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Beschluss vom 14. April 2011, IV B 81/09

Übereinstimmende Erledigungserklärungen im Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision - Schlüssige Rüge bei Verletzung des rechtlichen Gehörs und der Sachaufklärungspflicht - Darlegung eines Verfahrensfehlers wegen Verletzung von § 96 Abs. 1 S. 1 FGO

BFH IV. Senat

FGO § 138 Abs 1, FGO § 116 Abs 3 S 3, GG Art 103 Abs 1, FGO § 76, FGO § 155, ZPO § 295, FGO § 96 Abs 1 S 1

vorgehend Hessisches Finanzgericht , 27. April 2009, Az: 13 K 1899/08

Leitsätze

NV: Beiderseitige Erklärung der Beteiligten, der Rechtsstreit sei in der Hauptsache erledigt, sind auch im Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision möglich und zulässig. Die verfahrensrechtliche Wirkung der Erledigung aufgrund übereinstimmender Erledigungserklärungen tritt jedoch nur ein, wenn die Beschwerde zulässig ist .

Gründe

  1. Die Beschwerde ist ungeachtet der Erledigungserklärungen der Beteiligten unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen. Die Erledigungserklärungen der Beteiligten sind wegen der Unzulässigkeit der Beschwerde unwirksam und haben daher nicht zur Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache geführt. Vielmehr ist über die Beschwerde zu entscheiden.

  2. 1. Die Beteiligten haben übereinstimmend die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache erklärt. Ihre Erklärungen sind ausdrücklich auf die Erledigung der Hauptsache gerichtet. Auch aus den übereinstimmenden Erläuterungen, dass das Finanzamt L dem Klagebegehren der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) durch Änderung der Einkommensteuerbescheide abgeholfen hat, folgt, dass sich die Erledigungserklärungen auf den Rechtsstreit in der Hauptsache beziehen. Wird dem mit der Klage gegen einen Feststellungsbescheid verfolgten sachlichen Begehren durch Änderung der Einkommensteuerbescheide als Folgebescheide im Ergebnis voll entsprochen, ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 18. Februar 1994 VIII B 46/92, BFH/NV 1994, 728).

  3. 2. Beiderseitige Erklärungen der Beteiligten, der Rechtsstreit sei in der Hauptsache erledigt, sind auch im Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision und im Revisionsverfahren möglich und zulässig. Die verfahrensrechtliche Wirkung der Erledigung aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen (§ 138 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) tritt jedoch nur ein, wenn die Beschwerde oder Revision statthaft und auch im Übrigen zulässig ist (BFH-Beschlüsse vom 16. März 1989 VII R 82/88, BFHE 156, 79, BStBl II 1989, 569, und vom 23. März 2009 II B 119/08, juris).

  4. 3. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist unzulässig, da die Klägerin keinen Revisionszulassungsgrund hinreichend gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt hat.

  5. a) Hinsichtlich einer Revisionszulassung wegen Divergenz gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO hat die Klägerin nicht schlüssig und substantiiert dargetan, in welcher konkreten Rechtsfrage das Finanzgericht (FG) nach ihrer Ansicht von der Rechtsprechung des BFH oder eines anderen Gerichts abgewichen ist. Sie macht lediglich geltend, dass das FG eine Wiedereinsetzung gemäß § 110 der Abgabenordnung (AO) hätte gewähren müssen, weil der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) schuldhaft die Hinweispflicht nach § 89 AO verletzt und sie, die Klägerin, rechtzeitig Einspruch eingelegt habe. Damit rügt die Klägerin die falsche Anwendung von § 110 AO auf den konkreten Streitfall und somit eine Abweichung in der Subsumtion des Einzelfalls. Dies reicht für eine schlüssige Divergenzrüge nicht aus (BFH-Beschluss vom 5. Dezember 2005 X B 17/05, BFH/NV 2006, 761).

  6. b) Auch die Voraussetzungen für eine Revisionszulassung wegen eines qualifizierten Rechtsanwendungsfehlers des FG (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) hat die Klägerin nicht hinreichend dargelegt. Dafür muss schlüssig vorgetragen werden, weshalb das Urteil willkürlich und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar erscheint und daher das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsprechung beschädigen kann (BFH-Beschlüsse vom 14. April 2003 VII B 267/02, BFHE 202, 91, und vom 13. Oktober 2003 IV B 85/02, BFHE 203, 404, BStBl II 2004, 25). Mit ihrem Vortrag, dass der Begriff des Verschuldens durch das FG fehlerhaft ausgelegt und angewendet worden sei, macht die Klägerin die fehlerhafte Umsetzung von Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Besonderheiten des Einzelfalls geltend. Dies genügt nicht für die Darlegung eines qualifizierten Rechtsanwendungsfehlers (BFH-Beschlüsse vom 29. Mai 2007 VIII B 205/06, BFH/NV 2007, 1634, und vom 25. Januar 2008 X B 90/07, BFH/NV 2008, 610).

  7. c) Auch das Vorliegen von Verfahrensfehlern (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) hat die Klägerin nicht hinreichend i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt.

  8. aa) Hinsichtlich eines Verstoßes gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und eines Verstoßes gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO) ist Rügeverzicht eingetreten. Bei diesen Verfahrensfehlern handelt es sich um solche, auf deren Geltendmachung gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) verzichtet werden kann. Die schlüssige Rüge (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) erfordert daher u.a. die Darlegung, dass der Verfahrensfehler in der Vorinstanz gerügt wurde oder weshalb eine derartige Rüge nicht möglich war (BFH-Beschlüsse vom 3. Juni 1992 II B 192/91, BFH/NV 1993, 34, und vom 7. April 2005 IX B 194/03, BFH/NV 2005, 1354). Ausweislich des Sitzungsprotokolls der mündlichen Verhandlung am 28. April 2009 (zu dessen Beweiskraft s. § 94 FGO i.V.m. § 165 ZPO) wurden die von der Klägerin vorgetragenen Gesichtspunkte mit den Beteiligten erörtert. Die fachkundig vertretene Klägerin hat einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs oder eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch das FG nicht gerügt. Sie hat auch nicht vorgetragen, warum ihr eine derartige Rüge unmöglich war.

  9. bb) Einen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat die Klägerin nicht hinreichend dargetan. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist verletzt, wenn das FG seiner Überzeugungsbildung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens, also den gesamten konkretisierten Prozessstoff, zugrunde gelegt und den Inhalt der vorgelegten Akten sowie das Vorbringen der Beteiligten nicht vollständig und einwandfrei berücksichtigt hat. Eine fehlerhafte Würdigung des Vorbringens der Beteiligten durch das FG verstößt noch nicht gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO. Daher muss zur Darlegung eines Verfahrensfehlers wegen der Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO detailliert begründet werden, dass das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen der Beteiligten widerspricht, oder dass eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist (BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2006 VIII B 108/05, BFH/NV 2007, 741). Diesen Anforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht. Die Klägerin rügt einen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO lediglich damit, dass das FG die von ihr vorgetragenen Tatsachen nicht ausreichend berücksichtigt habe.

  10. cc) Mit der Darlegung, das FG hätte wegen des offenkundig wiederholt nachlässigen, fehlerhaften Verhaltens des FA eine Wiedereinsetzung gemäß § 110 AO gewähren müssen, weil das Verschulden des FA das der Klägerin überlagert habe, rügt die Klägerin die materiell-rechtliche Unrichtigkeit der finanzgerichtlichen Entscheidung. Dies kann nicht die Zulassung der Revision rechtfertigen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 30. September 2010 IX B 66/10, BFH/NV 2010, 2296).

  11. dd) Auch mit der im Übrigen gerügten fehlerhaften Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls durch das FG hat die Klägerin einen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO nicht hinreichend dargelegt. Die Tatsachen- und Beweiswürdigung ist revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen und damit der Prüfung des BFH im Rahmen von Verfahrensrügen entzogen (vgl. BFH-Beschluss vom 26. Februar 2008 XI B 169/07, BFH/NV 2008, 830, m.w.N).

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