BFH XI. Senat
UStG § 2 Abs 1, UStG § 15 Abs 1 Nr 1 S 1, UStG § 15a Abs 1, EWGRL 388/77 Art 20 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 20 Abs 2, UStG § 15 Abs 1 Nr 1 S 2, UStG § 16 Abs 2
vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 27. May 2008, Az: 4 K 821/06
Leitsätze
1. Der Vorsteuerabzug ist von einem Unternehmer für den Besteuerungszeitraum geltend zu machen, in dem die Berechtigung zum Vorsteuerabzug entstanden ist.
2. War der Leistungsempfänger zu dem danach maßgeblichen Zeitpunkt nicht Unternehmer, kann der Vorsteuerabzug seinem Rechtsnachfolger nicht nachträglich gemäß § 15a UStG gewährt werden.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine GmbH, die mit Vertrag vom 18. August 1997 rückwirkend auf den 1. Januar 1997 notariell gegründet wurde. Sie ist durch Ausgliederung des vom Abwasserzweckverband "G" (Abwasserzweckverband) betriebenen Abwasserentsorgungsbetriebes entstanden. Unternehmensgegenstand der Klägerin ist u.a. die Entsorgung von Abwasser sowie die Errichtung, der Erwerb, die Erweiterung und der Betrieb der diesem Zweck dienenden Anlagen.
Im Jahr 2000 reichte die Klägerin ihre Umsatzsteuererklärung für 1998 ein. Von den darin geltend gemachten Vorsteuerbeträgen bezog sich ein Teil auf Werkverträge, die der Abwasserzweckverband mit verschiedenen Bauunternehmen für die Durchführung von Baumaßnahmen an einem Klärwerk geschlossen hatte. Die Klägerin war nach der Ausgliederung in diese Verträge eingetreten. Der Abwasserzweckverband hatte im Rahmen dieser Werkverträge auf ihn als Leistungsempfänger ausgestellte Abschlagsrechnungen erhalten und diese beglichen. Die in den Rechnungsbeträgen enthaltene Umsatzsteuer hatte er mangels Unternehmereigenschaft nicht als Vorsteuer geltend gemacht. Die Abnahme der Werkleistungen fand im Jahr 1998 statt. Die Klägerin machte sowohl die in der Schlussrechnung ausgewiesene Umsatzsteuer als auch die Umsatzsteuer aus an den Abwasserzweckverband gerichteten und von ihm bezahlten Abschlagsrechnungen aus den Jahren 1995, 1996 und 1997 als Vorsteuer in der Umsatzsteuerjahreserklärung 1998 geltend.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) führte in den Jahren 2002 und 2003 bei der Klägerin eine Betriebsprüfung durch. Dabei vertrat der Prüfer die Auffassung, dass die Klägerin hinsichtlich der an den Abwasserzweckverband adressierten Abschlagsrechnungen weder als "Gesamtrechtsnachfolgerin" noch aus eigenem Recht einen Anspruch auf Vorsteuerabzug habe. Das FA folgte den Feststellungen der Betriebsprüfung und änderte mit Bescheid vom 20. April 2004 die Umsatzsteuerfestsetzung 1998 entsprechend. Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und führte im Wesentlichen aus:
Die Klägerin habe einen Anspruch auf Vorsteuerabzug aus den streitgegenständlichen Rechnungen gemäß § 15 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG). Durch die Gesamtrechtsnachfolge sei eine Änderung der für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Verhältnisse eingetreten. Dies führe zur entsprechenden Anwendung des § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG, der nach Sinn und Zweck nicht nur Änderungen der Verwendungsverhältnisse erfasse, sondern sämtliche Änderungen der Verhältnisse, die für den Vorsteuerabzug maßgebend seien (Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 17. Juni 2004 V R 31/02, BFHE 205, 549, BStBl II 2004, 858, und vom 16. Mai 2002 V R 56/00, BFHE 199, 37, BStBl II 2006, 725; BFH-Beschluss vom 12. Mai 2003 V B 211/02, BFHE 202, 88, BStBl II 2003, 784).
§ 15a Abs. 1 Satz 1 UStG sei nach Sinn und Zweck auf den vorliegenden Fall der Lieferung an eine Unternehmerin, die als Gesamtrechtsnachfolgerin aus einem Nichtunternehmer hervorgegangen sei, der bereits Zahlungen vor der Leistung erbracht habe, entsprechend anzuwenden.
Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 445 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe zu Unrecht im Streitfall die Berichtigungsvorschrift des § 15a UStG entsprechend angewendet. Jedenfalls könne der Vorsteuerabzug für den Fall der Anwendung von § 15a UStG nur "pro rata temporis" jährlich mit 1/10 geltend gemacht werden.
Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Das FG hat zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf Vorsteuerabzug aus Abschlagsrechnungen bejaht, die an den Abwasserzweckverband gerichtet waren und von ihm auch bezahlt wurden.
1. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG kann der Unternehmer die in Rechnungen i.S. des § 14 UStG gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen. Soweit der gesondert ausgewiesene Steuerbetrag auf eine Zahlung vor Ausführung dieser Umsätze entfällt, ist er nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG bereits abziehbar, wenn die Rechnung vorliegt und die Anzahlung geleistet worden ist.
Diese Vorschrift korrespondiert mit der Regelung, wonach die Steuer für vereinnahmte Anzahlungen mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums entsteht, in dem das Entgelt oder das Teilentgelt vereinnahmt worden ist (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG - vgl. BFH-Urteile vom 21. Juni 2001 V R 68/00, BFHE 195, 446, BStBl II 2002, 255, und vom 11. April 2002 V R 26/01, BFHE 198, 238, BStBl II 2004, 317). Dies entspricht auch der unionsrechtlichen Vorgabe in Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG).
a) Da im Streitfall die an den Abwasserzweckverband gerichteten Rechnungen über die Anzahlungen nach den den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) bereits in den Jahren 1995, 1996 und 1997 zugegangen sind und bezahlt wurden, wäre ein Anspruch auf Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG auch schon in diesen Besteuerungszeiträumen entstanden, wenn der Abwasserzweckverband Unternehmer i.S. des § 2 UStG gewesen wäre. Dementsprechend hätten die entsprechenden Vorsteuerbeträge nach § 16 Abs. 2 UStG auch für diese Besteuerungszeiträume geltend gemacht werden müssen. Ein Anspruch auf Vorsteuerabzug aus diesen Rechnungen erst im Streitjahr 1998 besteht nicht.
b) Dies steht im Einklang mit dem Unionsrecht und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH).
Nach Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG wird der Vorsteuerabzug vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er in einem Erklärungszeitraum schuldet, den Betrag der Steuer absetzt, für die das Abzugsrecht entstanden ist; der Vorsteuerabzug wird nach Abs. 1 während des gleichen Zeitraums ausgeübt.
Der EuGH hat mit Urteil vom 29. April 2004 in der Rechtssache C-152/02 ‑‑Terra Baubedarf‑‑ (Slg. 2004, I-5583, BFH/NV Beilage 2004, 229) entschieden, diese Bestimmung sei für den Vorsteuerabzug nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, dass das Vorsteuerabzugsrecht für den Erklärungszeitraum auszuüben ist, in dem die beiden nach dieser Bestimmung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind, also die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung bewirkt wurde und der Steuerpflichtige die Rechnung oder das Dokument besitzt, das nach den von den Mitgliedstaaten festgelegten Kriterien als Rechnung betrachtet werden kann (Rz 34 f. des Urteils, m.w.N.).
Bei sinngemäßer Übertragung dieser Grundsätze auf den Streitfall bedeutet dies, dass das Recht auf Vorsteuerabzug aus den Rechnungen über die Abschlagszahlungen in dem Besteuerungszeitraum auszuüben gewesen wäre, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug im Fall der Unternehmereigenschaft des Abwasserzweckverbandes entstanden wäre - also mit dem Zugang und der Bezahlung der Abschlagsrechnungen in den Besteuerungszeiträumen 1995, 1996 und 1997.
2. Eine Korrektur des Vorsteuerabzugs nach § 15a UStG zugunsten der Klägerin im Streitjahr 1998 kommt nicht in Betracht.
a) Nach § 15a Abs. 1 Sätze 1 und 2 UStG ist der Vorsteuerabzug zu berichtigen, wenn sich bei einem Wirtschaftsgut oder bei Grundstücken einschließlich ihrer wesentlichen Bestandteile die Verhältnisse, die im Kalenderjahr der erstmaligen Verwendung für den Vorsteuerabzug maßgebend waren, innerhalb eines bestimmten Zeitraums ‑‑fünf Jahre bei einem Wirtschaftsgut und zehn Jahre bei einem Grundstück‑‑ seit dem Beginn der Verwendung ändern. Die Bestimmung beruht auf Art. 20 der Richtlinie 77/388/EWG. Gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG wird der ursprüngliche Vorsteuerabzug nach den von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten insbesondere berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war, oder wenn sich die Faktoren, die bei der Festsetzung des Vorsteuerabzugs berücksichtigt werden, nach Abgabe der Erklärung geändert haben.
§ 15a UStG erfasst nach der Rechtsprechung des BFH unter Berücksichtigung von Art. 20 der Richtlinie 77/388/EWG nicht nur Änderungen der Verwendungsverhältnisse (vgl. BFH-Urteil vom 11. November 1993 XI R 51/90, BFHE 174, 253, BStBl II 1994, 582), sondern sämtliche Änderungen "der Verhältnisse, die ... für den Vorsteuerabzug maßgebend waren" (BFH-Urteil in BFHE 205, 549, BStBl II 2004, 858, m.w.N.). Der BFH hat daher entschieden, dass der Wechsel von der Besteuerung als Kleinunternehmer nach § 19 UStG zur Besteuerung nach den allgemeinen Vorschriften des UStG eine Änderung der Verhältnisse i.S. des § 15a UStG ist (BFH-Urteil in BFHE 205, 549, BStBl II 2004, 858).
b) Der Streitfall ist damit nicht vergleichbar. Die im Wege der Ausgliederung nach § 123 Abs. 3 i.V.m. §§ 168 ff. des Umwandlungsgesetzes gegründete Klägerin ist zwar Rechtsnachfolgerin des Abwasserzweckverbandes. Dieser war aber bei Erhalt und Begleichung der Abschlagsrechnungen kein Unternehmer.
Die Berichtigung eines unterbliebenen Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass ein Vorsteuerabzug ursprünglich möglich gewesen wäre. War der Vorsteuerabzug unabhängig von der beabsichtigten Verwendung schon deshalb nicht zulässig, weil der Leistungsempfänger erst später Unternehmer wurde, ist die Berichtigung sowohl nach der Rechtsprechung des BFH als auch des EuGH ausgeschlossen.
Nach den BFH-Urteilen vom 19. Mai 1988 V R 115/83 (BFHE 154, 173, BStBl II 1988, 916) und vom 11. April 2008 V R 10/07 (BFHE 221, 456, BStBl II 2009, 741, unter II.4.) ist die Überführung von Gegenständen des Privatvermögens oder eines anderen nichtunternehmerischen Vermögens in den unternehmerischen Bereich keine Änderung der Verhältnisse i.S. des § 15a UStG.
Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, wonach eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt i.S. von Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG und infolgedessen als Nichtsteuerpflichtiger Investitionsgüter erwirbt und diese später als Steuerpflichtiger veräußert, im Rahmen des Verkaufs kein Recht auf Berichtigung gemäß Art. 20 der Richtlinie 77/388/EWG hat, um die bei Erwerb dieser Güter entrichtete Mehrwertsteuer in Abzug zu bringen (Urteil vom 2. Juni 2005 Rs. C-378/02 ‑‑Waterschap Zeeuws Vlaanderen‑‑, Slg. 2005, I-4685, BFH/NV Beilage 2005, 323). Denn die Eigenschaft als Steuerpflichtiger muss zum für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Zeitpunkt vorgelegen haben (vgl. Rz 41 des Urteils). Der EuGH hat eingeräumt, dass die Versagung des Vorsteuerabzugs in diesem Fall bis zu einem gewissen Grad mit der Anwendung der Grundsätze der Neutralität und der Gleichbehandlung kollidieren könne; diese Auswirkung sei aber der Existenz von Ausnahmen im Mehrwertsteuersystem eigen (Rz 43 des Urteils).
Der Klägerin als der Rechtsnachfolgerin des Abwasserzweckverbandes können für die Berichtigung eines unterbliebenen Vorsteuerabzugs keine weitergehenden Rechte zustehen als ihrem Rechtsvorgänger, wenn dieser später selbst Unternehmer geworden wäre. Deshalb scheidet eine Berichtigung nach § 15a UStG aus.
c) Angesichts der zitierten Rechtsprechung des EuGH vermag der Senat auch keine Regelungslücke zu erkennen, die eine analoge Anwendung des § 15a UStG auf den im Streitfall verwirklichten Sachverhalt rechtfertigen könnte. Aus dem gleichen Grund führt auch eine unmittelbare Anwendung von Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG nicht zum Erfolg der Klage.