BFH V. Senat
AO § 172, AO § 347 Abs 1 S 1, AO § 355 Abs 1 S 1
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 24. February 2010, Az: 5 K 67/09
Leitsätze
1. NV: Es ist geklärt, dass das Unionsrecht bei nachträglich erkannter fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie keine günstigere Behandlung des Steuerpflichtigen im Hinblick auf den Lauf und die Dauer der Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 AO) verlangt.
2. NV: Es ist geklärt, dass nach den Vorgaben des Unionsrechts ein bestandskräftiger Steuerbescheid bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar sein muss. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenen Ansprüche abschließend.
Tatbestand
I. Streitig ist, ob der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) eine Änderung der Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre 1997 bis 2001 beanspruchen kann.
Der Kläger betrieb in den Streitjahren mehrere Spielhallen und führte dort unter anderem Umsätze durch den Betrieb von Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit aus. In den zunächst unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre wurden diese Umsätze vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) als umsatzsteuerpflichtig behandelt.
Aufgrund einer Außenprüfung für die Streitjahre 1997 bis 1999 trafen der Kläger und das FA eine tatsächliche Verständigung über die Höhe der nicht erklärten Umsätze. Diese entfielen teilweise auf Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit.
Der Kläger beantragte während der Außenprüfung, diese Umsätze als steuerfrei zu behandeln. Dem entsprach das FA nicht. Es erließ am 17. Januar 2005 Änderungsbescheide für alle Streitjahre und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Der Kläger erhob keine Einsprüche.
Mit Urteil vom 17. Februar 2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Linneweber und Akritidis C-453/02 und C-462/02 (Slg. 2005, I-1131, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2005, 371), dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG unmittelbare Wirkung zukomme, so dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf die Steuerfreiheit dieser Umsätze berufen könne.
Am 23. März 2006 übersandte der Kläger geänderte Umsatzsteuererklärungen und beanspruchte, die Einnahmen aus Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit als steuerfrei zu behandeln und damit im Zusammenhang stehende Vorsteuerbeträge nicht abzuziehen.
Das FA behandelte dies als Anträge auf Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre, die es ablehnte.
Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) ab. Das FG ging davon aus, die Umsatzsteuerbescheide für alle Streitjahre seien bestandskräftig und für die Streitjahre 1997 bis 1999 sei bereits die Festsetzungsverjährung eingetreten. Für die Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheide sah es weder die Voraussetzungen des § 165 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) noch des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO als erfüllt an und verneinte eine Korrekturmöglichkeit auf der Grundlage des Unionsrechts.
Mit der vorliegenden Nichtzulassungsbeschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen Verfahrensfehlern.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Der behauptete Verfahrensfehler, das FG habe bei seiner Entscheidung den klaren Inhalt der Akten nicht beachtet (§ 96 FGO), wird nicht i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO schlüssig dargelegt. Ohne Erfolg rügt der Kläger, das FG habe seinen ‑‑während der Außenprüfung gestellten und in Tz. 15 und 56 des Berichts über die Außenprüfung wiedergegebenen‑‑ Antrag an das FA, die Umsätze aus Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit als steuerfrei zu behandeln, bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Denn das FG hat im Tatbestand des Urteils auf S. 2 auf diesen Antrag Bezug genommen, ihn somit in die Feststellungen des Streitfalls aufgenommen und damit auch für seine rechtliche Würdigung beachtet.
2. Soweit der Kläger darlegt, das FG hätte den in der Außenprüfung gestellten Antrag rechtlich anders würdigen müssen, rügt er keinen Verfahrensfehler, sondern im Stile einer Revisionsbegründung einen materiell-rechtlichen Fehler des FG, der im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtlich ist (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 24. April 2007 VIII B 251/05, BFH/NV 2007, 1521, m.w.N.; vgl. z.B. Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 27 und 45). Dass dem FG schwerwiegende Rechtsfehler unterlaufen sein sollen, die ausnahmsweise zur Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2, Alternative 2 FGO führen können (vgl. z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 68, mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen), lässt sich der Beschwerdebegründung nicht entnehmen.
3. Die Rügen des Klägers, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) verletzt, weil es den vom Kläger im Schriftsatz vom 22. Februar 2010 angebotenen Zeugenbeweis nicht erhoben und dem Kläger außerdem nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt habe (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO), sind unbegründet.
Der Kläger meint, die Änderungsbescheide vom 17. Januar 2005 seien unmittelbar gemäß § 165 Abs. 2 AO änderbar, weil sich der Vorläufigkeitsvermerk aus dem Zusammenhang der Änderungsbescheide mit dem Bericht über die Außenprüfung ergebe; sei dies nicht der Fall, habe er einen Anspruch auf Beifügung von Vorläufigkeitsvermerken zu den Bescheiden vom 17. Januar 2005, weil sowohl er als auch das FA beabsichtigt hätten, der möglichen Steuerfreiheit der Umsätze aufgrund des ausstehenden Linneweber-Urteils nach Abschluss des EuGH-Verfahrens noch Rechnung zu tragen.
a) Lediglich materiell-rechtliche Fehler, die als solche nicht zur Zulassung der Revision führen, macht der Kläger geltend, soweit er sich gegen die rechtliche Würdigung des FG wendet, den Änderungsbescheiden vom 17. Januar 2005 seien keine Vorläufigkeitsvermerke gemäß § 165 AO beigefügt gewesen. Gleiches gilt, soweit der Kläger sich gegen die rechtliche Würdigung des FG wendet, für die Streitjahre 1997 bis 1999 sei im Zeitpunkt seines Änderungsantrags vom 23. März 2006 schon die Festsetzungsverjährung eingetreten.
b) Für die Prüfung, ob dem FG ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ist von dessen materiell-rechtlichem Standpunkt auszugehen, unabhängig davon, ob dessen Sichtweise richtig ist (vgl. zur Maßgeblichkeit des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG bei einer Verfahrensrüge z.B. das BFH-Urteil vom 16. Juli 2002 IX R 28/98, BFHE 198, 403, BStBl II 2002, 714, unter II.1. der Gründe; Senatsbeschluss vom 6. November 2008 V B 126/07, BFH/NV 2009, 234).
Der Kläger legt in seiner Beschwerdebegründung dar, die weitere Sachverhaltsaufklärung durch das FG von Amts wegen und eine Zeugenvernehmung der an der Schlussbesprechung teilnehmenden Finanzbeamten hätten bestätigen können, dass die Beteiligten während der Außenprüfung vor Erlass der Änderungsbescheide vom 17. Januar 2005 beabsichtigt hätten, den Ausgang des EuGH-Urteils Linneweber nach Abschluss der Außenprüfung noch zu berücksichtigen. Die unterbliebenen Sachaufklärungsmaßnahmen und Beweiserhebungen waren vom rechtlichen Standpunkt des FG aus jedoch nicht erheblich, denn entscheidend war für das FG, dass den Änderungsbescheiden vom 17. Januar 2005 tatsächlich keine Vorläufigkeitsvermerke gemäß § 165 AO beigefügt waren und der Kläger diese Bescheide gleichwohl hat bestandskräftig werden lassen. Von diesem maßgeblichen rechtlichen Standpunkt aus bestand für das FG keine Notwendigkeit, der Frage nachzugehen, ob das FA und der Kläger vor Erlass der Änderungsbescheide diese Vorläufigkeitsvermerke beifügen wollten.
4. Ohne Erfolg rügt der Kläger Verfahrensfehler im Hinblick auf die vom FG abgelehnte Änderung der Umsatzsteuerbescheide vom 17. Januar 2005 gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO.
a) Das FG hat sich im Wesentlichen darauf gestützt, der Kläger habe in Gestalt der Umsatzsteuererklärungen vom 23. März 2006 zwar Änderungsanträge gestellt, die Änderung der Bescheide sei nach Ablauf der Antragsfrist in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO jedoch nicht mehr möglich gewesen; andere Änderungsvorschriften seien nicht erfüllt. Nach Verstreichen der Jahresfrist gemäß § 110 Abs. 3 AO sei auch keine Wiedereinsetzung des Klägers in die Antragsfrist des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO in Betracht gekommen.
b) Lediglich materiell-rechtliche Fehler, die nicht zur Zulassung der Revision führen, rügt der Kläger mit dem Vortrag, das FG habe nicht umfassend geprüft, ob die Änderungsbescheide vom 17. Januar 2005 auf Grundlage einer in der Außenprüfung erteilten Zusage des FA oder nach Treu und Glauben geändert werden können sowie mit dem Vorhalt, das FG habe nicht vom Eintritt der Festsetzungsverjährung für die Streitjahre 1997 bis 1999 ausgehen dürfen und mit seinen Ausführungen, das FG habe das Merkmal der "höheren Gewalt" in § 110 AO falsch ausgelegt.
5. Ohne Erfolg rügt der Kläger, das FG habe den auf § 177 Abs. 1 AO gestützten "Hilfsantrag" nicht beschieden.
Das FG stützt seine Entscheidung darauf, die Änderungsbescheide vom 17. Januar 2005 seien für alle Streitjahre bestandskräftig geworden, die Voraussetzungen der Änderungsvorschriften in den §§ 172 ff. AO seien nicht erfüllt und die Bescheide unterlägen darüber hinaus für die Streitjahre 1997 bis 1999 der Festsetzungsverjährung. Hierdurch hat es sowohl den Hauptantrag als auch den "Hilfsantrag" beschieden, da es eine Änderungsmöglichkeit für die Umsatzsteuerbescheide vom 17. Januar 2005 unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten verneint hat.
6. Der Senat weist darauf hin, dass er die maßgeblichen rechtlichen Fragen zur Durchbrechung bestandskräftiger Umsatzsteuerbescheide im Hinblick auf das EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, DStR 2005, 371 durch Urteil vom 16. September 2010 V R 57/09 (BFHE 230, 504, DStR 2010, 2400) erneut entschieden hat. Damit stimmen die tragenden Rechtssätze des angefochtenen FG-Urteils überein.
7. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.