Krankenpfleger. Er betrieb im Streitjahr 1989 eine Pflegestation für Hauskrankenpflege. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) setzte im Umsatzsteuerbescheid für 1989 gegen den Kläger Umsatzsteuer nebst Zinsen fest. Einspruch, Klage und Nichtzulassungsbeschwerde blieben erfolglos (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 10. Juni 1997 V B 62/96, BFH/NV 1998, 224).
Das FA hat den Antrag des Klägers, die Umsatzsteuer für 1989 nebst Zinsen gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) zu erlassen, durch Bescheid vom 25. November 2004 und Einspruchsentscheidung vom 7. September 2006 abgelehnt. Das Finanzgericht (FG) hat die dagegen erhobene Klage als unbegründet abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers.
2. Die weitgehend im Stil einer Revisionsbegründung gehaltenen Ausführungen des Klägers in seiner Beschwerdeschrift richten sich im Kern gegen die materielle Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung. Damit wird jedoch keiner der in § 115 Abs. 2 FGO abschließend aufgeführten Zulassungsgründe dargetan, sondern nur, dass das FG nach Auffassung des Klägers falsch entschieden habe. Die Rüge fehlerhafter Rechtsanwendung vermag die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO grundsätzlich nicht zu begründen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 25. Oktober 2004 III B 131/03, BFH/NV 2005, 339; vom 17. Januar 2002 V B 88/01, BFH/NV 2002, 748; vom 2. November 2006 XI B 116/05, BFH/NV 2007, 424; vom 6. November 2008 XI B 172/07, BFH/NV 2009, 617).
3. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) erfordert u.a. die Formulierung einer bestimmten Rechtsfrage sowie Ausführungen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die aufgeworfene Rechtsfrage umstritten ist (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 10. Februar 2010 III B 112/09, BFH/NV 2010, 881, m.w.N.; vom 31. März 2010 IV B 131/08, BFH/NV 2010, 1487; vom 20. Oktober 2010 II B 23/10, BFH/NV 2011, 63, m.w.N.). Daran fehlt es weitgehend.
Soweit die Beschwerdeschrift diese Anforderungen erfüllt, sind die vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen bereits durch die BFH-Urteile vom 23. November 2006 V R 67/05 (BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; die Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil wurde gemäß §§ 93a, 93b des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ‑‑BVerfGG‑‑ nicht zur Entscheidung angenommen) und vom 16. September 2010 V R 57/09 (BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151), denen sich der Senat angeschlossen hat (vgl. BFH-Urteil vom 1. Dezember 2010 XI R 39/09, BFH/NV 2011, 411), sowie durch das BFH-Urteil vom 29. Mai 2008 V R 45/06 (BFH/NV 2008, 1889; die Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil wurde gemäß §§ 93a, 93b BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen) geklärt (vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 29. Oktober 2010 V B 130/09, BFH/NV 2011, 294; vom 26. November 2010 V B 59/10, BFH/NV 2011, 409; vom 3. Dezember 2010 V B 29/10, BFH/NV 2011, 563).
Zwar macht der Kläger u.a. geltend, diese Urteile bzw. die in ihnen enthaltenen Rechtsausführungen beträfen Fallkonstellationen, die von dem vorliegend gegebenen Sachverhalt abwichen; im Streitfall stellten sich Fragen, die der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und/oder der BFH noch nicht entschieden habe. Dieser Vortrag verkennt aber, dass eine Rechtsfrage bereits dann nicht klärungsbedürftig ist, wenn sie sich ‑‑wie hier‑‑ anhand der vorhandenen Rechtsprechung beantworten lässt und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung durch den BFH geboten erscheinen lassen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 21. November 2007 XI B 101/06, BFH/NV 2008, 396; vom 10. Dezember 2007 XI B 162/06, BFH/NV 2008, 384, m.w.N.).
4. Soweit der Kläger eine Zulassung der Revision zur Sicherung der Rechtseinheit (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) begehrt, hat er nicht ‑‑wie erforderlich‑‑ die behauptete Abweichung durch das Gegenüberstellen einander widersprechender abstrakter Rechtssätze aus der Entscheidung der Vorinstanz einerseits und der Divergenzentscheidung (hier Urteil des FG Hamburg vom 20. Mai 2008 4 K 28/08, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern ‑‑ZfZ‑‑, Beilage 2008 zu Nr. 7, 23) andererseits i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt (vgl. dazu z.B. BFH-Beschluss vom 5. Oktober 2010 X B 72/10, BFH/NV 2011, 273).
Des Weiteren ist für diesen Zulassungsgrund darzulegen, dass es sich im Streitfall um einen vergleichbaren Sachverhalt und um eine identische Rechtsfrage handelt (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 13. Oktober 2009 X B 55/09, BFH/NV 2010, 168, m.w.N.). Der Kläger führt aber selbst aus, dass die von ihm angeführte Entscheidung des FG Hamburg (ZfZ Beilage 2008 zu Nr. 7, 23) die Auslegung des § 48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes betrifft, während es vorliegend um einen Billigkeitserlass nach § 227 AO geht.
5. Der ferner vom Kläger geltend gemachte Verfahrenmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nicht schlüssig dargelegt (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).
Soweit der Kläger rügt, das FG habe nicht zur Kenntnis genommen, dass er bereits im Oktober 1994 einen Erlassantrag gestellt habe, führt er selbst aus, dass dieser Umstand nach der ‑‑für die Prüfung eines Verfahrensmangels maßgeblichen‑‑ Rechtsauffassung des FG nicht entscheidungserheblich war, weil es die Frage der rechtzeitigen Antragstellung ausdrücklich offengelassen hat.
Mit der weiteren Rüge, das FG habe fehlerhaft eine andere Entscheidung "umgeschrieben", macht der Kläger nicht die Verletzung rechtlichen Gehörs, sondern fehlerhafte Rechtsanwendung geltend.
6. Soweit der Kläger meint, die Revision sei zuzulassen, damit dem EuGH in dem angestrebten Revisionsverfahren bestimmte Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt werden könnten, hält der Senat die vom Kläger aufgeworfenen Fragen ‑‑soweit sie entscheidungserheblich sind‑‑ durch die bereits vorliegende Rechtsprechung des EuGH, die in den BFH-Urteilen in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, und in BFH/NV 2008, 1889 im Einzelnen wiedergegeben worden ist, für geklärt.
Unter diesen Umständen besteht für den Senat keine Vorlagepflicht (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile vom 6. Oktober 1982 Rs. C-283/81 ‑‑Cilfit‑‑, Slg. 1982, 3415, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 1983, 1257, Rz 21; vom 6. Dezember 2005 Rs. C-461/03 ‑‑Gaston Schul‑‑, Slg. 2005, I-10513, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑‑HFR‑‑ 2006, 416; vom 15. September 2005 Rs. C-495/03 ‑‑Intermodal Transports‑‑, Slg. 2005, I-8151, HFR 2005, 1236; Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. August 2010 1 BvR 1631/08, NJW 2011, 288, unter B.II.1.).
7. Die Aussetzung des Beschwerdeverfahrens gemäß § 74 FGO und die Vorlage der vom Kläger formulierten Vorlagefragen an den EuGH kommen nicht in Betracht.
a) Der Kläger hält es nach seiner ersten Vorlagefrage für unionsrechtlich zweifelhaft, ob § 115 Abs. 2 FGO nach den Vorgaben des unionsrechtlichen Äquivalenz- und Effektivitätsprinzips so auszulegen sei, dass die Zulassung stets erfolgen müsse, wenn der EuGH eine unionsrechtliche Zweifelsfrage noch nicht entschieden habe. Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte der Kläger durch den EuGH klären lassen, ob der BFH als letztinstanzliches Gericht ‑‑wenn in einem Streitfall eine unionsrechtliche Auslegungsfrage aufgeworfen wird‑‑, nur dann von der Zulassung der Revision absehen dürfe, mithin in allen anderen Fällen die Revision stets zulassen müsste, wenn die Voraussetzungen der sog. acte clair-Doktrin des EuGH (vgl. EuGH-Urteile ‑‑Cilfit u.a.‑‑ in Slg. 1982, 3415, NJW 1983, 1257, Rz 21; ‑‑Gaston Schul‑‑ in Slg. 2005, I-10513, HFR 2006, 416; ‑‑Intermodal Transports‑‑ in Slg. 2005, I-8151, HFR 2005, 1236) nicht erfüllt seien.
b) Die Aussetzung des Verfahrens und die Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens kommen im Streitfall nicht in Betracht, da die vorgenannten Auslegungsfragen nicht entscheidungserheblich sind. Eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union über eine unionsrechtliche Auslegungsfrage ist nicht einzuholen, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage nicht streiterheblich ist (vgl. die EuGH-Urteile ‑‑Cilfit‑‑ in Slg. 1982, 3415, NJW 1983, 1257, Rz 21; ‑‑Gaston Schul‑‑ in Slg. 2005, I-10513, HFR 2006, 416; ‑‑Intermodal Transports‑‑ in Slg. 2005, I-8151, HFR 2005, 1236).
So ist es im Streitfall. Wie die Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 FGO am Maßstab des Unionsrechts auszulegen sind, ist im Streitfall nicht erheblich. Selbst wenn der EuGH zu dem Ergebnis käme, dass die Voraussetzungen der Zulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 FGO im Sinne der Auffassung des Klägers zu verstehen wären, wäre die Revision nicht zuzulassen. Die vom Kläger aufgeworfenen unionsrechtlichen Zweifelsfragen sind bereits geklärt, sodass jedenfalls wegen dieser Auslegungsfragen die Revision auch nach dem Maßstab des Klägers nicht zuzulassen wäre.
8. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).