BFH VIII. Senat
FGO § 56 Abs 1
vorgehend FG München, 07. February 2007, Az: 11 K 3990/04
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) benannte seine Tochter mit Schreiben vom 7. Dezember 1995 als inländische Empfangsbevollmächtigte, nachdem er seinen Wohnsitz in das Ausland verlegt hatte. Im Mai 1999 flüchtete er.
Auf eine Anordnung des dinglichen Arrests durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) zeigte eine Anwaltskanzlei mit Schreiben vom 22. Juni 1999 an, der Kläger habe sie mit der Wahrnehmung seiner Interessen betraut. Zugleich legten sie eine vom Kläger unterzeichnete Vollmacht zur Vertretung in steuerlichen Angelegenheiten, insbesondere Arrestanordnungen und Pfändungsangelegenheiten, vor. Mit Schreiben vom 24. November 1999 erklärte die Tochter des Klägers gegenüber dem FA, sie widerrufe die auf sie ausgestellte Zustellvollmacht.
Auf der Grundlage der Feststellungen der Fahndungsprüfung erließ das FA einen Einkommensteueränderungsbescheid für das Streitjahr 1991 (21. Dezember 2000), der dem Kläger und seiner von ihm geschiedenen Ehefrau gesondert bekannt gegeben und von beiden angefochten wurde. Auf den Antrag der geschiedenen Ehefrau führte das FA mit unter Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheiden vom 27. März 2001 die getrennte Veranlagung durch und erhöhte dabei die Einkommensteuer des Klägers. Den Zusammenveranlagungsbescheid vom 21. Dezember 2000 hob es am 18. April 2001 auf. Mit Bescheid vom 17. Dezember 2001 hob es den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Hiergegen legten die Verfahrensbevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 2. Januar 2002 Einspruch ein und beantragten, das Verfahren ruhen zu lassen, da sie seit über zweieinhalb Jahren keinen Kontakt mehr zum Kläger gehabt hätten. Eine Überprüfung der Sach- und Rechtslage sei erst nach seiner Rückkehr bzw. nach einer Kontaktaufnahme möglich. Auf die Mitteilung des FA vom 26. Januar 2004, nicht weiter warten zu wollen, erklärten die Anwälte mit Schreiben vom 9. März 2004, ihre Bevollmächtigung sei erloschen.
Das FA wies den Einspruch des Klägers gegen den Einkommensteuerbescheid vom 17. Dezember 2001 mit Einspruchsentscheidung vom 1. April 2004 als unbegründet zurück und stellte die Entscheidung wegen der andauernden Flucht des Klägers nach § 15 Abs. 1 Buchst. b des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes in der im Jahr 1991 anzuwendenden Fassung öffentlich zu.
Nach Festnahme des Klägers in 2004 erhob dieser durch einen neu bestellten Verfahrensbevollmächtigten Klage, nachdem ihm das FA mit Schreiben vom 9. August 2004 einen Abdruck der Einspruchsentscheidung mit dem Hinweis übersandt hatte, das Rechtsbehelfsverfahren sei durch die Einspruchsentscheidung erledigt.
Zur Begründung der Klage machte der Kläger geltend, ihm sei Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist zu gewähren, weil er sie wegen der öffentlichen Zustellung ohne eigenes Verschulden nicht habe einhalten können.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2008, 999 veröffentlichten Urteil als unzulässig verworfen.
Gegen das Urteil richtet sich die Revision des Klägers.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung der Einspruchsentscheidung hätten vorgelegen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Bescheidadressaten vor einer öffentlichen Zustellung nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 13. Januar 2005 V R 44/03 (BFH/NV 2005, 998) nicht überspannt werden dürften. Im Zeitpunkt der Bekanntgabe (April 2004) sei der Kläger bereits mehrere Jahre auf der Flucht und trotz intensiver internationaler polizeilicher Fahndungsmaßnahmen nicht aufzuspüren gewesen.
Eine Bekanntgabe an die Tochter des Klägers als Zustellungsbevollmächtigte sei nicht in Betracht gekommen, weil sie ihre Vollmacht nach dem Rechtsgedanken des § 87 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) auch gegenüber dem FA habe widerrufen können. Entsprechendes gelte auch für die Erklärung der früher bevollmächtigten Anwaltskanzlei gegenüber dem FA über die Niederlegung ihres Mandats.
Da der Kläger an der Wahrung der Klagefrist durch seine freie Entscheidung zur Flucht und damit nicht unverschuldet gehindert gewesen sei, komme schließlich eine Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist nicht in Betracht.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben; die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Zu Unrecht hat das FG die Klage wegen Versäumnis der Klagefrist als unzulässig verworfen.
1. Nach § 47 Abs. 1 FGO ist eine Klage fristgerecht erhoben, wenn sie innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung eingelegt wird; wird sie erst später eingelegt, ist nach § 56 Abs. 1 FGO Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zu gewähren, wenn sie der Kläger ohne Verschulden versäumt hat und die versäumte Klage innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses eingereicht wird (§ 56 Abs. 2 Satz 1 FGO).
2. Auf der Grundlage dieser Vorschriften ist die Klage als wirksam erhoben anzusehen.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) folgt dies schon daraus, dass der Vollmachtsvertrag zwischen dem Kläger und dessen früheren Bevollmächtigten ungeachtet ihrer Mandatsniederlegung nicht wirksam gekündigt worden ist und infolgedessen die streitige Einspruchsentscheidung an die Bevollmächtigten hätte zugestellt werden müssen (BVerwG-Beschluss vom 4. Juli 1983 9 B 10275/83, Deutsches Verwaltungsblatt ‑‑DVBl‑‑ 1984, 90 ‑‑unter Bezugnahme auf BGH-Beschluss vom 24. November 1976 IV ZB 20/76, Versicherungsrecht (VersR) 1977, 334‑‑ zu einem Fall, in dem ebenso wie hier die Verbindung der Bevollmächtigten zu ihrem Mandanten abgerissen war; zustimmend zum BGH-Beschluss in VersR 1977, 334 auch BFH-Beschluss vom 4. Mai 1984 VI R 89/83, juris; FG Köln, Urteil vom 16. März 1995 13 K 1622/93, EFG 1995, 985; zu abweichenden Auffassungen im Schrifttum zur Wirksamkeit einer Mandatsniederlegung unabhängig von einer Kündigung des Vollmachtvertrages s. Rüsken in Beermann/Gosch, AO, § 80 Rz 93).
Danach war die Klagefrist im Zeitpunkt der Klageerhebung ‑‑mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung‑‑ noch nicht abgelaufen.
b) Selbst wenn man dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht folgt und ‑‑zu Ungunsten des Klägers‑‑ von einem wirksamen Widerruf der Empfangsvollmacht durch die Tochter des Klägers sowie von einer ‑‑die öffentliche Zustellung grundsätzlich rechtfertigenden‑‑ wirksamen Niederlegung des Mandats durch die früheren Bevollmächtigten des Klägers ausgeht, führt dies im Ergebnis nicht zu einer anderen Beurteilung.
Denn bei unterstellter ordnungsgemäßer Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung und infolgedessen anzunehmender Versäumnis der Klagefrist hätte der Kläger nach § 56 Abs. 1 FGO Anspruch auf die begehrte Wiedereinsetzung in die versäumte Frist.
aa) Eine Wiedereinsetzung setzt allerdings voraus, dass die Fristversäumnis ohne Verschulden des Klägers eingetreten ist.
Daran fehlt es entgegen der Auffassung des FG nicht schon deshalb, weil der Kläger durch seine eigenverantwortlich ergriffene Flucht bewusst eine Situation herbeigeführt hat, in der behördliche Verfügungen ihn persönlich nicht erreichen und durch öffentliche Zustellungen in Lauf gesetzte Fristen nicht gewahrt werden können.
Wer wie der Kläger bei einem Aufenthalt im Ausland mit dem Eingang behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen sowie mit der Notwendigkeit darauf bezogener fristgebundener Rechtsbehelfe rechnen muss, hat nach der Rechtsprechung alle Maßnahmen zu treffen, die nach vernünftigem Ermessen geeignet sind, die Versäumnis von Fristen auszuschließen (BFH-Beschlüsse vom 13. November 1989 III B 107/88, BFH/NV 1990, 649; vom 27. August 1997 XI B 118, 119, 149/96, XI S 43, 44, 50/96, BFH/NV 1998, 617; vom 30. März 2006 VII B 197/05, BFH/NV 2006, 1487). Dazu muss er insbesondere sicherstellen, dass fristauslösende Schriftstücke rechtzeitig zu seiner Kenntnis gelangen (BFH-Urteil vom 9. Dezember 1999 III R 37/97, BFHE 190, 292, BStBl II 2000, 175). Dafür genügt es, für die Zeit der Abwesenheit entweder Zustellungsvertreter zu benennen oder durch andere Hilfspersonen zu gewährleisten, dass gegen förmlich zugestellte Sendungen mit fristauslösender Wirkung fristwahrende Maßnahmen eingeleitet werden (BFH-Urteil vom 22. August 2006 I R 24/05, BFH/NV 2007, 63).
bb) Diese Voraussetzungen hat der Kläger sowohl durch die Benennung einer Zustellungsbevollmächtigten als auch durch Beauftragung einer Rechtsanwaltskanzlei erfüllt. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger mit einem Wegfall der Vertretungsfunktion der beauftragten Vertreter hätte rechnen müssen, sind nicht ersichtlich; die Länge der Ortsabwesenheit ohne Kontaktmöglichkeit der Vertreter genügt dafür nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht (vgl. BVerwG-Beschluss in DVBl 1984, 90).
Der Senat kann daher dahinstehen lassen, ob die Wirksamkeit der Empfangsvollmacht der Tochter durch die spätere Vollmacht an die Rechtsanwälte berührt wurde oder (näher liegend) mangels eines ausdrücklichen Widerrufs durch den Kläger sowie wegen ihres unterschiedlichen Umfangs (allgemeine Zustellungsvollmacht der Tochter einerseits und Vollmacht an die Anwälte für die Vertretung ‑‑nur‑‑ in steuerrechtlichen Angelegenheiten andererseits) davon unberührt blieb.
Für Letzteres spricht insbesondere die Zulässigkeit der Beauftragung mehrerer Bevollmächtigter nach § 84 Satz 1 ZPO i.V.m. § 155 FGO, die es ermöglicht, gegenüber jedem der Bevollmächtigten Zustellungen vorzunehmen (vgl. BGH-Beschluss vom 24. Oktober 1985 IX ZB 47/85, Monatsschrift für Deutsches Recht 1986, 582; BVerwG-Beschluss vom 21. Dezember 1983 1 B 152/83, Neue Juristische Wochenschrift 1984, 2115; BFH-Beschluss vom 28. Januar 2005 VIII B 117/03, BFH/NV 2005, 1110). Hinzu kommt, dass die Empfangsvollmacht an die Tochter umfassender Natur war, während die Bevollmächtigung der Anwälte nur auf die Steuerangelegenheiten des Klägers beschränkt war, so dass anders als bei der Benennung eines neuen (Empfangs-)Bevollmächtigten anstelle eines früher im selben Umfang Bevollmächtigten (vgl. dazu BFH-Urteil vom 18. Januar 2007 IV R 53/05, BFHE 216, 399, BStBl II 2007, 369) nicht prima facie ein konkludenter Widerruf der früher erteilten Empfangsvollmacht angenommen werden kann.
3. Die Sache ist nicht spruchreif.
Das FG hat aus seiner verfahrensrechtlichen Sicht zu Recht keine Prüfung der materiell-rechtlichen Einwendungen gegen die angefochtene Steuerfestsetzung vorgenommen. Diese wird es nunmehr im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.