BFH VIII. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 1, GG Art 2 Abs 1, GG Art 20 Abs 3
vorgehend FG Münster, 20. April 2010, Az: 6 K 3657/09 AO
Leitsätze
1. NV: Die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen die Finanzverwaltung ihr Recht auf Festsetzung der Steuer bzw. Festsetzung eines (Gewerbe)Steuermessbetrags verwirkt, ist höchstrichterlich geklärt .
2. NV: Der Tatbestand der Verwirkung setzt neben dem bloßen Zeitmoment (zeitweilige Untätigkeit des FA) sowohl ein bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten voraus, demzufolge der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf vertrauen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Vertrauenstatbestand), als auch, dass der Steuerpflichtige tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich hierauf eingerichtet hat (Vertrauensfolge) .
3. NV: Ein bloßes Untätigbleiben der Finanzbehörde reicht i.d.R. nicht aus, um einen Steueranspruch als verwirkt anzusehen, denn die zeitliche Grenze für die Festsetzung eines Steueranspruchs bilden die Verjährungsvorschriften .
Gründe
Der Senat kann offenlassen, ob die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Darlegung von Zulassungsgründen i.S. von § 115 Abs. 2 i.V.m. § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entspricht, denn jedenfalls ist die Beschwerde unbegründet.
Entgegen der Auffassung des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) kann sich dieser gegenüber der Erweiterung der Prüfungsanordnung auf Gewerbesteuer für die Jahre 2002 und 2003 unter Hinweis auf die Bestandskraft der entsprechenden Einkommensteuerbescheide nicht auf Verwirkung berufen; die Problematik der Verwirkung ist mangels Klärungsbedürftigkeit auch nicht von grundsätzlicher Bedeutung.
Dass ein etwaiger Anspruch des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑) auf Festsetzung eines Gewerbesteuermessbetrages nicht verjährt ist, wird vom Kläger nicht in Abrede gestellt. Indes ist ‑‑wie vom Finanzgericht (FG) zutreffend erkannt‑‑ auch Verwirkung nicht gegeben. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist Ausfluss des Grundsatzes von Treu und Glauben und Anwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Tuns. Es greift ein, wenn ein Anspruchsberechtigter durch sein Verhalten beim Verpflichteten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, dass nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Anspruchs als illoyale Rechtsausübung empfunden werden muss (Rechtsmissbrauch). Dabei reicht ein bloßes Untätigbleiben der Finanzbehörde in der Regel nicht aus, um einen Steueranspruch als verwirkt anzusehen; denn die zeitliche Grenze für die Festsetzung eines Steueranspruchs bilden die Verjährungsvorschriften. Der Tatbestand der Verwirkung setzt neben dem bloßen Zeitmoment (zeitweilige Untätigkeit des FA) sowohl ein bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten voraus, demzufolge der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf vertrauen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Vertrauenstatbestand) als auch, dass der Steuerpflichtige tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich hierauf eingerichtet hat (Vertrauensfolge). Der Steuerpflichtige soll davor geschützt werden, erhebliche Nachteile zu erleiden, die nicht entstanden wären, wenn das Finanzamt den Steueranspruch rechtzeitig geltend gemacht hätte (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 19. Mai 1992 VIII R 37/90, BFH/NV 1993, 87, m.w.N.; Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 169).
Danach ist die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen die Finanzverwaltung ihr Recht auf Festsetzung der Steuer bzw. Festsetzung eines (Gewerbe)Steuermessbetrags verwirkt, höchstrichterlich geklärt. Die Beschwerdeschrift lässt nicht erkennen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen diese Problematik ‑‑abgesehen von den Besonderheiten des Streitfalls‑‑ weiterführende Bedeutung hat und noch umstritten ist. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass das FG eine etwaige Verwirkung ausweislich der Urteilsgründe insbesondere unter Berücksichtigung und Würdigung der vom Kläger vorgebrachten Umstände ausführlich erörtert und diese letztlich verneint hat. Wenn der Kläger sich in der Beschwerdebegründung mit der Argumentation des FG befasst und weiterhin Verwirkung geltend macht, so erhebt er im Ergebnis Einwände gegen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils. Diese können aber nur im Rahmen einer Revisionsbegründung erheblich sein. Denn das prozessuale Rechtsinstitut der Nichtzulassungsbeschwerde dient nicht dazu, allgemein die Richtigkeit finanzgerichtlicher Urteile zu gewährleisten.
Ob die Zuordnung der Einkünfte des Klägers zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb zutreffend ist (vgl. dazu BFH-Urteil vom 15. Dezember 2010 VIII R 50/09), ist im vorliegenden Verfahren, das allein die Prüfungsanordnung betrifft, nicht zu entscheiden.