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Beschluss vom 15. Juni 2010, VI B 11/10

Fahrtkosten bei außergewöhnlich gehbehinderten Steuerpflichtigen

BFH VI. Senat

EStG § 33 Abs 2, EStG § 33b, EStH H 33.1, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 2, EStH H 33.2, EStH H 33.3, EStH H 33.4

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht , 02. December 2009, Az: 1 K 46/07

Leitsätze

1. NV: Außergewöhnlich gehbehinderte Steuerpflichtige mit einem Grad der Behinderung (GdB) ab 80 und dem Merkzeichen "aG" können neben Aufwendungen für Freizeitfahrten, Erholungsfahrten und Besuchsfahrten von bis zu 15.000 km jährlich (H 33.1 Nr. 2 EStH 2005) nicht noch zusätzlich Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten von bis zu 3.000 km im Jahr (H 33.1 Nr. 1 EStH 2005) als außergewöhnliche Belastungen gemäß § 33 Abs. 2 EStG geltend machen.

2. NV: Die Pauschale in H 33.1 Nr. 2 EStH 2005 gilt vielmehr sämtliche Mehraufwendungen eines Behinderten für Fahrten, die der allgemeinen Lebensführung einschließlich Freizeitzwecken und Erholungszwecken dienen, und damit sowohl die Kosten für unvermeidbare (behinderungsberechtigte) Fahrten zur Erledigung privater Angelegenheiten als auch die Kosten für Erholungsfahrten, Freizeitfahrten und Besuchsfahrten ab.

3. NV: Lediglich Aufwendungen für Fahrten zu Ärzten können daneben noch als Krankheitskosten nach § 33 Abs. 2 EStG berücksichtigt werden.

Gründe

  1. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beschwerde den Begründungserfordernissen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) genügt, denn sie ist jedenfalls unbegründet, da der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zukommt noch eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) erforderlich ist.

  2. a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt.

  3. aa) Die Rechtsfrage muss im konkreten Fall klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärungsfähig sein (ständige Rechtsprechung, Senatsbeschlüsse vom 24. Juli 2008 VI B 7/08, BFH/NV 2008, 1838; vom 12. Oktober 2007 VI B 161/06, BFH/NV 2008, 45; vom 10. Oktober 2007 VI B 33/07, BFH/NV 2008, 44; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 23, m.w.N.). An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es u.a. dann, wenn die in Rede stehende Rechtsfrage ‑‑wie im Streitfall‑‑ bereits durch die Rechtsprechung des BFH hinreichend geklärt ist und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, welche eine erneute Prüfung und Entscheidung dieser Frage durch den BFH erfordern (BFH-Beschlüsse vom 13. Juni 2007 X B 34/06, BFH/NV 2007, 1703, und vom 14. Juli 2008 VIII B 179/07, BFH/NV 2008, 1874).

  4. bb) Nach diesen Maßstäben ist die Klärungsbedürftigkeit der von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfrage, ob bei außergewöhnlich gehbehinderten Steuerpflichtigen mit einem Grad der Behinderung (GdB) ab 80 und dem Merkzeichen "aG" neben Aufwendungen für Freizeit-, Erholungs- und Besuchsfahrten von bis zu 15 000 km jährlich (vgl. Nr. 2 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen ‑‑BMF‑‑ vom 29. April 1996, BStBl I 1996, 446) auch Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten von bis zu 3 000 km jährlich (vgl. Nr. 1 des BMF-Schreibens in BStBl I 1996, 446) kumulativ als außergewöhnliche Belastungen gemäß § 33 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzuerkennen seien, zu verneinen.

  5. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats können Steuerpflichtige, die so gehbehindert sind, dass sie sich außerhalb des Hauses nur mit Hilfe eines Kfz bewegen können, grundsätzlich alle Kfz-Kosten, soweit sie nicht Werbungskosten oder Betriebsausgaben sind, neben den Pauschbeträgen für behinderte Menschen (§ 33b EStG) als außergewöhnliche Belastung geltend machen, also nicht nur die Kosten für Fahrten zu Ärzten (Krankheitskosten) oder für unvermeidbare Fahrten zur Erledigung privater Angelegenheiten, sondern in angemessenem Umfang auch für Erholungs-, Freizeit- und Besuchsfahrten. Angemessen sind nur Aufwendungen für Fahrten bis zu 15 000 km im Jahr und nur bis zur Höhe der Kilometerpauschbeträge, die in den Einkommensteuer-Richtlinien und Lohnsteuer-Richtlinien für den Abzug von Kfz-Kosten als Werbungskosten oder Betriebsausgaben festgelegt sind (BFH-Urteile vom 22. Oktober 1996 III R 203/94, BFHE 182, 44, BStBl II 1997, 384; vom 13. Dezember 2001 III R 40/99, BFHE 197, 462, BStBl II 2002, 224; vom 18. Dezember 2003 III R 31/03, BFHE 205, 74, BStBl II 2004, 453, und vom 21. Februar 2008 III R 105/06, BFH/NV 2008, 1141; vgl. auch H 33.1 bis 33.4 des Einkommensteuer-Handbuchs ‑‑EStH‑‑ 2005, Fahrtkosten behinderter Menschen). Mit diesem Pauschbetrag sind sämtliche Mehraufwendungen eines Behinderten für Fahrten, die der allgemeinen Lebensführung einschließlich Freizeit- und Erholungszwecken dienen, und damit sowohl die Kosten für unvermeidbare (behinderungsbedingte) Fahrten zur Erledigung privater Angelegenheiten als auch die Kosten für Erholungs-, Freizeit- und Besuchsfahrten abgegolten (BFH-Urteil vom 24. August 2004 VIII R 59/01, BFHE 207, 237, und BFH-Beschluss vom 21. Mai 2004 III B 171/03, BFH/NV 2004, 1404). Lediglich Fahrtkosten, die ‑‑wie beispielsweise Fahrtkosten zum Arzt‑‑ zu den Krankheitskosten gehören (vgl. BFH-Urteil in BFHE 205, 74, BStBl II 2004, 453), werden von der Abgeltungswirkung nicht erfasst (BFH-Urteil in BFHE 207, 237).

  6. Im Übrigen ist die o.a. Streitfrage nach dem unmissverständlichen Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck der Vereinfachungsregelung in H 33.1 bis 33.4 EStH 2005, Fahrtkosten behinderter Menschen bzw. dem BMF-Schreiben in BStBl I 1996, 446 offenkundig im Sinne der von der Vorinstanz vertretenen Rechtsauffassung zu beantworten. Das Finanzgericht (FG) hat hierzu zutreffend ausgeführt, dass sich die 15 000 km-Grenze nicht nur auf "reine" Privatfahrten bezieht, sondern dadurch auch behinderungsbedingt unvermeidbare Fahrten abgegolten sind.

  7. b) Die von den Klägern behauptete Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO liegt nicht vor. Entgegen der Auffassung der Kläger weicht die angefochtene Entscheidung nicht von den BFH-Urteilen vom 13. Dezember 2001 III R 6/99 (BFHE 197, 455, BStBl II 2002, 198) und vom 2. Oktober 1992 III R 63/91 (BFHE 169, 427, BStBl II 1993, 286) ab.

  8. Die Kläger leiten aus den von ihnen angegebenen Entscheidungen des BFH ab, die Begrenzung der als angemessen anzusehenden und im Rahmen der außergewöhnlichen Belastung zu berücksichtigenden Fahrleistung behinderter Steuerpflichtiger auf 15 000 km jährlich beziehe sich auf rein private, nicht aber auf unvermeidbare Fahrten. Davon weiche die angefochtene Entscheidung des FG ab. Eine Unterscheidung zwischen rein privaten, im Wesentlichen dem persönlichen Vergnügen dienenden Fahrten und behinderungsbedingt unvermeidbaren Fahrten, die überwiegend durch zwingende sachliche Gründe veranlasst sind, wie beispielsweise Einkaufsfahrten oder Behördengänge, hat der BFH in diesen Entscheidungen jedoch nicht vorgenommen. Insbesondere sind in beiden Verfahren den Klägern die beiden Pauschbeträge in H 33.1 bis 33.4 EStH 2005, Fahrtkosten behinderter Menschen bzw. dem BMF-Schreiben in BStBl I 1996, 446 nicht kumulativ gewährt worden.

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