BFH VII. Senat
FGO § 69 Abs 3 S 1, AO § 74, FGO § 69 Abs 2 S 2, FGO § 69 Abs 2 S 7
Leitsätze
1. NV: Es ist ernstlich zweifelhaft, ob sich die Haftung des Eigentümers von Gegenständen nach § 74 Abs. 1 AO auf Forderungen und Rechte erstreckt und damit auch ein Erbbaurecht erfassen kann .
2. NV: Ernstlich zweifelhaft ist auch, ob sich die Eigentümerhaftung nach § 74 AO auf Gegenstände erstreckt, die dem in Anspruch genommenen Haftungsschuldner nicht allein gehören und über die er nur gemeinsam mit weiteren Gesellschaftern verfügen kann .
3. NV: Die Veräußerung des Gegenstandes, mit dem der Eigentümer nach § 74 AO in Haftung genommen worden ist, lässt die Haftung nicht entfallen .
Tatbestand
I. Der Kläger, Revisionskläger und Antragsteller (Antragsteller) war mit einem Geschäftsanteil von 50 % als Kommanditist an der Firma X (KG) beteiligt. Geschäftsführender Komplementär war die Firma Y GmbH, die u.a. vom Antragsteller vertreten wurde. Die KG betrieb auf einem seit dem 2. Juli 2002 im Eigentum einer anderen GmbH & Co. KG stehenden Grundstück einen …handel. Dieses Grundstück ist mit einem Erbbaurecht mit Veräußerungsbeschränkung durch Zustimmung des Grundstückseigentümers zugunsten der Firma Z-GmbH belastet, die mit notarieller Vereinbarung vom 24. August 1999 durch Formwechsel in die Firma A GmbH & Co. KG (A-KG) umgewandelt wurde. Der Formwechsel wurde am … Januar 2000 in das Handelsregister eingetragen. Komplementär der A-KG ohne Kapitalanteil ist die Firma B GmbH, an der der Antragsteller und Herr C zu je 50 % beteiligt sind. Zudem sind der Antragsteller und Herr C als Kommanditisten zu je 50 % an der A-KG beteiligt. Die A-KG überließ das Grundstück mit Gebäude pachtweise der KG.
Im Oktober 2001 wurde die KG zahlungsunfähig. Mit Beschluss des Amtsgerichts vom … Januar 2002 wurde über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet. Wegen rückständiger Umsatzsteuer der KG für das Jahr 2000 und für Dezember 2001 erließ der Beklagte, Revisionsbeklagte und Antragsgegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) am 24. Mai 2004 zwei auf § 74 der Abgabenordnung (AO) gestützte Haftungsbescheide, in denen die Haftung gegenständlich auf das Erbbaurecht am Grundstück beschränkt wurde. In Bezug auf den Haftungsbescheid wegen Umsatzsteuer für das Jahr 2000 erließ das FA zugleich gemäß § 219 AO eine Zahlungsaufforderung.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass der Antragsteller zu Recht als Haftungsschuldner nach § 74 AO in Anspruch genommen worden sei. Als grundstücksgleiches Recht erfülle das Erbbaurecht, das gleich einem Grundstück (vgl. § 11 des Gesetzes über das Erbbaurecht) den Regeln der Zwangsvollstreckung unterliege, den Gegenstandsbegriff dieser Vorschrift. Auch Forderungen und Rechte könnten Gegenstände sein. Das Erbbaurecht habe der KG als Betriebsgrundstück für den …handel gedient. Zudem sei der Antragsteller ‑‑wie von § 74 Abs. 2 AO gefordert‑‑ zu mehr als einem Viertel am Grund- und Stammkapital der KG beteiligt gewesen.
Einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme des Antragstellers stehe auch der Umstand nicht entgegen, dass er nicht selbst, sondern die A-KG erbbauberechtigt und damit Eigentümer i.S. des § 74 AO gewesen sei. Denn an der A-KG seien ausschließlich der Antragsteller und der ebenfalls in Haftung genommene C beteiligt gewesen. Somit liege im Streitfall die erforderliche Interessenparallelität zwischen dem steuerschuldenden Unternehmen und dem Eigentümer des überlassenen Gegenstands vor. Im Streitfall hätten beide Haftungsschuldner in der A-KG den Willen zur Verwendung des Erbbaurechts als alleinigem Gesamthandsvermögen der A-KG bestimmen können. Die angefochtenen Verwaltungsakte erwiesen sich zudem frei von Ermessensfehlern.
Das FG hat in seiner Entscheidung die Revision zugelassen, die der Antragsteller mit Schriftsatz vom 6. Mai 2010 eingelegt hat (beim Bundesfinanzhof ‑‑BFH‑‑ geführt unter dem Az. VII R 28/10).
Mit Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 6. Dezember 2010 hat das FA den Anteil des Antragstellers als Gesellschafter an dem Gesellschaftsvermögen der A-KG unter Einschluss des Auseinandersetzungsguthabens sowie dessen Anspruch auf Auszahlung der ihm von der Gesellschaft darlehensweise oder aufgrund anderer Vereinbarung gegebenen oder belassenen Beträge gepfändet und die Einziehung verfügt.
Unter Bezugnahme auf die Revisionsbegründung hat der Antragsteller mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2010 gemäß § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Anträge gestellt, die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des FA vom 6. Dezember 2010 Az. … aufzuheben und die Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheids vom 24. Mai 2004 (Az. …) in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Oktober 2007 ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.
Zur Begründung führt er aus, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestünden, weil die Voraussetzungen des § 74 AO im Streitfall nicht erfüllt seien. Inhaber des Erbbaurechts und Eigentümer i.S. des § 74 AO sei nicht er, sondern die A-KG. Im Rahmen der Eigentümerhaftung komme es allein auf die zivilrechtliche Zuordnung des Gegenstands an. In Verkennung des Zwecks der in § 74 AO normierten Ausfallhaftung habe das FG dennoch seine Haftung angenommen. Die vom BFH in seiner Entscheidung vom 10. November 1983 V R 18/79 (BFHE 139, 242, BStBl II 1984, 127) entwickelten Grundsätze ließen sich nicht auf den Streitfall übertragen, da im Streitfall nicht alle Gesellschafter der A-KG auch an der KG beteiligt gewesen seien. Im Übrigen habe das FG den Umstand nicht gewürdigt, dass die verfahrensgegenständliche Umsatzsteuerschuld aus Dezember 2001 allein durch das wirtschaftliche Handeln des vorläufigen Insolvenzverwalters entstanden sei. Nach Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters habe er (der Antragsteller) aber keine Möglichkeit gehabt, die Nutzung des Grundstücks zu verhindern. Einen objektiven Beitrag zur Unternehmensfortführung habe er deshalb nicht leisten können, weshalb im Monat Dezember 2001 der Zurechnungszusammenhang zwischen der Überlassung des Erbbaurechts und der entstandenen Umsatzsteuer fehle.
Im Übrigen könne im Streitfall in den haftenden Gegenstand nicht vollstreckt werden, da hierzu ein Vollstreckungstitel und ein Haftungsbescheid gegen die A-KG erforderlich seien. Unter Missachtung der dinglichen Haftungsbeschränkung betreibe das FA die Vollstreckung in seine Beteiligung an der A-KG unter Einschluss des Anspruchs auf das Auseinandersetzungsguthaben (Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 6. Dezember 2010, gerichtet an die A-KG). Die damit vor dem Abschluss des Revisionsverfahrens eingeleitete Vollstreckung belege die Dringlichkeit der Angelegenheit.
Aufgrund der dinglichen Beschränkung der Haftung könne die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide nicht von der Leistung einer Sicherheit abhängig gemacht werden. Die Anforderung einer Sicherheitsleistung, die über den Wert des Haftungsgegenstands hinausgehe, finde keine Grundlage in den gesetzlichen Bestimmungen. Selbst die Übertragung des Erbbaurechts lasse die Haftung nach § 74 AO unberührt.
Entscheidungsgründe
II. Die Anträge sind begründet.
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 und 7 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen oder die Vollziehung aufheben, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Der BFH ist durch die Einlegung der Revision Gericht der Hauptsache (BFH-Beschluss vom 23. Februar 1989 V S 3/88, BFHE 155, 501, BStBl II 1989, 424).
2. Nach der im Aussetzungsverfahren gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung bestehen an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids ernstliche Zweifel, so dass dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stattzugeben ist. Wie vom Antragsteller beantragt, erstreckt sich die Aussetzung lediglich auf den angefochtenen Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Oktober 2007 und somit auf die Umsatzsteuer 2001. Die bereits getroffene Vollstreckungsmaßnahme kann deshalb keinen Bestand haben. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 6. Dezember 2010 ist daher aufzuheben.
a) Im Streitfall wird der Antragsteller nach § 74 Abs. 1 AO als Haftungsschuldner für Umsatzsteuerschulden einer KG in Anspruch genommen. Die Ausfallhaftung nach § 74 Abs. 1 AO setzt u.a. voraus, dass dem Haftungsschuldner einem Unternehmen dienende Gegenstände gehören. Als einen solchen Gegenstand hat das FG ein Erbbaurecht angesehen, das nicht dem Antragsteller, sondern einer GmbH & Co. KG zusteht, an der der Antragsteller zu 50 % beteiligt ist. Die in diesem Zusammenhang im Rahmen des beim BFH anhängigen Revisionsverfahrens zur Entscheidung anstehenden Rechtsfragen sind bisher noch nicht höchstrichterlich geklärt. Insbesondere bestehen im Schrifttum unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Frage, ob auch Rechte und Forderungen als Gegenstände i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 AO angesehen werden können. Der insoweit eindeutige Wortlaut der Vorschrift spricht eher gegen eine extensive Auslegung des Haftungstatbestands und für eine Beschränkung auf körperliche Gegenstände. Der ebenfalls in der Vorschrift verwendete Begriff des "Eigentümers" wird regelmäßig nur im Zusammenhang mit körperlichen Sachen gebraucht; hingegen ist bei Rechten die Verwendung des Begriffs "Inhaber" üblich (Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 74 AO Rz 20). Wenn der Gesetzgeber sowohl körperliche Gegenstände als auch Forderungen und Rechte zugleich erfassen will, knüpft er die beabsichtigten Rechtsfolgen regelmäßig an den Begriff des Wirtschaftsguts an (§§ 39, 55 Abs. 3, § 180 Abs. 1 Nr. 3, § 181 Abs. 2, § 271 AO). Im Schrifttum wird daher die Auffassung vertreten, dass sich die in § 74 Abs. 1 AO normierte Ausfallhaftung nicht auf Forderungen und Rechte bezieht (Mösbauer, Die Haftung des Eigentümers von Gegenständen für Steuern des Unternehmens bei tatsächlicher oder fiktiver wesentlicher Beteiligung, Deutsche Steuer-Zeitung 1996, 513; Nacke, Die Haftung im Steuerrecht, Rz 457; Jestädt, Haftung gemäß § 74 AO und Betriebsaufspaltung, Deutsches Steuerrecht 1989, 243; Boeker in HHSp, § 74 AO Rz 20; Jatzke in Beermann/Gosch, AO § 74 Rz 7). Andererseits wird im Schrifttum die Meinung vertreten, dass die in § 74 Abs. 1 AO angesprochenen Gegenstände nicht nur Sachen, sondern auch Rechte bzw. alle Wirtschaftsgüter materieller und immaterieller Art seien (ohne nähere Begründung Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 74 Rz 9; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 74 AO Rz 5; Schwarz in Schwarz, AO, § 74 Rz 4). Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt somit von der Frage ab, ob ein Erbbaurecht als Gegenstand i.S. des § 74 Abs. 1 AO angesehen werden kann. Aufgrund der unterschiedlichen Rechtsauffassungen im Schrifttum ist der Ausgang des Revisionsverfahrens ungewiss. Jedenfalls erscheint ein Obsiegen des Antragstellers nicht ausgeschlossen. Da somit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen, ist die Aussetzung der Vollziehung geboten.
b) Darüber hinaus ist im Streitfall zweifelhaft, ob sich die Eigentümerhaftung des § 74 AO auch auf Gegenstände erstreckt, die dem in Anspruch Genommenen nicht gehören und über die er nur gemeinsam mit einem weiteren Gesellschafter verfügen kann. Unter welchen Umständen ein vom FG angenommener Durchgriff auf einen Nicht-Eigentümer möglich ist, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass es von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängen dürfte, inwieweit eine Ausdehnung der Haftung über den eigentlichen Wortlaut der Vorschrift hinaus überhaupt in Betracht kommt. Soweit ersichtlich hat der BFH zu dieser Frage letztmals in seiner Entscheidung in BFHE 139, 242, BStBl II 1984, 127 Stellung genommen und den Rechtssatz aufgestellt, dass die Zugehörigkeit der einem Unternehmen dienenden Gegenstände zu einem Gesamthandsvermögen für die Haftung aus § 115 der Reichsabgabenordnung (RAO) ohne Bedeutung ist, wenn Träger dieses Gesamthandsvermögens nur die am Unternehmen wesentlich beteiligten Personen sind. In dem vom BFH entschiedenen Fall standen einer GmbH überlassene Grundstücke im Eigentum einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), wobei sämtliche GbR-Gesellschafter zugleich wesentlich an der GmbH beteiligt waren. Das Eigentum an den Grundstücken stand den Gesellschaftern der GbR als Personengruppe zu. Im Streitfall ist eine GmbH & Co. KG Inhaber des Erbbaurechts, wobei die Komplementärin an der Gesellschaft, der das Erbbaurecht zum Betrieb eines …handels gedient hat, nicht unmittelbar beteiligt ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zumindest fraglich, ob sich die vom BFH zu § 115 RAO entwickelten Grundsätze auf den Streitfall uneingeschränkt übertragen lassen.
c) Die weiteren vom Antragsteller angeführten Gründe für eine Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide können auf sich beruhen, da die vorgenannten Erwägungen die zu treffende Entscheidung bereits tragen.
Da somit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte bestehen und auch die Vollstreckung droht (§ 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO) ‑‑wie die bereits eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen belegen‑‑ ist die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids und zugleich die Aufhebung der bereits getroffenen Vollstreckungsmaßnahme, nämlich der am 6. Dezember 2010 erlassenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung (§ 69 Nr. 2 Satz 7 FGO), geboten.
d) Aufgrund der Beschränkung der Haftung auf das streitgegenständliche Erbbaurecht sieht der beschließende Senat von der Anforderung einer Sicherheitsleistung ab. Selbst eine Veräußerung des Erbbaurechts bzw. dessen Übertragung auf einen Dritten ließe die Haftung nach § 74 AO nicht entfallen (vgl. Jatzke, a.a.O., § 74 Rz 19, m.w.N.). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das Erbbaurecht der A-KG zusteht. Eine drohende Insolvenz dieser Gesellschaft ist nach Aktenlage nicht ersichtlich. Unter den besonderen Umständen des Streitfalls sind keine konkreten Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Aussetzung der Vollziehung und die Aufhebung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 6. Dezember 2010 die Realisierung des Haftungsanspruchs gefährden oder ernstlich erschweren.