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Beschluss vom 26. Februar 2025, VIII B 43/24

Bindung des Gerichts an das Klagebegehren

ECLI:DE:BFH:2025:B.260225.VIIIB43.24.0

BFH VIII. Senat

FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 96 Abs 1 S 2, AO § 152

vorgehend FG Münster, 25. April 2024, Az: 10 K 1278/23

Leitsätze

NV: Das Finanzgericht legt seiner Würdigung ein unzutreffendes Klagebegehren zugrunde und verletzt § 96 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung, wenn es auf der Grundlage eines in der mündlichen Verhandlung wörtlich gestellten Antrags über die Aufhebung der Festsetzung eines Verspätungszuschlags entscheidet, obwohl dieser Antrag dem Inhalt der Klageschrift widerspricht, in der eine Verpflichtung des Finanzamts zur Änderung der Festsetzung des Verspätungszuschlags begehrt wird, und im Zeitpunkt der Klageerhebung die Klagefrist für das Aufhebungsbegehren offensichtlich abgelaufen war, nicht aber für das Verpflichtungsbegehren.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 25.04.2024 - 10 K 1278/23 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Im Nachgang zu einem finanzgerichtlichen Verfahren der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wegen Einkommensteuer für 2016 (Streitjahr) erging am 13.12.2022 ein geänderter Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, in dem die Einkommensteuer um 366 € niedriger festgesetzt wurde. Der bisherige Verspätungszuschlag in Höhe von 200 € wurde in diesem Bescheid aufrechterhalten.

  2. Gegen die unveränderte Festsetzung des Verspätungszuschlags legten die Kläger Einspruch ein. Mit Einspruchsentscheidung vom 25.01.2023 wies der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) den Einspruch als unbegründet zurück.

  3. Mit Antrag vom 18.02.2023 beantragten die Kläger die Änderung des Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2016. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 07.03.2023 abgelehnt. Die Kläger legten am 08.04.2023 hiergegen Einspruch ein. Die abweisende Einspruchsentscheidung hierüber datiert vom 17.05.2023.

  4. Mit Schreiben vom 17.06.2023 erhoben die Kläger, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Klage zum Finanzgericht (FG). Als Klagegegenstand bezeichnete der Bevollmächtigte den "Bescheid vom 7.3.23 Einspruch vom 8.4.23 Einspruchsentscheidung vom 17.5.23". Weiterer Schriftverkehr zwischen dem FG und den Klägern, der den Klagegegenstand betrifft, ist der FG-Akte nicht zu entnehmen.

  5. Im Protokoll über die mündliche Verhandlung ist als Antrag der Kläger erfasst, den Bescheid über die Festsetzung des Verspätungszuschlags zur Einkommensteuer 2016 vom 13.12.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2023 aufzuheben.

  6. Mit Urteil vom 25.04.2024 hat das FG die Klage abgewiesen. Es führt im Tatbestand aus, die Kläger hätten gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags im Bescheid vom 13.12.2022 Einspruch eingelegt, über den mit Einspruchsentscheidung vom 25.01.2023 entschieden worden sei. Hiergegen hätten sich die Kläger mit der vorliegenden Klage gewendet. In den Entscheidungsgründen führt das FG aus, das FA habe in seiner Einspruchsentscheidung vom 25.01.2023 sein Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt, und führt unter Bezugnahme auf die dortigen Erwägungen weiter aus. Der Antrag auf Änderung des Verspätungszuschlags vom 18.02.2023 und das sich dem anschließende Verwaltungsverfahren finden im FG-Urteil weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen Erwähnung.

  7. Die Kläger rügen mit ihrer Beschwerde unter anderem einen Verfahrensfehler in Gestalt eines Verstoßes gegen die Grundordnung des Verfahrens.

Entscheidungsgründe

II.

  1. 1. Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen des Verstoßes gegen die Grundordnung des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO) vor, der zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt (§ 116 Abs. 6 FGO).

  2. a) Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht erhoben. Die Zustellung des FG-Urteils erfolgte an die Kläger am 18.05.2024. Die von den Klägern beim FG erhobene Beschwerde, die diese dort über das besondere elektronische Steuerberaterpostfach eingereicht haben, wurde vom FG am 28.05.2024 an den Bundesfinanzhof (BFH) weitergeleitet. Die einmonatige Beschwerdefrist (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO) ist damit gewahrt.

  3. b) Die Beschwerde ist auch begründet. Das FG hat im Streitfall das Klagebegehren fehlerhaft aufgefasst und beschieden. Hierin liegt ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).

  4. aa) Zur Grundordnung des Verfahrens gehört der Grundsatz der Bindung an das Klagebegehren, der für das finanzgerichtliche Verfahren in § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO zum Ausdruck kommt. Nach diesem Grundsatz darf das Gericht nicht über das Klagebegehren, das regelmäßig im Klageantrag seinen formgerechten Ausdruck findet, hinausgehen. Es darf dem Kläger nicht mehr oder etwas anderes zusprechen, als er begehrt (BFH-Urteil vom 13.12.1994 - VII R 18/93, BFH/NV 1995, 697, m.w.N.). Dabei darf das FG nicht über ein offenkundig nicht verfolgtes Rechtsschutzziel entscheiden, nicht über die Anträge hinausgehen, nicht hinter dem Klagebegehren zurückbleiben, nicht nur über einen Teil des Klagebegehrens entscheiden und auch nicht unklar tenorieren oder so entscheiden, dass das Urteil nicht in einem bestimmten Sinne zweifelsfrei ausgelegt werden kann. Dabei ist das Gericht nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO nicht an die Fassung des Klageantrags gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der Partei anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln. Das Wesen der Klage wird nicht durch den ‑‑formalen‑‑ Klageantrag bestimmt, sondern durch den begehrten richterlichen Ausspruch (BFH-Urteile vom 27.01.2011 - III R 65/09, BFH/NV 2011, 991; vom 31.01.2013 - III R 15/10, BFH/NV 2013, 1071, Rz 12).

  5. Liegt ein solcher Fehler vor, stellt dies einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar, der im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde auch ohne Rüge von Amts wegen zu berücksichtigen wäre (BFH-Beschlüsse vom 20.09.2022 - VIII B 103/21, BFH/NV 2022, 1282, Rz 4; vom 14.12.2021 - VIII B 50/21, BFH/NV 2022, 598, Rz 9 f., m.w.N.).

  6. bb) Das FG hat seiner Entscheidung ein Klagebegehren zugrunde gelegt, das mit dem tatsächlichen Begehren der Kläger nicht übereinstimmt. Es hat damit über etwas anderes entschieden, als die Kläger begehrt haben.

  7. aaa) Das FG hat das Klagebegehren der Kläger aufgrund des wörtlichen Antrags in der mündlichen Verhandlung dahingehend aufgefasst, dass sie ‑‑im streitgegenständlichen Verfahren‑‑ im Wege der Anfechtungsklage die Aufhebung des im Bescheid vom 13.12.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2023 festgesetzten Verspätungszuschlags begehren. Dieser Antrag konnte unter Einbeziehung der Klageschrift vom 17.06.2023 jedoch nicht gemeint sein. Für ein so verstandenes Begehren war zu diesem Zeitpunkt die Klagefrist abgelaufen. Die Kläger haben sich ausdrücklich auf einen "Bescheid vom 7.3.23, Einspruch vom 8.4.23" und eine "Einspruchsentscheidung vom 17.5.23" bezogen. Eine Auseinandersetzung des FG mit diesem in der Klageschrift vom 17.06.2023 bezeichneten ‑‑abweichenden‑‑ Streitgegenstand erfolgt im angefochtenen Urteil weder im Tatbestand oder den Entscheidungsgründen, noch ist sie den FG-Akten zu entnehmen. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass der Antrag vom 18.02.2023, den Bescheid über den Verspätungszuschlag zu ändern, und das sich anschließende Verwaltungsverfahren im angefochtenen Urteil keine Erwähnung finden.

  8. bbb) Das FG hat über den in der mündlichen Verhandlung wörtlich gestellten Antrag entschieden, der nicht dem tatsächlichen Klagebegehren entsprach. Die Kläger haben begehrt, das FA zu verpflichten, unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 07.03.2015 und der Einspruchsentscheidung vom 17.05.2023 den Antrag auf Änderung des Verspätungszuschlags vom 18.02.2023 positiv zu bescheiden. Dies ergibt sich aus dem klaren Wortlaut der Klageschrift vom 17.06.2023, aber auch aus den zeitlichen Abläufen. Nach Aktenlage wäre eine Klageerhebung gegen die Einspruchsentscheidung vom 25.01.2023 zu diesem Zeitpunkt verfristet gewesen. Die anderslautende Antragstellung in der mündlichen Verhandlung steht diesem Verständnis nicht entgegen, da weder aus der gesamten Akte noch aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung ersichtlich ist, dass die Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung vom 25.01.2023 das Ergebnis eines Rechtsgesprächs oder einer geänderten Auffassung der Beteiligten ist. Vielmehr beruhte diese wohl schlicht auf einem Irrtum.

  9. ccc) Die hierin liegende Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO stellt einen Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

  10. 2. Der Senat hält es für zweckmäßig, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).

  11. 3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.

  12. 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

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