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Beschluss vom 17. März 2010, X B 114/09

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei mangelnden Sprachkenntnissen und Rechtskenntnissen

BFH X. Senat

FGO § 56 Abs 1, AO § 87

vorgehend FG Köln, 23. April 2009, Az: 7 K 2586/08

Leitsätze

1. NV: Auch ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Steuerpflichtige muss die ihm in eigener Sache obliegenden Sorgfaltspflichten erfüllen. Diese Sorgfaltspflicht besteht für ihn darin, sich in angemessener Zeit eine Übersetzung der ihm zugehenden amtlichen Schriftstücke zu verschaffen und dann entsprechend zu reagieren .

2. NV: Bei einem rechtsunkundigen Steuerpflichtigen kann ein Rechtsirrtum über Verfahrensfragen zur Wiedereinsetzung führen. Voraussetzung ist aber, dass der Steuerpflichtige Zweifel, die bei ihm hätten aufkommen müssen, rechtzeitig klärt .

Gründe

  1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat keinen Erfolg. Der von ihnen geltend gemachte Verfahrensmangel, der gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eine Zulassung der Revision ermöglichen würde, liegt nicht vor.

  2. 1. Nach der Rechtsprechung ist ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO auch dann gegeben, wenn das Finanzgericht (FG) fehlerhaft statt eines Sachurteils ein Prozessurteil erlässt (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 10. Januar 2002 IV B 32/01, BFH/NV 2002, 927, sowie vom 6. Juli 1988 II B 183/87, BFHE 153, 509, BStBl II 1988, 897, und Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 78, m.w.N.). Ob dieses bei jedem Irrtum in der Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften gilt oder nur, wenn der Irrtum das Verfahren des Gerichts bei der Urteilsfindung beeinflusst hat (so BFH-Beschlüsse vom 26. Februar 1970 IV B 93/69, BFHE 99, 6, BStBl II 1970, 545, und vom 24. Mai 1988 IV B 125/87, BFH/NV 1989, 175), insbesondere bei fehlerhafter Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. etwa Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juli 2003  4 B 83/02, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rechtsprechungsreport 2003, 901; Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 56 Rz 65; Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 78; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 115 FGO Rz 234; offen gelassen etwa in BFH-Beschlüssen vom 19. August 2004 II B 79/03, BFH/NV 2004, 1670, und vom 26. September 2005 VIII B 293/03, BFH/NV 2006, 109), kann im vorliegenden Fall dahinstehen. Das FG hat zu Recht die Wiedereinsetzung der Kläger in den vorigen Stand abgelehnt.

  3. 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist gehindert war (§ 56 Abs. 1 FGO). Eine Fristversäumnis ist nur dann als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (z.B. BFH-Urteil vom 13. Juli 1995 V R 51/94, BFH/NV 1996, 193, m.w.N.).

  4. Die von den Klägern geltend gemachten Gründe ‑‑mangelnde Sprach- und Rechtskenntnisse‑‑ vermögen die Versäumung der Einspruchsfrist nicht zu entschuldigen.

  5. a) Die Amtssprache ist gemäß § 87 der Abgabenordnung (AO) deutsch. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) war daher verpflichtet, den Steuerbescheid in deutscher Sprache abzufassen. Das gilt auch für die Rechtsbehelfsbelehrung, die dem Steuerbescheid beigefügt war und die die Einspruchsfrist von einem Monat (§ 355 Abs. 1 Satz 1, § 356 Abs. 1 AO) in Gang gesetzt hat (vgl. BFH-Urteil vom 9. März 1976 VII R 102/75, BFHE 118, 294, BStBl II 1976, 440). Zwar darf eine unzureichende Kenntnis der deutschen Sprache nicht dazu führen, dass der Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑) verkürzt oder sein Anspruch auf Gleichbehandlung mit anderen, der deutschen Sprache mächtigen Beteiligten (Art. 3 GG) verletzt wird. Deshalb sind Sprachschwierigkeiten des Beteiligten bei der Prüfung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand angemessen zu berücksichtigen (vgl. auch BFH-Beschluss vom 21. Mai 1997 VII S 37/96, BFH/NV 1997, 634; Söhn in HHSp, § 110 AO Rz 179).

  6. Aber auch der der Amtssprache nicht mächtige Beteiligte hat ‑‑wie jeder andere Beteiligte‑‑ die ihm in eigener Sache obliegenden Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Diese Sorgfaltspflicht besteht für den der Amtssprache Unkundigen darin, sich in angemessener Zeit eine Übersetzung der ihm zugehenden amtlichen Schriftstücke zu verschaffen und dann entsprechend zu reagieren. Denn auch ohne dass er dessen Inhalt kennt, muss der Adressat eines amtlichen Schriftstücks damit rechnen, dass die Behörde mit dem Schriftstück einen Anspruch gegen ihn geltend macht oder eine Sanktion gegen ihn verhängt und gleichzeitig mit der Bekanntgabe des Schriftstücks eine Frist in Lauf gesetzt wird, innerhalb derer der Betroffene sich gegen die Verfügung wenden kann und zur Vermeidung von Nachteilen wenden muss (vgl. BFH-Urteil in BFHE 118, 294, BStBl II 1976, 440).

  7. Die Kläger haben dieser Sorgfaltspflicht nicht genügt. Selbst wenn sie der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig gewesen sein sollten, um den Inhalt der Einspruchsentscheidung und insbesondere die Rechtsbehelfsbelehrung zu verstehen ‑‑was aber im Hinblick auf die in ihrem Schreiben vom 24. Juli 2008 an das FG zu erkennende Qualität ihrer Sprachkenntnisse wenig wahrscheinlich ist‑‑, konnten sie dem Einspruchsbescheid vom 11. Juni 2008 entnehmen, dass es sich um eine Entscheidung der Finanzbehörde handelte. Bei Zweifeln über den Inhalt der Entscheidung hätten sie sich unverzüglich um eine Übersetzung oder um eine Erläuterung bemühen müssen. Dies gilt umso mehr, als es in dem Verfahren um nicht unerhebliche Beträge ging. Dass sie sich um eine Übersetzung des Bescheides bemüht haben, wurde von den Klägern nicht dargelegt.

  8. b) Bei einem rechtsunkundigen Steuerpflichtigen kann ebenfalls ein Rechtsirrtum über Verfahrensfragen zur Wiedereinsetzung führen. Voraussetzung ist auch hier, dass der Steuerpflichtige Zweifel, die bei ihm hätten aufkommen müssen, rechtzeitig klärt (z.B. BFH-Beschluss vom 23. Juli 1992 VIII R 73/91, BFH/NV 1993, 40).

  9. Selbst wenn die Kläger ursprünglich ‑‑zu Unrecht‑‑ der Auffassung gewesen sein sollten, das Aussetzungsverfahren sei noch nicht beendet gewesen, mussten sich wegen der eindeutigen Rechtsbehelfsbelehrung in der Einspruchsentscheidung sowie dem darin enthaltenen Hinweis, dass die Aussetzung der Vollziehung am 13. Juni 2008 ende, Zweifel an ihrer Rechtsauffassung aufdrängen. Um diese auszuräumen, hätten sie entweder ihre Steuerberaterin oder Herrn S, der ihnen in dem Aussetzungsverfahren vor dem FG, 7 V 4426/07, zur Seite gestanden hatte, über das Verhältnis vom Aussetzungsverfahren zum Einspruchsverfahren sowie die Möglichkeiten, gegen die Einspruchsentscheidung vorzugehen, befragen können. Auch dieses haben die Kläger unterlassen.

  10. c) An dem Vorwurf der fehlenden Sorgfalt der Kläger ändert sich auch nichts dadurch, dass sie sich nach Erhalt der Einspruchsentscheidung in Schreiben vom 17. Juni 2008 und 29. Juni 2008 an das FA gewandt und um Klärung der Angelegenheit gebeten haben. Die Antwort des FA vom 23. Juni 2008, die damit noch innerhalb der Rechtmittelfrist erfolgt ist, zeigt insbesondere mit der Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung vom 11. Juni 2008, dass für das FA die inhaltliche Diskussion der steuerlichen Behandlung der Objekte L und B in T in den Streitjahren beendet gewesen ist. Die Kläger konnten aus diesem Verhalten des FA nicht ableiten, dass die Einspruchsentscheidung mit der Rechtsbehelfsbelehrung für sie nicht mehr gelten sollte.

  11. Da die Kläger somit ihre Angelegenheiten in Bezug auf die Einspruchsentscheidung nicht mit der ihnen obliegenden Sorgfalt behandelt haben, müssen sie sich die Versäumung der Klagefrist als Verschulden zurechnen lassen, so dass das FG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht abgelehnt hat.

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