BFH X. Senat
AO § 5, AO § 227, FGO § 76 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 3 S 3, KO § 61 Abs 1 Nr 2, GesO § 17 Abs 3 Nr 3, InsO §§ 130ff, InsO § 130, FGO § 102, FGO § 96 Abs 1 S 1, GG Art 103 Abs 1
vorgehend FG Köln, 27. May 2009, Az: 6 K 4498/05
Leitsätze
NV: Ob das FA im Rahmen einer Ermessensentscheidung einen Sachverhalt hinreichend aufgeklärt hat, ist für das FG eine materiell-rechtliche Frage und betrifft nicht dessen Sachaufklärungspflicht .
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wendet sich gegen ein Urteil, mit dem das Finanzgericht (FG) die Weigerung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑), Säumniszuschläge zu erlassen, für rechtmäßig erachtet hat.
Die zu Grunde liegenden Steuerschulden waren beglichen worden, nachdem das FA einen Insolvenzantrag gestellt hatte, nach erstmaliger Darstellung des Klägers im finanzgerichtlichen Verfahren aus Mitteln der Eltern. Eine im Verwaltungsverfahren von dem FA angeforderte Geldverkehrsrechnung hatte der Kläger nicht vorgelegt. Die von dem Kläger angebotene Vorlage seiner Buchführungsordner hatte das FA abgelehnt.
Der Kläger macht geltend, eine Entscheidung sei zur Rechtsfortbildung notwendig, es liege eine Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor und es seien dem FG schließlich Verfahrensfehler in Gestalt der Verletzung rechtlichen Gehörs, namentlich durch unterbliebene Sachaufklärung sowie Übergehen eines Beweisantrages unterlaufen.
Entscheidungsgründe
II. Der Senat kann offenlassen, inwieweit die Beschwerde in allen Punkten den formellen Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) genügt. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor, so dass die Beschwerde insgesamt unbegründet ist.
1. Es bedarf keiner Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zum Zwecke der Rechtsfortbildung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO. Da die Rechtsfortbildungsrevision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO ein Spezialfall der Grundsatzrevision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist (vgl. BFH-Beschluss vom 19. April 2007 III B 36/06, BFH/NV 2007, 1518 sowie Senatsbeschluss vom 25. Juni 2008 X B 210/05, BFH/NV 2008, 1649), setzt sie wie diese die grundsätzliche Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfrage voraus, an der es fehlt.
a) Der Kläger hat die Frage formuliert, ob Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung ausschließlich mit Hilfe einer Geldverkehrsrechnung festzustellen seien, so dass Insolvenzanträge künftig stets die vorherige Erstellung einer Geldverkehrsrechnung voraussetzten.
Eine diesen Grundsätzen widersprechende allgemeine Aussage der Art, dass eine Geldverkehrsrechnung stets Voraussetzung für die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung im Rahmen der Abgabenordnung (AO) sei, hat das FG nicht aufgestellt. Das FG hat vielmehr dargelegt, dass sich mit einer Geldverkehrsrechnung durchaus zeigen lasse, ob jemand in einem bestimmten Zeitraum zahlungsunfähig gewesen sei oder nicht. Es hat damit lediglich die generelle Geeignetheit der Geldverkehrsrechnung bejaht, nicht aber die unbedingte Notwendigkeit für den Nachweis einer Zahlungsunfähigkeit. Im konkreten Fall hat es die seitens des FA gezogenen Schlüsse für ermessensfehlerfrei erachtet.
b) Der Kläger hat weiter vorgetragen, der Fortfall des sogenannten Fiskusprivilegs (des vormaligen Vorrangs gewisser Steuerforderungen nach § 61 Abs. 1 Nr. 2 der Konkursordnung bzw. § 17 Abs. 3 Nr. 3 der Gesamtvollstreckungsordnung) mit Inkrafttreten der Insolvenzordnung (InsO) und die Anfechtungsregeln der §§ 130 ff. InsO müssten zu einer Anpassung der Erlasskriterien führen.
Welche konkrete Frage im Zusammenhang mit dem Fiskusprivileg grundsätzliche Bedeutung haben soll und vorliegend eine Entscheidung des BFH erfordert, ist nicht deutlich. Die Entscheidung des FG beruht weder ausdrücklich noch stillschweigend auf einer Bevorzugung des Steuergläubigers.
2. Der Kläger rügt Divergenzen i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zu den Urteilen des BFH vom 7. Mai 1993 III R 43/89 (BFH/NV 1994, 144) und vom 22. Mai 2001 VII R 79/00 (BFH/NV 2001, 1369). Diese liegen nicht vor.
a) Von der in beiden Urteilen enthaltenen Aussage des BFH, die Finanzbehörden müssten ihre Entscheidung anhand des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhaltes treffen, ist das FG nicht abgewichen. Es ist erkennbar von dem Standpunkt ausgegangen, dass das FA den Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt habe und die Sichtung der Buchführungsordner nicht erforderlich gewesen sei, um diesen Pflichten nachzukommen. Es hat auf dieser Grundlage die Entscheidung des FA beurteilt.
Wenn der Kläger meint, diese Beurteilung sei fehlerhaft, rügt er nicht eine Abweichung des FG von dem abstrakten Rechtssatz, der Sachverhalt sei erschöpfend zu ermitteln, sondern einen materiell-rechtlichen Fehler bei der Anwendung dieses Rechtssatzes, nämlich bei Beantwortung der Frage, mit welchen Ermittlungsmaßnahmen diesem Anspruch genügt wurde. Der Vortrag, das Urteil des FG entspreche nicht dem geltenden Recht, rechtfertigt aber grundsätzlich ‑‑mit Ausnahme außergewöhnlich schwerwiegender Fehler, die hier erkennbar nicht vorliegen‑‑ die Zulassung der Revision nicht, da die Nichtzulassungsbeschwerde nicht dazu dient, allgemein die Richtigkeit finanzgerichtlicher Urteile zu gewährleisten (Senatsbeschluss vom 21. Oktober 2009 X B 249/08, BFH/NV 2010, 444).
b) Von der in dem BFH-Urteil in BFH/NV 1994, 144 enthaltenen Aussage, das FA müsse bei seiner Ermessensentscheidung die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigen, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind, ist das FG im Ergebnis ebenfalls nicht abgewichen.
aa) Die Forderung nach Prüfung aller Ermessensgesichtspunkte bedeutet, dass das FA grundsätzlich die in Betracht kommenden Erlassgründe zu prüfen hat, auch wenn der Steuerpflichtige sich nicht ausdrücklich darauf berufen hat (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 1994, 144, unter 3.). Sie bedeutet allerdings nicht, dass das FA stets ohne konkrete Veranlassung zu allen denkbaren Erlassgründen Ausführungen machen müsste.
Wie der BFH in seinem Urteil vom 4. Oktober 1989 V R 106/84 (BFHE 158, 306, BStBl II 1990, 179) klargestellt hatte, sind Erlassgründe zu prüfen, soweit dazu Anlass besteht, weil sie nahe liegen oder sich aufdrängen (vgl. dort unter II.1.c, 2.a b, a.E.). Von dieser Entscheidung hat sich der BFH weder in dem Urteil in BFH/NV 1994, 144 noch in späteren Entscheidungen distanziert. Er hat sich in dieser Entscheidung vielmehr ausdrücklich den Urteilen vom 23. Mai 1985 V R 124/79 (BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489), vom 2. Juli 1986 I R 5/83 (BFH/NV 1987, 684) und vom 26. Januar 1988 VIII R 151/84 (BFH/NV 1988, 695) angeschlossen. In den zu Grunde liegenden Sachverhalten drängte sich die Frage des Erlasses auch außerhalb der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung auf, weil ein Vollstreckungsaufschub tatsächlich gewährt (so BFH-Urteile in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, sowie BFH/NV 1987, 684) bzw. die wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen offenkundig war (so BFH-Urteil in BFH/NV 1988, 695). Ebenso hatte in der dem Senatsurteil vom 16. September 1992 X R 169/90 (BFH/NV 1993, 510) zu Grunde liegenden Konstellation zum einen das FA Ratenzahlungen akzeptiert, zum anderen bereits im finanzbehördlichen Verfahren die Steuerpflichtige auf den Gesichtspunkt der vorübergehenden Zahlungsunfähigkeit verwiesen.
bb) Auch wenn das FG die Erwägung, dass der Kläger weitere Gesichtspunkte außerhalb von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung im außergerichtlichen Verfahren nicht vorgebracht habe, in den Mittelpunkt gestellt hat, ist es im Ergebnis von diesen Grundsätzen nicht abgewichen. Es hat zutreffend ausgeführt, dass der Kläger nicht nur seinen Erlassantrag ausdrücklich lediglich auf Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung gestützt, sondern auch selbst auf die tatsächliche Ablehnung des Stundungsbegehrens hingewiesen hatte, ohne diese zu hinterfragen. Dies ging über die bloße Nichtgeltendmachung des Erlassgrundes "Stundungssituation" hinaus und zeigt, dass das FG die unterlassene Auseinandersetzung des FA zur Stundungssituation nicht nur wegen des fehlenden Vorbringens des Klägers für rechtmäßig erachtet hat. Es hat sich vielmehr im Einklang mit der vorgenannten Rechtsprechung mit der Frage auseinandergesetzt, ob es sonst irgendeinen Anlass zu einer Erörterung der Stundungsfrage ‑‑der gleichzeitig alleiniger Anlass für die Prüfung der Situation eines Vollstreckungsaufschubs hätte sein können‑‑ gab. Es hat die Frage verneint. Ob diese Beurteilung ihrerseits zutreffend war, ist wiederum eine materiell-rechtliche Frage, die nicht zur Zulassung der Revision führen kann.
Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die beiden maßgebenden Erwägungen der Einspruchsentscheidung, der aus Sicht des FA unzureichende Nachweis über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers sowie die tatsächliche Zahlung der Steuerschulden kurz nach dem Insolvenzantrag, die der Kläger zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung noch nicht mit der freigebigen Zuwendung der Eltern erklärt hatte und die deshalb aus Sicht des FA auf das Vorhandensein entsprechender Mittel schließen ließen, für die Zahlungsfähigkeit des Klägers sprachen.
3. Die gerügten Verfahrensmängel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO in Gestalt von Verletzungen rechtlichen Gehörs liegen nicht vor.
a) Die Rügen des Klägers, das FG habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und so gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen, sind nicht begründet.
aa) Soweit der Kläger meint, das FG habe die Einnahmen-Überschussrechnung falsch verstanden, wendet er sich in der Sache gegen Schlussfolgerungen des FG aus einem festgestellten Sachverhalt. Das betrifft nicht die Aufklärung des Sachverhalts, sondern dessen Bewertung und damit wiederum die materiell-rechtliche Richtigkeit des Urteils. Das FG hat unbestritten festgestellt, wie hoch die Nettoeinnahmen, die Aufwendungen für Wareneinkauf und der Gewinn nach der in den Akten vorhandenen Erklärung des Klägers waren. Die Frage, was für die Zahlungsfähigkeit des Klägers aus der Höhe der Nettoeinnahmen folgt und wie es zu beurteilen ist, falls der Kläger zur Aufrechterhaltung seines Betriebes Lieferantenschulden vorrangig getilgt haben sollte, ist keine Angelegenheit (weiterer) Sachaufklärung, sondern der rechtlichen und tatsächlichen Würdigung des Sachverhalts.
bb) Soweit der Kläger beanstandet, dass das FA seine Buchführungsunterlagen nicht eingesehen habe, liegt darin kein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht des FG.
Verfahrensmängel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind nur Fehler im gerichtlichen Verfahren, nicht im Verwaltungsverfahren (vgl. Senatsbeschluss vom 21. August 2007 X B 68/07, BFH/NV 2007, 2143). Sollte das FA den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und das FG dies bei der Überprüfung der Entscheidung des FA nicht berücksichtigt haben, hätte das FG nicht gegen die an das Gericht adressierte Sachaufklärungspflicht aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen, sondern eine fehlerhafte Beurteilung der Sachaufklärungspflichten des FA vorgenommen.
Im Übrigen hätten die Buchführungsunterlagen des Klägers die Geldverkehrsrechnung nicht in vollem Umfang ersetzt und wären daher keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung über den Erlass gewesen. Sie hätten höchstens Auskunft über die betrieblich veranlassten Zahlungsvorgänge bei dem Kläger gegeben. Sie hätten aber eine umfassende Selbstauskunft über seine gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse, die auch von den privaten Umständen, ggf. privat veranlassten Zahlungsvorgängen abhängt, nicht ersetzt.
cc) Soweit das FG ‑‑wie vom Kläger beanstandet‑‑ die Buchführungsunterlagen nicht eingesehen habe, hat es ebenfalls nicht gegen seine Sachaufklärungspflicht verstoßen. Das gilt schon deshalb, weil es zur eigenen Aufklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht verpflichtet war, sondern sich auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des FA beschränken musste.
Die Entscheidung über den Erlass gemäß § 227 AO ist eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde nach § 5 AO. Bei der Überprüfung einer ablehnenden Ermessensentscheidung ist das FG grundsätzlich nur verpflichtet, den Sachverhalt aufzuklären, der zur Beurteilung der Frage notwendig ist, ob das FA sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat (vgl. Thürmer in Hübschmann/ Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑ § 76 FGO Rz 102; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 102 Rz 14). Wenn das FG der Auffassung ist, es liege keine Pflichtverletzung des FA vor, obwohl es die Buchführungsunterlagen nicht eingesehen habe, weil das Angebot, die Buchführungsordner zur Verfügung zu stellen, nicht ausreichend sei, besteht keine Verpflichtung des FG, seinerseits Einsicht in solche Unterlagen zu nehmen.
Eine umfassendere finanzgerichtliche Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung bestände nur, wenn das Ermessen der Finanzbehörde nach Auffassung des FG auf Null reduziert wäre (Thürmer in HHSp, § 76 FGO Rz 102). Diese Ausnahme ist im Streitfall jedoch nicht gegeben, da das FG von keiner behördlichen Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen ist.
dd) Welche konkreten Erkenntnisse das FG aus weiteren, nicht beigezogenen Akten des FA hätte gewinnen sollen, auf Grund derer die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des FA möglicherweise anders ausgefallen wäre, ist nicht vorgetragen und nicht erkennbar.
b) Aus den unter II.3.a cc genannten Gründen musste das FG schließlich dem Beweisantrag auf Vernehmung des zuständigen Finanzbeamten als Zeugen nicht nachgehen.
Im Übrigen ist nicht aktenkundig, dass der Kläger ‑‑wie es zur Vermeidung eines Verlusts des Rügerechts erforderlich gewesen wäre (Senatsbeschluss vom 25. Mai 2010 X B 207/09, nicht veröffentlicht)‑‑ die unterbliebene Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung gerügt hätte.