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Beschluss vom 16. Februar 2011, X B 133/10

Rüge der verfahrensfehlerhaften Unterlassung einer Zeugenvernehmung bei Verzicht auf mündliche Verhandlung - Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache

BFH X. Senat

GG Art 103 Abs 1, FGO § 76, AO § 90 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 116 Abs 3 S 3

vorgehend FG München, 07. July 2010, Az: 11 K 844/07

Leitsätze

1. NV: Die Vernehmung eines Zeugen drängt sich regelmäßig nicht auf, wenn auf mündliche Verhandlung verzichtet wird und kein Antrag auf Vernehmung gestellt ist .

2. NV: Das FG muss nicht damit rechnen, dass der Beteiligte, der auf mündliche Verhandlung verzichtet hat, in einer mündlichen Verhandlung einen Auslandszeugen zu stellen beabsichtigt .

Tatbestand

  1. I. Das Finanzgericht (FG) hat durch ein mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil nach § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die gewerbesteuerliche Erfassung einer der Höhe nach bestrittenen Abfindungszahlung für rechtmäßig erachtet. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) rügt mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, die unterlassene Vernehmung eines (im Ausland ansässigen) Zeugen stelle einen Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar. Es handele sich als unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung um einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht aus § 76 FGO und um eine Überraschungsentscheidung. Zudem sei die gewerbesteuerliche Behandlung eines zur Ablösung von Folgevergütungen gezahlten Einmalbetrages an einen für einen Verein tätig gewesenen Werber von grundsätzlicher Bedeutung.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Beschwerde ist insgesamt unbegründet.

  2. 1. Die geltend gemachten Verfahrensfehler liegen nicht vor.

  3. a) Ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht nach § 76 FGO liegt nur vor, wenn das Gericht eine konkrete Möglichkeit, den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der ‑‑weiteren‑‑ Aufklärung nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen (Verstoß gegen das Untermaßverbot nach der Formel des "Sich-Aufdrängens", ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 4. August 2010 X B 198/09, BFH/NV 2010, 2102). Das war nicht der Fall. Der Senat kann daher offenlassen, ob die Beschwerdebegründung der Klägerin insoweit den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO an die Darlegung der Zulassungsgründe (vgl. Senatsbeschluss vom 22. Januar 2008 X B 185/07, BFH/NV 2008, 603) entspricht.

  4. aa) Eine unzulässige Beweisantizipation als Fall des Sachaufklärungsmangels (vgl. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Rz 91) liegt nicht vor. Das FG hat nicht eine nicht vorliegende Zeugenaussage bewertet, insbesondere nicht angenommen, der Zeuge werde im Falle einer Vernehmung in bestimmter Weise aussagen. Es hat lediglich die vorhandenen Beweismittel einschließlich der Niederschriften von Zeugenaussagen sowie der eidesstattlichen Versicherung des genannten Zeugen gewürdigt und gewichtet.

  5. bb) Im Übrigen musste sich dem FG die Vernehmung des Zeugen nicht aufdrängen. Die Klägerin hatte nicht nur auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet, während die Vernehmung nur in einer mündlichen Verhandlung möglich gewesen wäre. Sie hatte sich überdies auf die Vorlage der eidesstattlichen Erklärung als Beweismittel beschränkt und keinen weitergehenden Beweisantrag gestellt.

  6. Beide Umstände konnten aus Sicht des FG nur bedeuten, dass die Klägerin selbst sich von einer Einvernahme des Zeugen nichts versprach. Wenn aber schon die näher am Geschehen stehende Klägerin davon ausging, die vorhandenen Beweismittel schöpften die Erkenntnismöglichkeiten auch zu ihren Gunsten aus, musste sich dem FG nicht aufdrängen, dass die Vernehmung doch noch einen Erkenntnisgewinn mit sich bringen könnte.

  7. Das gilt unabhängig davon, inwieweit die Klägerin den Zeugen hätte stellen oder das FG den Zeugen von Amts wegen laden müssen. Aus § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung folgt, dass der Beteiligte einen Auslandszeugen nur dann selbst zu stellen hat, wenn es sich um einen Auslandssachverhalt handelt (vgl. Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 90 AO Rz 23; Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 29. Januar 2007 V B 160, V B 161/06, BFH/NV 2007, 759). Die streitigen Zahlungen sollen im Inland, in Thailand und der Schweiz erfolgt oder nicht erfolgt sein, so dass für die verfahrensrechtliche Frage, ob die Klägerin oder das FG für das Erscheinen des Zeugen hätte Sorge tragen müssen, hinsichtlich des jeweiligen Beweisthemas zu differenzieren wäre.

  8. Soweit der Zeuge zu den Auslandssachverhalten hätte vernommen werden können, musste das FG, nachdem die Klägerin auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte, nicht davon ausgehen, dass sie zu einer mündlichen Verhandlung den Zeugen zu stellen beabsichtigte. Hätte sie diese Absicht gehabt, wäre ihr Verzicht auf mündliche Verhandlung nicht nachvollziehbar. Soweit der Zeuge zu den Inlandssachverhalten hätte vernommen werden können, durfte das FG aus dem fehlenden Beweisantrag schließen, dass eine Vernehmung (auch) aus Sicht der Klägerin fruchtlos wäre.

  9. b) Hinsichtlich der Rüge, es liege eine Überraschungsentscheidung und damit eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes vor, ist die Beschwerde unzulässig. Eine Überraschungsentscheidung liegt nur dann vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht rechnen musste (vgl. Senatsbeschluss vom 18. August 2010 X B 178/09, BFH/NV 2010, 2010). Die Klägerin hat entgegen § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht dargelegt, warum sie nicht damit habe rechnen können, dass das FG zum einen nach beiderseitigem Verzicht auf mündliche Verhandlung ohne mündliche Verhandlung entscheidet und zum anderen die vorhandenen Beweismittel einschließlich der eidesstattlichen Erklärung anders würdigt als sie.

  10. c) Sollte die Klägerin mit ihren Ausführungen, das FG habe die eidesstattliche Erklärung nicht berücksichtigt, einen Verstoß gegen die Pflicht des Gerichts zur Überzeugungsbildung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens aus § 96 Abs. 1 FGO geltend machen wollen, so wäre auch diese Verfahrensrüge unzulässig. Das FG hat im Tatbestand die eidesstattliche Erklärung zitiert und in den Entscheidungsgründen (S. 11 des Urteils) gewürdigt.

  11. 2. Soweit die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO geltend macht, ist die Beschwerde ebenfalls unzulässig. Sie hat nicht dargelegt, inwiefern die aufgeworfene Rechtsfrage, was erforderlich wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 3. November 2010 X B 101/10, BFH/NV 2011, 285), das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Der Vortrag, der BFH habe eine Rechtsfrage noch nicht entschieden, genügt nicht (BFH-Beschluss vom 15. Februar 2008 XI B 179/07, BFH/NV 2008, 819).

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