ECLI:DE:BFH:2024:U.111224.VIIIR24.23.0
BFH VIII. Senat
EStG § 20 Abs 1 Nr 10 Buchst b, EStG § 43 Abs 1 S 1 Nr 7c, EStG § 44 Abs 5 S 1, EStG § 44 Abs 5 S 2, EStG § 44 Abs 6 S 5, EStG § 44 Abs 6 S 1, AO § 155, AO § 167 Abs 1 S 1, AO § 171 Abs 3a, AO § 171 Abs 15, AO § 14, KStG § 5 Abs 1 Nr 5
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 11. Juli 2023, Az: 8 K 8048/22
Leitsätze
1. Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb ist "Dritter" im Sinne des § 171 Abs. 15 der Abgabenordnung (AO). Die Fiktion in § 44 Abs. 6 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO zu beachten mit der Maßgabe, dass der fiktive Gläubiger der Kapitalerträge, die Trägerkörperschaft, zugleich als Steuerschuldner (Schuldner der Kapitalertragsteuer) und der fiktive Schuldner der Kapitalerträge, der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb, zugleich als Steuerentrichtungspflichtiger im Sinne der Vorschrift gelten.
2. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO ist sachlich auf den im angefochtenen Bescheid festgesetzten Anspruch und persönlich auf die Person des Anfechtenden beschränkt (Anschluss an Urteil des Bundesfinanzhofs vom 06.06.2019 - IV R 34/16, BFH/NV 2019, 1078, Rz 40). Die Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG ist auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 3a AO zu beachten mit der Maßgabe, dass zwischen der Trägerkörperschaft als Schuldner der Kapitalertragsteuer und dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als fiktivem Steuerentrichtungspflichtigen Personenverschiedenheit anzunehmen ist.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 11.07.2023 - 8 K 8048/22 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ein gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 5 des Körperschaftsteuergesetzes von der Körperschaftsteuer befreiter Berufsverband. Er unterhält neben dem steuerbefreiten Bereich einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, aus dem er in den Jahren 2007 und 2008 (Streitjahre) Gewinne in Höhe von 38.620,12 € und 8.880,65 € erzielte.
Zum 31.12.2006 war für den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ein verbleibender Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer in Höhe von 396.341 € gesondert festgestellt worden. Nach Verrechnung der in den Streitjahren erzielten Gewinne mit den Verlusten der jeweiligen Vorjahre wurde die Körperschaftsteuer für die Streitjahre auf jeweils 0 € festgesetzt.
Der Kläger reichte nach Aufforderung durch den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) am 23.04.2010 Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre ein, in denen er Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes in der für die Streitjahre geltenden Fassung (EStG) in Höhe von jeweils 0 € angab.
Am 08.03.2012 erließ das FA einen Haftungsbescheid, mit dem es den Kläger gemäß § 191 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) wegen nicht abgeführter Kapitalertragsteuer in Höhe von 3.862 € (2007) beziehungsweise 888 € (2008) nebst Solidaritätszuschlag in Anspruch nahm. Die in den Streitjahren erzielten Gewinne des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs seien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7c und § 43a Abs. 1 Nr. 6 EStG einer 10%igen Kapitalertragsteuer zu unterwerfen, da die Gewinne nicht einer gesonderten, betrieblich notwendigen Gewinnrücklage zugeführt worden seien. Der Kläger hafte als Entrichtungsschuldner, da er seiner Verpflichtung zur Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer nicht nachgekommen sei. Die hiergegen nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 22.11.2017 - 8 K 4148/13 aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2018, 850 mitgeteilten Gründen ab. Der Kläger legte dagegen Revision ein (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ VIII R 1/18).
Während des Revisionsverfahrens erließ das FA am 22.12.2020 einen auf § 167 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG gestützten und als "Nachforderungsbescheid" über Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 bezeichneten Bescheid gegen den Kläger und führte unter anderem aus, der Bescheid ergehe gegenüber dem Kläger als Entrichtungsschuldner. Den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 hob das FA auf. Gegen den Bescheid vom 22.12.2020 legte der Kläger Einspruch ein.
Nachdem der Kläger den Rechtsstreit im Verfahren VIII R 1/18 einseitig in der Hauptsache für erledigt erklärt hatte, hat der Senat mit Urteil vom 25.03.2021 - VIII R 1/18 (BFHE 272, 469, BStBl II 2021, 655) die Erledigung der Hauptsache festgestellt und das in jenem Verfahren angefochtene FG-Urteil für gegenstandslos erklärt.
Mit Einspruchsentscheidung vom 16.02.2022 wies das FA den Einspruch des Klägers gegen den "Nachforderungsbescheid" vom 22.12.2020 als unbegründet zurück. Der hiergegen erhobenen Klage hat das FG mit in EFG 2024, 239 veröffentlichtem Urteil stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Bescheid habe nicht mehr ergehen können, da hinsichtlich der Kapitalertragsteuer der Streitjahre Festsetzungsverjährung eingetreten sei.
Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Bundesrechts. Es macht geltend, im Streitfall greife die zehnjährige Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO, die erst am 31.12.2020 abgelaufen sei, da der Kläger trotz Gewinnen von 38.620 € und 8.880 € für die Streitjahre nur Kapitalertragsteuer von jeweils 0 € angemeldet habe. Im Übrigen wäre der Ablauf der Festsetzungsfrist sowohl nach § 171 Abs. 3a AO als auch nach § 171 Abs. 15 AO gehemmt gewesen.
Das FA beantragt,
das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 11.07.2023 - 8 K 8048/22 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und gemäß § 126 Abs. 2 und Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, dass der Nachforderungsbescheid vom 22.12.2020 über Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 rechtswidrig war, da die Kapitalertragsteuer der Streitjahre bei Erlass des Bescheids verjährt war.
1. Wie der erkennende Senat bereits rechtskräftig entschieden hat, ist der Bescheid vom 22.12.2020 ein Nachforderungsbescheid gemäß § 155 AO i.V.m. § 44 Abs. 6 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 EStG, der sich an den Kläger als Gläubiger der Kapitalerträge und als Schuldner der Kapitalertragsteuer richtet (BFH-Urteil vom 25.03.2021 - VIII R 1/18, BFHE 272, 469, BStBl II 2021, 655). Daran sind die Beteiligten und der Senat gebunden (§ 110 Abs. 1 FGO). Dass das FA im Bescheid eine unzutreffende Rechtsgrundlage (§ 167 Abs. 1 Satz 1 AO) angegeben und den Kläger irrtümlich als "Entrichtungsschuldner" bezeichnet hat, steht dem nicht entgegen.
2. Im Ergebnis zutreffend hat das FG den Nachforderungsbescheid vom 22.12.2020 aufgehoben, da bei seinem Erlass die in ihm festgesetzte Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 bereits verjährt und erloschen (§ 47 AO) war. Der Bescheid durfte danach nicht mehr ergehen (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO).
a) Die Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre begann gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres 2010, in dem der Kläger die Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre abgegeben hatte.
b) Im Streitfall beträgt die Festsetzungsfrist vier Jahre gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO und nicht zehn Jahre gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO wegen Steuerhinterziehung. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung hat das FG nicht festgestellt. Das FG hat insbesondere keine Feststellungen getroffen, dass der Kläger bei Abgabe der Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre vorsätzlich unrichtige oder unvollständige tatsächliche Angaben im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO gemacht hat. Eine fehlerhafte rechtliche Würdigung wird von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht erfasst; der Begriff der "Angabe" bezieht sich auf Tatsachen (vgl. Krumm in Tipke/Kruse, § 370 AO Rz 49, m.w.N.).
c) Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre war nicht nach § 171 Abs. 15 AO gehemmt. Das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Rechtsbehelfs- und Klageverfahren hat den Ablauf der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt.
aa) Gemäß § 171 Abs. 15 AO endet, soweit ein Dritter Steuern für Rechnung des Steuerschuldners einzubehalten und abzuführen oder für Rechnung des Steuerschuldners zu entrichten hat, die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerschuldner nicht vor Ablauf der gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen geltenden Festsetzungsfrist. § 171 Abs. 15 AO soll einen Gleichlauf der Festsetzungsfristen beim Entrichtungs- und beim Steuerschuldner gewährleisten (vgl. BFH-Urteil vom 21.09.2017 - VIII R 59/14, BFHE 259, 411, BStBl II 2018, 163, Rz 51). Umstände im Sinne des § 171 AO, die beim Entrichtungspflichtigen den Eintritt der Verjährung hemmen, hemmen personenübergreifend auch die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerschuldner. § 171 Abs. 15 AO gilt für im Abzugsverfahren erhobene Steuern und damit für die Kapitalertragsteuer. Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuerschuld ist gemäß § 171 Abs. 15 AO bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung der Entrichtungspflicht gehemmt.
bb) § 171 Abs. 15 AO ist im Streitfall zeitlich anwendbar. Nach der Anwendungsvorschrift des Art. 97 § 10 Abs. 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung gilt § 171 Abs. 15 AO für alle am 30.06.2013 noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen. Dies bedeutet, dass sowohl die Festsetzungsfrist für die Entrichtungsschuld als auch die Festsetzungsfrist für die Steuerschuld am 30.06.2013 noch nicht abgelaufen sein durften (BFH-Urteil vom 21.09.2017 - VIII R 59/14, BFHE 259, 411, BStBl II 2018, 163, Rz 51). Hinsichtlich der Kapitalertragsteuerschuld des Klägers als Gläubiger der Kapitalerträge und hinsichtlich der Entrichtungsschuld wäre im Streitfall frühestens zum 31.12.2014 und damit nach dem Stichtag 30.06.2013 Festsetzungsverjährung eingetreten.
cc) Entgegen der Auffassung des FG ist die Anwendung des § 171 Abs. 15 AO nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger im Nachforderungsbescheid vom 22.12.2020 (unzutreffend) als "Entrichtungsschuldner" und nicht als Steuerschuldner bezeichnet wird. Wie unter II.1. dargelegt, hat der Senat bereits entschieden, dass das FA einen Nachforderungsbescheid gegenüber dem Kläger als Schuldner der Kapitalertragsteuer erlassen hat (BFH-Urteil vom 25.03.2021 - VIII R 1/18, BFHE 272, 469, BStBl II 2021, 655), wobei die Falschbezeichnung nicht schadet.
dd) Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb ist "Dritter" im Sinne des § 171 Abs. 15 AO. Dem steht nicht entgegen, dass die Trägerkörperschaft materiell- und verfahrensrechtlich anstelle des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs in Anspruch genommen wird, da diesem keine Steuersubjektivität zukommt. Nach § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG gelten in den Fällen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7c EStG die von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse (die Trägerkörperschaft) als Gläubiger und der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb als Schuldner der Kapitalerträge. Diese Fiktion ist auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO zu beachten mit der Maßgabe, dass der fiktive Gläubiger der Kapitalerträge, die Trägerkörperschaft, zugleich als Steuerschuldner im Sinne des § 171 Abs. 15 AO (Schuldner der Kapitalertragsteuer) und der fiktive Schuldner der Kapitalerträge, der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb, zugleich als Steuerentrichtungspflichtiger im Sinne der Vorschrift gelten.
ee) Die Voraussetzungen von § 171 Abs. 15 AO sind aber im Übrigen nicht erfüllt. Voraussetzung für eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Kläger als Schuldner der Kapitalertragsteuer wäre eine Hemmung der Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen, hier dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als fiktivem Entrichtungsschuldner. Ob die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen gehemmt war, ist bei der Anwendung von § 171 Abs. 15 AO inzident nach Maßgabe der Tatbestände des § 171 AO zu beurteilen.
Das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Einspruchs- und Klageverfahren hat im Streitfall die Verjährung gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 171 Abs. 3a AO gehemmt. Wird ein Steuerbescheid mit dem Einspruch oder der Klage angefochten, so läuft gemäß § 171 Abs. 3a AO die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO ist sachlich auf den im angefochtenen Bescheid festgesetzten Anspruch und persönlich auf die Person des Anfechtenden beschränkt (BFH-Urteil vom 06.06.2019 - IV R 34/16, BFH/NV 2019, 1078, Rz 40).
Das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 hat danach die Festsetzungsverjährung gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen nicht gehemmt. Der Haftungsbescheid vom 08.03.2012 ging ins Leere, da es im Streitfall an einem Haftungsanspruch fehlt. Der Senat hat bereits entschieden, dass eine Haftung im Streitfall nicht auf § 44 Abs. 6 Satz 5 EStG gestützt werden kann. Die Vorschrift sieht eine Haftung des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs als fiktivem Schuldner der Kapitalerträge für die Kapitalertragsteuer nur vor, soweit sie auf ‑‑hier nicht vorliegende‑‑ verdeckte Gewinnausschüttungen (vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b Satz 1 Halbsatz 1 Alternative 2 EStG) oder Veräußerungen im Sinne des § 22 Abs. 4 des Umwandlungssteuergesetzes in der in den Streitjahren anzuwendenden Fassung entfällt. Eine Haftung bei Nichterfüllung der Einbehaltungs- und Abführungspflicht, soweit die Kapitalertragsteuer wie im Streitfall auf laufende Gewinne eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs entfällt, ergibt sich daraus nicht und kann auch nicht auf eine andere Norm gestützt werden (BFH-Urteil vom 25.03.2021 - VIII R 1/18, BFHE 272, 469, BStBl II 2021, 655, Rz 19).
Das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Einspruchs- und Klageverfahren hätte danach allenfalls den Ablauf der Festsetzungsfrist für den in ihm festgesetzten (vermeintlichen) Haftungsanspruch hemmen können. Aus der Formulierung "gesamter Steueranspruch" in § 171 Abs. 3a Satz 2 AO ergibt sich nichts anderes. Hierdurch soll die Möglichkeit der Verböserung im außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren auf den gesamten Steueranspruch erstreckt und eine Teilverjährung ausgeschlossen werden (Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 171 AO Rz 60). Gesamter "Steueranspruch" war hier der vom FA im Haftungsbescheid festgesetzte vermeintliche Haftungsanspruch. Da ein solcher Anspruch jedoch von Anfang an nicht bestand und deshalb auch nicht verjähren konnte, hat das Einspruchs- und Klageverfahren keine Hemmungswirkung entfaltet. Nimmt das FA den Entrichtungsschuldner ausdrücklich durch Haftungsbescheid in Anspruch, macht es nur den Haftungsanspruch geltend und nicht zugleich auch den Entrichtungsanspruch.
d) Der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre war auch nicht nach § 171 Abs. 3a AO gehemmt. In Betracht kommt hier wiederum nur das gegen den Haftungsbescheid vom 08.03.2012 geführte Einspruchs- und Klageverfahren. Dieses hat jedoch auch nicht den Ablauf der Festsetzungsfrist für den Anspruch auf Kapitalertragsteuer, soweit er sich gegen den Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 EStG) richtet, gehemmt.
aa) Gegenstand des Nachforderungsbescheids vom 22.12.2020 war der Kapitalertragsteueranspruch, soweit er sich gegen den Steuerschuldner richtet, und damit ein anderer als der im Haftungsbescheid vom 08.03.2012 (vermeintlich) festgesetzte Anspruch.
bb) Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO greift auch deshalb nicht durch, weil unter Berücksichtigung der Fiktion des § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG auch bei der Anwendung von § 171 Abs. 3a AO davon auszugehen ist, dass der Gläubiger der Kapitalerträge und Schuldner der Kapitalertragsteuer (die Trägerkörperschaft) und der fiktive Entrichtungsschuldner (der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb) personenverschieden sind, und weil § 171 Abs. 3a AO eine personenübergreifende Hemmungswirkung nicht vorsieht. Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass auch der Haftungsbescheid vom 08.03.2012 gegen den Kläger in seiner Eigenschaft als Träger des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs gerichtet war und dass der Kläger in dieser Eigenschaft das Einspruchs- und Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid im eigenen Namen geführt hat. Dies ist allein dem Umstand geschuldet, dass die Trägerkörperschaft bezüglich der für den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb fiktiv angeordneten Entrichtungsschuld lediglich deswegen als Steuersubjekt anzusehen ist, weil dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb eine rechtliche Organisationsform fehlt, die nach den Vorschriften der Abgabenordnung handlungsfähig ist (BFH-Urteil vom 25.03.2021 - VIII R 1/18, BFHE 272, 469, BStBl II 2021, 655, Rz 20). Die Fiktion in § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG, die auch im steuerlichen Verfahrensrecht zu beachten ist, überschreibt und verdrängt die in der zu beurteilenden Situation ausnahmsweise gegebene Personenidentität und verlangt vom Rechtsanwender, fiktiv von einer Personenverschiedenheit auszugehen.
e) Der Eintritt der Festsetzungsverjährung ist auch nicht gemäß § 174 Abs. 4 AO unbeachtlich. Die Vorschrift gilt nur für Steuerbescheide, nicht für Haftungsbescheide (BFH-Urteil vom 21.09.2017 - VIII R 59/14, BFHE 259, 411, BStBl II 2018, 163, Rz 24).
f) Die Festsetzungsfrist für die Kapitalertragsteuer der Streitjahre war danach mit Ablauf des 31.12.2014 abgelaufen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.