BFH IX. Senat
EStG § 24 Nr 1 Buchst a, EStG § 34 Abs 1, EStG § 34 Abs 2 Nr 2
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 23. February 2009, Az: 15 K 257/06
Leitsätze
1. Eine Entschädigung führt zu außerordentlichen Einkünften nach § 34 Abs. 2 EStG, wenn sie zusammengeballt zufließen, weil der Steuerpflichtige infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses einschließlich der Entschädigung in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum insgesamt mehr erhält, als er bei ungestörter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, also bei normalem Ablauf der Dinge erhalten würde (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung) .
2. Was der Steuerpflichtige bei normalem Ablauf der Dinge erhalten würde, kann nur aufgrund einer hypothetischen und prognostischen Beurteilung ermittelt werden; dabei ist nicht auf die Verhältnisse des Vorjahres abzustellen, wenn die Einnahmesituation durch außergewöhnliche Ereignisse geprägt ist und sich daraus keine Vorhersagen für den (unterstellten) normalen Verlauf bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ableiten lassen .
Tatbestand
I.
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr (2003) zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden. Der Kläger ist Anlageberater und war bis zum 30. April des Streitjahres Angestellter bei einer Finanzplanung AG (AG). Die aus dieser Tätigkeit bezogenen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit setzten sich zusammen aus einem festen Gehaltsbestandteil, Provisionsvorauszahlungen und Bonifikationsabrechnungen und betrugen im Jahr 2000 insgesamt 102.058 € (Einnahmen: 124.448 €), im Jahr 2001 insgesamt 111.963 € (Einnahmen: 131.459 €) und im Jahr 2002 insgesamt 242.345 € (Einnahmen 259.045 €). Der Kläger und die AG beendeten das Arbeitsverhältnis aufgrund eines Abwicklungsvertrags mit Ablauf des 30. April 2003. Die AG verpflichtete sich, dem Kläger eine Abfindung in Höhe von insgesamt 135.792,01 € zu zahlen, bestehend aus den Komponenten Altersvorsorge (12.773,34 €), Gehalt (44.820,68 €) und Provisionen (78.197,99 €). Seit dem 1. Mai des Streitjahres war der Kläger bei einer Bank angestellt.
Er erklärte im Rahmen der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Streitjahr Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von insgesamt 200.204 €, bestehend aus Einnahmen von 34.477 € (8.404 € Fixgehalt, 26.073 € Provisionen) aus seinem Arbeitsverhältnis mit der AG, Einnahmen aus seinem Arbeitsverhältnis mit der Bank in Höhe von 38.179 € sowie aus der von der AG geleisteten Abfindung von 127.548 €.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr fest, ohne die ‑‑um den nach § 3 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Streitjahres (EStG) steuerfreien Betrag von 8.181 € geminderte‑‑ Abfindungsleistung als außerordentliche Einkünfte gemäß § 34 EStG zu berücksichtigen, weil es ‑‑bezogen auf das Vorjahr 2002‑‑ an einer Zusammenballung der Einkünfte fehle.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) unterwarf die Abfindungszahlung von 127.548 € einem nach Maßgabe des § 34 EStG ermäßigten Steuersatz. Eine Zusammenballung liege vor, wenn der Steuerpflichtige infolge der Entschädigung in einem Veranlagungszeitraum mehr erhalte als bei normalem Ablauf der Dinge; dabei komme es bei einer Fallkonstellation wie im Streitfall nicht nur auf die Verhältnisse des Vorjahres (hier also das Jahr 2002), sondern auf die Einkünfte der Vorjahre an. Das Jahr 2002 sei nicht maßstabbildend. Denn nach der glaubhaften und unwidersprochen gebliebenen Darstellung des Klägers habe er ungewöhnlich hohe Provisionen erhalten, die auf einem besonders hohen Anlagebetrag eines Neukunden im Jahr 2001 beruht hätten. In den Jahren 1999 bis 2002 habe der Kläger durchschnittlich 158.490 € eingenommen (durchschnittliche Einkünfte 138.670 €). Selbst wenn man nur die beiden letzten Jahre vor der Auflösung in die Vergleichsberechnung einbezöge, läge der Durchschnittsverdienst mit 177.154 € weit unter dem, was tatsächlich im Streitjahr zugeflossen sei (nämlich 200.204 €).
Hiergegen richtet sich die Revision des FA, die es auf die Verletzung des § 34 EStG stützt. Nach der Verwaltungsauffassung (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen ‑‑BMF‑‑ vom 24. Mai 2004, BStBl I 2004, 505), sei ‑‑nur‑‑ auf die Einkünfte des Vorjahres abzustellen.
Das FA beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Zutreffend hat das FG die Voraussetzungen einer als außerordentliche Einkünfte begünstigt zu besteuernden Entschädigung nach § 24 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG bejaht.
1. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 EStG ist die auf außerordentliche Einkünfte entfallende Einkommensteuer nach § 34 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 EStG (Fünftelregelung) zu berechnen. Als außerordentliche Einkünfte kommen nur die in § 34 Abs. 2 EStG aufgeführten Einkünfte in Betracht. Das bedeutet aber nicht, die ‑‑hier im Streitjahr vereinnahmte‑‑ Entschädigung (§ 24 Nr. 1 EStG) sei ohne weiteres ermäßigt zu besteuern. Vielmehr ist der Wortlaut des § 34 Abs. 2 EStG entsprechend dem Normzweck, die Auswirkungen des progressiven Tarifs abzuschwächen, auf solche Einkünfte zu beschränken, die "zusammengeballt" zufließen (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑; vgl. Urteil vom 25. August 2009 IX R 3/09, BFHE 226, 261; aus dem Schrifttum instruktiv Sieker, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 34 Rz B 5, m.w.N.). Davon ist auszugehen, wenn der Steuerpflichtige infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum einschließlich der Entschädigung insgesamt mehr erhält, als er bei ungestörter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, also bei normalem Ablauf der Dinge erhalten hätte (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 9. Oktober 2008 IX R 85/07, BFH/NV 2009, 558, m.w.N.; vgl. dazu auch Blümich/Lindberg, § 34 EStG Rz 40 ff.).
a) Die dafür notwendige, hypothetische und prognostische Betrachtung orientiert sich grundsätzlich an den Verhältnissen des Vorjahres, die dem Veranlagungszeitraum, in dem die Entschädigung zufließt, am nächsten liegen. Eine darauf aufbauende Vergleichsberechnung lediglich am Maßstab des Vorjahres ist aber keineswegs zwingend. Sie gilt nur für den Normalfall, in dem die Verhältnisse des Vorjahres ‑‑z.B. im Zuge einer normalen Gehaltsentwicklung‑‑ auch diejenigen des Folgejahres mit großer Wahrscheinlichkeit abbilden. Sie gilt aber dann nicht, wenn die Einnahmesituation des Vorjahres durch außergewöhnliche Ereignisse geprägt ist und sich daraus keine Vorhersagen für den (unterstellten) normalen Verlauf bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ableiten lassen. So beanstandet es der BFH insbesondere bei variablen Gehaltskomponenten nicht, wenn im Wege einer Prognoseentscheidung (auch) auf die Vorjahre zurückgegriffen wird (vgl. zum Vorstehenden BFH-Urteile vom 4. März 1998 XI R 46/97, BFHE 185, 429, BStBl II 1998, 787, und in BFH/NV 2009, 558).
b) Wenn sich die Revision auf das BMF-Schreiben in BStBl I 2004, 505 beruft, so sieht der Senat darin keine Abweichung zur hier vertretenen Auslegung. Abgesehen davon, dass das BMF in seiner Tz. 12 explizit auf das BFH-Urteil in BFHE 185, 429, BStBl II 1998, 787 Bezug nimmt, betreffen seine Ausführungen und Beispiele ersichtlich nur den Normalfall. Wenn das FA darüber hinaus meint, bei der vom BMF getroffenen "Einjahresentscheidung" (gemeint ist die Fokussierung nur auf das Vorjahr) handele es sich um eine Vereinfachungsregelung, so dass "Ungerechtigkeiten" im Sinne einer typisierenden Betrachtungsweise in Kauf genommen werden müssten, so vermag der Senat dieser Auffassung nicht beizupflichten. Denn bei dem BMF-Schreiben zu Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der ertragsteuerlichen Behandlung von Entlassungsentschädigungen handelt es sich um eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift, die mit ihrem materiell-rechtlichen Inhalt Gegenstand und nicht Maßstab richterlicher Kontrolle ist (vgl. die ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 1988 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214, 227 f.; BFH-Urteil vom 4. Mai 2006 VI R 28/05, BFHE 213, 484, BStBl II 2006, 781, unter II.2.b aa, sowie BFH-Beschluss vom 4. Dezember 2008 XI B 250/07, BFH/NV 2009, 394).
Typisierende Regelungen sind dem Schreiben nicht zu entnehmen, ganz abgesehen davon, dass nur der Gesetzgeber typisieren darf (siehe z.B. BFH-Urteil vom 13. Februar 2008 IX R 63/06, BFH/NV 2008, 1138). § 34 Abs. 2 EStG sind jedoch keine Typisierungsbefugnisse im Sinne einer Regelungsdelegation auf die Verwaltung zu entnehmen. Die Norm ist nicht in einer Weise unbestimmt, dass sie ohne eine entsprechende Konkretisierung seitens der Verwaltung keinen hinreichend bestimmten, verfassungsgemäßen Regelungsgehalt hätte (vgl. zu Typisierungsbefugnissen BFH-Urteil vom 19. August 2008 IX R 3/08, BFHE 223, 563, BStBl II 2009, 447). Vielmehr beruht die ungeschriebene Voraussetzung der Zusammenballung der Einkünfte auf einer teleologischen Reduktion der Norm durch die Rechtsprechung des BFH.
2. Nach diesen Maßstäben hat das FG die vom Kläger erhaltene Entschädigung zu Recht als außerordentliche Einkünfte gemäß § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG der ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 1 EStG unterworfen. Es hat bei der Prüfung, ob die Entschädigung zu einer Zusammenballung von Einkünften führt, zutreffend nicht (nur) auf das Vorjahr abgestellt. Denn aufgrund seiner ‑‑den BFH nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden‑‑ Feststellungen beruhten die Einkünfte des Jahres 2002 auf einer ungewöhnlich hohen Provision. Aus ihnen lassen sich deshalb für den normalen Ablauf der Dinge bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses keine Erkenntnisse gewinnen. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn das FG die Verhältnisse der Vorjahre (also hier der Jahre 2000 bis 2002 oder in seiner Alternativrechnung nur der Jahre 2001 und 2002) mit in seine Berechnungen einbezieht.