BFH III. Senat
AO § 8, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, FGO § 116 Abs 2 S 2, FGO § 116 Abs 3 S 3, EStG § 63 Abs 1 S 3
vorgehend FG Nürnberg, 06. May 2009, Az: 3 K 1096/2008
Leitsätze
1. NV: Wird eine Abschrift des erstinstanzlichen Urteils einer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision nicht beigefügt, gehört zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des mit der Beschwerde angefochtenen Urteils auch die Angabe des Tages der Entscheidung und des zutreffenden Aktenzeichens des Gerichts, das das Urteil erlassen hat .
2. NV: Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung wegen Verfassungswidrigkeit einer Norm erfordert eine substantiierte, an den Vorgaben des Grundgesetzes sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung des BVerfG und des BFH orientierte inhaltliche Auseinandersetzung mit der rechtlichen Problematik .
3. NV: Der vom FG im Wege der Tatsachenwürdigung getroffenen Entscheidung, ob ein Kind bei einem mehrjährigen Schulbesuch im Ausland seinen Inlandswohnsitz bei den Eltern beibehält, kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu .
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ‑‑ein griechischer Staatsangehöriger‑‑ bezog für seine drei minderjährigen Kinder Kindergeld; seine Ehefrau ist türkische Staatsangehörige. Der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) wurde bekannt, dass ein Kind im August 2005 und die anderen zwei Kinder im August 2006 Deutschland verlassen hatten und sich zum Zweck des Schulbesuchs bei den Großeltern in der Türkei aufhielten. Daraufhin hob die Familienkasse mit Bescheid vom 26. Februar 2008 die Festsetzung von Kindergeld für das eine Kind ab September 2005 und für die anderen zwei Kinder ab September 2006 auf. Sie zahlte auch kein Kindergeld nach abkommensrechtlichen Vorschriften. Der Einspruch des Klägers blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom 7. Mai 2009 (zugestellt am 18. Mai 2009) ab. Es entschied, dass die während der Schulferien erfolgten Besuche der Eltern nicht für die Beibehaltung des Inlandswohnsitzes der Kinder in der elterlichen Wohnung ausreichten.
Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2009 ‑‑eingegangen am gleichen Tag‑‑ legte der Kläger beim Bundesfinanzhof (BFH) gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde ein. In diesem Schriftsatz wird das Gericht, der Name und die Anschrift des Klägers, die Beklagte sowie als Verfahrensgegenstand Kindergeld angegeben. Dagegen wird das Urteil des Gerichts ohne Datum und mit falschem Aktenzeichen benannt. Eine Abschrift der angefochtenen Entscheidung war nicht beigefügt. Das FG übersandte dem BFH ‑‑eingegangen am 26. Juni 2009‑‑ u.a. eine Abschrift der angefochtenen Entscheidung.
In der Beschwerdebegründung vom 20. Juli 2009 macht der Kläger die Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend. Die grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) ergebe sich daraus, dass das FG seiner Entscheidung die unzutreffende Vermutung zugrunde gelegt habe, dass minderjährige Kinder ausländischer Herkunft, die dauerhaft bei Verwandten im Ausland zum Zweck eines Schulbesuchs untergebracht seien, ihren inländischen Wohnsitz verlieren würden. Diese Auslegung finde im Gesetz keine Stütze und verletze den Kläger in Art. 6 Abs. 2 und Art. 3 des Grundgesetzes (GG). Zudem sei die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) erforderlich, weil nur eine neue Entscheidung des BFH dem Grundsatz der Gewaltenteilung Geltung verschaffen könne. Wolle der Gesetzgeber in den Wohnsitzbegriff ungeschriebene Tatbestandsmerkmale, wie z.B. Alter, Herkunft, Verwurzelung des Kindes, hineinlesen, müsse er dies selbst regeln. Im Übrigen existiere bisher keine einheitliche Rechtsprechung zum Wohnsitzbegriff, weil ‑‑wie den in der Beschwerdebegründung zitierten Entscheidungen entnommen werden könne‑‑ die Begleitumstände des Innehabens der Wohnung unterschiedlich beurteilt würden.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unzulässig und wird durch Beschluss verworfen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).
1. Die Beschwerdeschrift bezeichnet nicht das angefochtene Urteil, wie dies § 116 Abs. 2 Satz 2 FGO vorsieht.
a) Danach sind konkrete Angaben erforderlich, die es dem BFH ermöglichen, die angefochtene gerichtliche Entscheidung bei Ablauf der Frist für die Einlegung der Beschwerde (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO) ohne jeden Zweifel zu identifizieren. Zu fordern ist daher grundsätzlich die Angabe des FG, des Datums der Entscheidung sowie des Aktenzeichens des finanzgerichtlichen Rechtsstreits. Ausreichend ist, wenn sich diese Angaben aus einer der Beschwerdeschrift beigefügten Abschrift der angefochtenen Entscheidung entnehmen lassen. Aufgrund sonstiger erkennbarer Umstände muss deutlich werden, welches Urteil angefochten werden soll (vgl. BFH-Beschlüsse vom 19. Januar 2005 VII B 217/04, BFH/NV 2005, 1107; vom 16. November 2007 X B 167/07, BFH/NV 2008, 244).
b) Die Beschwerde ging am 18. Juni 2009 ‑‑dem letzten Tag der Einlegungsfrist (vgl. § 54 Abs. 2 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung und § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches)‑‑ ein. Sie bezeichnet nicht das Datum der Gerichtsentscheidung und benennt ein unzutreffendes Aktenzeichen; eine Vorlage der Abschrift der angefochtenen Entscheidung ist ebenfalls nicht erfolgt. Dem Senat war daher eine zweifelsfreie Identifizierung der angefochtenen Entscheidung nicht möglich. Es kann dahinstehen, ob mit der Vorlage der Abschrift des Urteils durch das FG am 26. Juni 2009 eine ausreichende Ergänzung der Beschwerde erfolgt ist; Vorgänge nach Ablauf der Einlegungsfrist können keine Berücksichtigung mehr finden (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2005, 1107; in BFH/NV 2008, 244).
2. Die Beschwerde kann aber auch deshalb keinen Erfolg haben, weil die vorgebrachten Gründe nicht die Zulassung der Revision rechtfertigen.
a) Es liegt keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
aa) Soweit der Kläger Verfassungsverstöße durch das FG rügt, ist die Beschwerde bereits unzulässig, da sie schon den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht genügt. Wird ein Verfassungsverstoß geltend gemacht, so ist zur substantiierten Darlegung eine an den Vorgaben des GG sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des BFH orientierte inhaltliche Auseinandersetzung erforderlich (vgl. Senatsbeschluss vom 31. Januar 2005 III B 59/04, BFH/NV 2005, 1081). Daran fehlt es im Streitfall. Die Beschwerdebegründung gibt schon keinen Hinweis auf bereits ergangene Rechtsprechung des BFH und des BVerfG zu den behaupteten Verstößen gegen Art. 3 GG und Art. 6 Abs. 2 GG.
bb) Im Übrigen hat der BFH bereits mehrfach die Rechtsgrundsätze dargelegt, nach denen zu entscheiden ist, ob ein Kind, das sich zum Zweck des Schulbesuchs mehrere Jahre im Ausland aufhält, seinen inländischen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑) beibehält (z.B. BFH-Urteile vom 22. April 1994 III R 22/92, BFHE 174, 523, BStBl II 1994, 887; vom 27. April 1995 III R 57/93, BFH/NV 1995, 967; vom 23. November 2000 VI R 165/99, BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279, und VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294; Senatsbeschluss vom 31. Mai 2007 III B 50/07, BFH/NV 2007, 1907). Ob im Einzelfall bei Anwendung dieser Grundsätze davon auszugehen ist, dass ein Kind seinen Wohnsitz im Inland hat, muss das FG unter Berücksichtigung der Umstände des Falles im Wege der Tatsachenwürdigung beurteilen. Der Entscheidung des FG als Tatsacheninstanz kommt insoweit keine grundsätzliche Bedeutung zu (vgl. Senatsbeschluss in BFH/NV 2007, 1907). Daneben ist die vom Kläger thematisierte Rechtsfrage, ob bei minderjährigen Kindern ausländischer Herkunft, die dauerhaft bei Verwandten im Ausland zum Zweck eines Schulbesuchs untergebracht sind, die Aufgabe des Inlandswohnsitzes vermutet wird, bereits geklärt. Nach der Rechtsprechung des BFH ist ‑‑dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. September 1996 10 RKg 29/95 (BSGE 79, 147) folgend‑‑ ein derartiger Erfahrungssatz nicht (mehr) heranzuziehen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279; in BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294). Entscheidend sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls (vgl. Senatsurteil vom 15. Juli 2010 III R 6/08, BFHE 230, 545). Hiervon ist das FG in der angegriffenen Entscheidung ausgegangen. Anzumerken bleibt, dass die Tatsachenwürdigung auch bei Kindern deutscher Abstammung, die sich für mehrere Jahre im Ausland zu Ausbildungszwecken aufhalten, zu dem Ergebnis führen kann, dass sie ihren Inlandswohnsitz verlieren (vgl. Senatsurteil vom 28. April 2010 III R 52/09, BFHE 229, 270, BStBl II 2010, 1013).
b) Ebenso kommt eine Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) nicht in Betracht. Das FG weicht in seinem Urteil nicht in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung des BFH oder des BSG ab.
Der Kläger zitiert in der Beschwerdebegründung die BFH-Urteile vom 23. November 1988 II R 139/87 (BFHE 155, 29, BStBl II 1989, 182), vom 19. März 1997 I R 69/96 (BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447), in BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279, in BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294, den BFH-Beschluss vom 12. Februar 2009 III B 100/08 (nicht amtlich veröffentlicht) und das BSG-Urteil in BSGE 79, 147. Aus dem Vorbringen des Klägers wird nicht deutlich, weshalb das FG von diesen Entscheidungen abgewichen sein soll. Den genannten Entscheidungen lässt sich nicht entnehmen, dass es für die Beibehaltung eines Inlandswohnsitzes gemäß § 8 AO in der elterlichen Wohnung ausreicht, wenn dort weiterhin ein Kinderzimmer zur Verfügung steht und regelmäßig genutzt wird. Vielmehr hat der BFH in den Urteilen in BFHE 193, 569, BStBl II 2001, 279 und in BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294 klargestellt, dass die Anwesenheit eines Kindes in der elterlichen Wohnung nicht nur Besuchscharakter haben darf. Hiervon ist das FG ausgegangen. Es hat die tatsächlichen Umstände dahingehend gewürdigt, dass die Aufenthalte der drei Kinder in der elterlichen Wohnung nur Besuchsaufenthalte waren.
Mit seinem Einwand der uneinheitlichen Beurteilung der Begleitumstände des Innehabens einer Wohnung kann der Kläger nicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz begründen. Die Beurteilung der Begleitumstände des Innehabens einer Wohnung liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet (s.o. II.2.a aa). Tatsachen- bzw. Sachverhaltswürdigungen sowie Schlussfolgerungen tatsächlicher Art sind einer Nachprüfung durch den BFH entzogen, sofern nicht Verstöße gegen die Verfahrensordnung, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze zu beanstanden sind (ständige Rechtsprechung, s. Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 30, m.w.N.). Hierbei erfolgende ‑‑im Streitfall jedoch nicht erkennbare‑‑ Verstöße des FG gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze begründen als materielle Rechtsfehler grundsätzlich keine Divergenz (BFH-Beschluss vom 21. Oktober 2009 X B 249/08, BFH/NV 2010, 444; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz 182, m.w.N. aus der Rechtsprechung).