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Urteil vom 06. November 2024, X K 1/24

Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer: Regelmäßig Vorrang der Geldentschädigung vor der Wiedergutmachung in anderer Weise

ECLI:DE:BFH:2024:U.061124.XK1.24.0

BFH X. Senat

GVG § 198 Abs 1, GVG § 198 Abs 2 S 1, GVG § 198 Abs 2 S 2, GVG § 198 Abs 2 S 3, GVG § 198 Abs 2 S 4, GVG § 198 Abs 3 S 1, GVG § 198 Abs 3 S 2, ZPO § 132, ZPO § 216 Abs 2, ZPO § 276, ZPO § 277 Abs 3, FGO § 155 S 1

Leitsätze

1. Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) besteht bei Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine "starke, aber widerlegbare" Vermutung dafür, dass die unangemessen lange Dauer eines Gerichtsverfahrens zu einem Nichtvermögensnachteil geführt hat.

2. Besteht ein solcher Nichtvermögensnachteil, ist die Zuerkennung einer Geldentschädigung ‑‑über den Wortlaut des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG hinaus‑‑ der Regelfall; eine Wiedergutmachung in anderer Weise, insbesondere durch die bloße Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer, stellt eine typischerweise in bestimmten Fallgruppen auftretende Ausnahme dar (Anschluss an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, zuletzt Urteil vom 26.10.2023 - B 10 ÜG 1/22 R, Neue Juristische Wochenschrift 2024, 1683, Rz 23).

3. Verzögerungsrügen (§ 198 Abs. 3 GVG) wirken im Regelfall nur gut sechs Monate zurück (Festhalten an der ständigen Rechtsprechung des Senats seit dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 06.04.2016 - X K 1/15, BFHE 253, 205, BStBl II 2016, 694, Rz 40 ff.).

4. Eine auf § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG gestützte Abweichung vom gesetzlichen Regelbetrag der Entschädigung (nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG grundsätzlich 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung) setzt das Vorliegen besonderer Umstände voraus.

5. Die in § 132, § 276, § 277 Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) den Parteien auferlegten Einreichungs-, Stellungnahme- und Erwiderungsfristen sowie die Pflicht des Gerichts, Termine zur mündlichen Verhandlung unverzüglich zu bestimmen (§ 216 Abs. 2 ZPO), gelten im finanzgerichtlichen Verfahren nicht.

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an jeden der Kläger für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 eine Entschädigung von 1.300 €, für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2849/20 eine Entschädigung von 600 € und für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2948/19 eine Entschädigung von 1.300 € zu zahlen, jeweils zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.04.2024.

Darüber hinaus wird festgestellt, dass die Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 in den Monaten September und Oktober 2021 unangemessen war.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger zu 78 % und der Beklagte zu 22 %.

Tatbestand

I.

  1. Die Kläger begehren gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Entschädigungen wegen der aus ihrer Sicht unangemessenen Dauer mehrerer Klageverfahren, die beim Finanzgericht (FG) Düsseldorf anhängig waren.

  2. 1. Bei vier der Ausgangsverfahren handelt es sich um Verpflichtungsklagen auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden. Die erste dieser Klagen erhoben die Kläger am 22.08.2019 (Aktenzeichen des FG: 12 K 2343/19). Darin beantragten sie die Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2010 bis 2017 (beide Kläger) und zur Umsatzsteuer 2010 bis 2017 (nur der Kläger, der als Rechtsanwalt tätig ist).

  3. Am 05.11.2020 erklärten die Kläger, die Klage auf bestimmte neue (in Kopie beigefügte) zwischenzeitlich ergangene Ablehnungsbescheide und Einspruchsentscheidungen erweitern zu wollen. Diese neuen Bescheide betrafen weitere Anträge auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2014 bis 2019 beziehungsweise 2015 bis 2018 sowie zur Umsatzsteuer 2014 bis 2019. Der beim FG zuständige Berichterstatter verfügte am 16.11.2020, dies als neues Verfahren wegen Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2010 bis 2019 und zur Umsatzsteuer 2010 bis 2019 einzutragen (so aufgenommen unter 12 K 2849/20). Der dortige Beklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) bat in der Klageerwiderung ausdrücklich darum, aus Gründen der Übersichtlichkeit die als Klageerweiterung bezeichneten Vorgänge als eigenständiges Verfahren zu führen, da bei ihm ständig neue Anträge auf Erteilung von Abrechnungen für teilweise dieselben Zeiträume eingingen.

  4. Mit dem Ablauf der letzten den Klägern gesetzten Stellungnahmefrist am 15.03.2021 endete der Schriftsatzaustausch im Verfahren 12 K 2343/19. Im Verfahren 12 K 2849/20 endete der Schriftsatzaustausch mit dem Ablauf der letzten den Klägern gesetzten Stellungnahmefrist am 20.03.2021.

  5. Am 20.01.2022 beantragte das FA im Verfahren 12 K 2343/19, eine noch anzuberaumende mündliche Verhandlung per Videokonferenz abzuhalten; dieses Schreiben leitete das FG nicht an die Kläger weiter. Am 02.05.2022 erhoben die Kläger in beiden Verfahren Verzögerungsrügen, die ebenfalls nicht an das FA weitergeleitet wurden.

  6. Mit Schriftsatz vom 07.06.2022 teilte das FA mit, es habe für die folgenden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis Abrechnungsbescheide erlassen; insoweit werde dem Begehren der Kläger abgeholfen:

    Einkommensteuer 2015 bis 2017, 4. Quartal 2017, 1. bis 4. Quartal 2018, 2. bis 4. Quartal 2019;

    Umsatzsteuer 2016 und 4. Quartal 2017.

  7. Die Aufforderung des FG zur Stellungnahme bis zum 10.07.2022 beantworteten die Kläger nicht. Der Berichterstatter des FG fragte am 05.08.2022 beim FA an, ob es die Verfahren 12 K 2343/19 und 12 K 2849/20 teilweise in der Hauptsache für erledigt erklären könne. Das FA gab am 17.08.2022 in beiden Verfahren entsprechende Erklärungen. Am 22.08.2022 richtete der Berichterstatter mit Frist zum 10.09.2022 eine Teilerledigungsanfrage an die Kläger, die nicht beantwortet wurde. Eine Erinnerung seitens des FG unterblieb.

  8. Am 26.09.2022 lehnten die Kläger den Berichterstatter des FG in allen Verfahren, in denen dieser tätig war, wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das FG wies den Ablehnungsantrag für sämtliche Verfahren am 04.11.2022 ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters zurück; dieser Beschluss wurde am 07.11.2022 an die Beteiligten der Ausgangsverfahren abgesandt.

  9. Mit Beschlüssen vom 12.06.2023 übertrug der Senat des FG die Rechtsstreite 12 K 2343/19 und 12 K 2849/20 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.

  10. Am 27.06.2023 lud der Einzelrichter für den 18.07.2023 in beiden Verfahren zu mündlichen Verhandlungen, die in Abwesenheit der Kläger durchgeführt wurden und mit dem Beschluss endeten, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde.

  11. Mit Beschluss vom 18.07.2023 trennte der Einzelrichter aus dem Verfahren 12 K 2343/19 das Verfahren wegen Einkommensteuer 2015 bis 2017 und Umsatzsteuer 2010 bis 2017 ab; es erhielt das neue Aktenzeichen 12 K 1462/23. Ebenfalls am 18.07.2023 trennte der Einzelrichter aus dem Verfahren 12 K 2849/20 das Verfahren wegen Einkommensteuer 2014 bis 2017 und Umsatzsteuer 2016 ab; es erhielt das neue Aktenzeichen 12 K 1465/23.

  12. Im Verfahren 12 K 2343/19 gab der Einzelrichter der Klage ‑‑die nach der Abtrennung noch das Begehren auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2010 bis 2014 umfasste‑‑ statt und verpflichtete das FA zum Erlass von Abrechnungsbescheiden. Dasselbe Ergebnis hatte das Verfahren 12 K 2849/20, das ausweislich des Rubrums nach der Abtrennung noch das Begehren auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2018 und 2019 sowie zur Umsatzsteuer 2014, 2015 sowie 2017 bis 2019 umfasste. Der Streitgegenstand dieses Verfahrens wurde dahin korrigiert, dass dieses Verfahren nur die Anträge auf Erlass von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer und zur Umsatzsteuer 2014 bis 2019 umfasste (nicht 2010 bis 2013).

  13. Im abgetrennten Verfahren 12 K 1462/23 erachtete der Einzelrichter die Klage auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2015 bis 2017 für unzulässig, weil das FA der Klage insoweit abgeholfen habe und damit kein Rechtsschutzinteresse mehr bestehe, die Kläger aber keine Erledigungserklärung abgegeben hätten. Die Klage auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Umsatzsteuer 2010 bis 2017 wurde als unbegründet zurückgewiesen, da die Kläger insoweit keinen Antrag beim FA gestellt hätten und die Einspruchsentscheidung, mit der der Einspruch als unzulässig verworfen wurde, daher rechtmäßig sei.

  14. Im abgetrennten Verfahren 12 K 1465/23 hielt der Einzelrichter die Klage auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden zur Einkommensteuer 2015 bis 2017 und zur Umsatzsteuer 2016 ebenfalls nach Abhilfe mangels Rechtsschutzinteresses und mangels Erledigungserklärung für unzulässig. Die Klage auf Erteilung eines Abrechnungsbescheids zur Einkommensteuer 2014 wurde als unbegründet zurückgewiesen, weil es, wie das FA zu Recht entschieden habe, wegen eines zum selben Streitgegenstand bereits anhängigen gerichtlichen Verfahrens am Rechtsschutzbedürfnis für einen erneuten Antrag fehle.

  15. Die vollständigen Urteile gingen am 18.09.2023 in der Geschäftsstelle des FG ein. Sie wurden den Klägern am 19.09.2023 zugestellt und wurden rechtskräftig.

  16. 2. In einem weiteren Ausgangsverfahren erhoben die Kläger am 28.10.2019 Anfechtungsklage gegen einen Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer und zum Solidaritätszuschlag 2001 (12 K 2948/19). Erst während des Klageverfahrens erging ‑‑am 04.11.2019‑‑ die Einspruchsentscheidung, mit der dem Begehren der Kläger teilweise abgeholfen wurde und die Zinsen herabgesetzt wurden.

  17. In diesem Verfahren übertrug das FG die Entscheidung des Rechtsstreits mit Beschluss vom 15.05.2020 auf den Berichterstatter als Einzelrichter. Der Einzelrichter lud am 19.05.2020 zum 09.07.2020 zur mündlichen Verhandlung. Daraufhin verzichteten die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung; der Termin wurde aufgehoben. Einen Schriftsatz des FA vom 17.06.2020 übermittelte das FG den Klägern zur Stellungnahme bis zum 17.08.2020 und erinnerte anschließend hieran mit Frist bis zum 10.10.2020. Eine Stellungnahme ging nicht ein.

  18. Am 02.05.2022 erhoben die Kläger Verzögerungsrüge. Am 08.06.2022 richtete der Einzelrichter eine kurze Anfrage an die Kläger, die nicht beantwortet wurde. Am 15.08.2022 richtete er dieselbe Anfrage an das FA, das am 16.08.2022 Stellung nahm.

  19. Am 29.08.2022 lud der Einzelrichter ‑‑obwohl die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hatten‑‑ für den 27.09.2022 zur mündlichen Verhandlung. Nach Eingang des Ablehnungsantrags vom 26.09.2022 wurde der Termin wieder aufgehoben. Der Ablehnungsantrag wurde vom Senat am 04.11.2022 zurückgewiesen.

  20. Am 27.06.2023 lud der Einzelrichter für den 18.07.2023 zur mündlichen Verhandlung. Er wies die Klage ab. Das vollständige Urteil wurde der Geschäftsstelle am 18.09.2023 übergeben und den Klägern am 19.09.2023 zugestellt. Es wurde nicht angefochten.

  21. 3. Mit ihrer am 17.03.2024 eingegangenen und am 04.04.2024 zugestellten Entschädigungsklage bringen die Kläger vor, der Arbeitsaufwand des FG sei äußerst gering gewesen. Es habe keine Amtsermittlungsmaßnahmen durchgeführt und sich in den ‑‑äußerst knapp begründeten‑‑ Urteilen allein auf formale Argumente gestützt.

  22. Das Gesetz lege den Verfahrensbeteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten für den Regelfall Bearbeitungsfristen von 14 Tagen auf (§ 276, § 277 Abs. 3 der Zivilprozessordnung ‑‑ZPO‑‑); in den Fällen des § 132 ZPO seien die Fristen noch kürzer. Über § 155 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gelte dies auch im finanzgerichtlichen Verfahren. Dieselben Anforderungen seien an die Gerichte zu stellen. Daher hätte in den Ausgangsverfahren jeweils innerhalb von vier Wochen nach Klageerhebung die mündliche Verhandlung stattfinden und das Urteil nach weiteren zwei Wochen zugestellt sein müssen. Die unangemessene Verfahrensdauer beginne damit sechs Wochen nach der Klageerhebung.

  23. Die Verfahren 12 K 2849/20, 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 seien aus dem Verfahren 12 K 2343/19 abgetrennt worden. Damit seien alle diese Verfahren selbständige Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG mit jeweils eigenem Entschädigungsanspruch und alle als am 22.08.2019 eingegangen zu behandeln. Die Verzögerung habe am 03.10.2019 begonnen; die gesamte Verfahrensdauer bis zur Zustellung der Urteile am 19.09.2023 sei unangemessen gewesen (insgesamt 1 441 Tage; dies entspreche bei 1.200 € Regelentschädigung pro Jahr einer Geldentschädigung von 4.737,58 € je Kläger). Entsprechendes gelte für das Verfahren 12 K 2948/19 (unangemessene Verfahrensdauer von 1 381 Tagen und 4.540,31 € Geldentschädigung je Kläger). Von der Summe dieser Einzelentschädigungsbeträge machen die Kläger im Wege der Teilklage einen erststelligen Teilbetrag von 15.000 € pro Kläger geltend.

  24. Die Kläger hatten im vorliegenden Verfahren ursprünglich noch für ein weiteres beim FG geführtes Ausgangsverfahren Entschädigung begehrt (12 K 476/21). Nachdem zwischen den Beteiligten unstreitig geworden ist, dass in diesem Ausgangsverfahren keine Verzögerungsrüge erhoben worden war, haben sie ihr Begehren insoweit nicht weiterverfolgt. Ihren Zahlungsantrag haben sie der Höhe nach nicht geändert, da es sich ohnehin um eine Teilklage gehandelt habe.

  25. Die Kläger beantragen sinngemäß,
    den Beklagten zu verurteilen, wegen der unangemessenen Dauer der vor dem FG Düsseldorf geführten Verfahren 12 K 2343/19, 12 K 2849/20, 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 eine Entschädigung von 4.737,58 € je Verfahren und Kläger sowie wegen der unangemessenen Dauer des vor dem FG Düsseldorf geführten Verfahrens 12 K 2948/19 eine Entschädigung von 4.540,31 € je Kläger, insgesamt jedoch begrenzt auf erststellige Teilbeträge von 15.000 € je Kläger zuzüglich Zinsen seit Rechtshängigkeit in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen.

  26. Der Beklagte beantragt,
    die Klage abzuweisen.

  27. Er ist der Ansicht, eine Geldentschädigung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil die Verzögerungsrügen zu früh erhoben worden seien. Die Besorgnis, dass die Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden könnten, habe im Mai 2022 noch nicht bestanden. Das gelte insbesondere für das erst etwa 18 Monate anhängige Verfahren 12 K 2849/20.

  28. Darüber hinaus sei die Bearbeitung der Verfahren nicht einfach gewesen. Sie seien Teil einer größeren Zahl von Klageverfahren der Kläger gewesen, deren Streitgegenstände sich teilweise überschnitten hätten. Deshalb sei der Verfahrensstoff sehr unübersichtlich gewesen. Das Gericht habe alle anhängigen Verfahren der Kläger in engem zeitlichen Zusammenhang zueinander entscheiden wollen. Insgesamt seien die Klageverfahren zwar überdurchschnittlich, aber nicht unangemessen lang gewesen. Die Kläger hätten durch das Stellen von Ablehnungsanträgen und die Nichtbeantwortung gerichtlicher Anfragen erheblich zur langen Verfahrensdauer beigetragen.

  29. Das Verfahren 12 K 2849/20 sei nicht aus dem Verfahren 12 K 2343/19 abgetrennt worden. Vielmehr sei der Schriftsatz der Kläger vom 05.11.2020 in vertretbarer Weise von Anfang an als neue Klage behandelt worden. Damit habe für diese Klage eine eigenständige Zwei-Jahres-Frist zu laufen begonnen. Die Verfahren 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 hingegen seien erst nach der mündlichen Verhandlung abgetrennt und bis zu ihrem rechtskräftigen Abschluss zu keinem Zeitpunkt verzögert worden.

  30. Die gesetzliche Vermutung eines Nichtvermögensnachteils sei im Streitfall widerlegt. Psychische oder physische Beeinträchtigungen durch die lange Verfahrensdauer seien weder von den Klägern dargelegt worden noch sonst ersichtlich. Es sei nicht erkennbar, dass die begehrten Abrechnungsbescheide für die Kläger, die in den Ausgangsverfahren keine substantiierten Einwendungen erhoben hätten, rechtlich erheblich gewesen wären. Hilfsweise wäre jedenfalls eine Wiedergutmachung auf andere Weise durch Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ausreichend. Weiter hilfsweise wäre ein geringerer Betrag als 100 € pro Monat zuzusprechen. Die Streitwerte seien niedrig und die Verfahren von geringer Bedeutung gewesen.

  31. Der ursprünglich für das Ausgangsverfahren 12 K 476/21 geltend gemachte Teilklageanspruch könne nicht nachträglich auf die anderen Verfahren verteilt werden. Es handele sich um verschiedene Streitgegenstände.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Klage ist teilweise begründet. Jedem der Kläger steht für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 eine Entschädigung von 1.300 €, für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2849/20 eine Entschädigung von 600 € und für die unangemessene Dauer des Verfahrens 12 K 2948/19 eine Entschädigung von 1.300 € zu (insgesamt 3.200 € je Kläger), jeweils zuzüglich Zinsen seit Rechtshängigkeit. Ferner ist festzustellen, dass die Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 in zwei weiteren Monaten unangemessen war. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

  2. Nach den Grundsätzen der ‑‑insoweit typisierenden‑‑ Senatsrechtsprechung (dazu unten 1.), von denen abzuweichen für den Streitfall weder die Einwendungen der Kläger (unten 2.) noch etwaige einzelfallbezogene Besonderheiten Anlass geben (unten 3.), beläuft sich der unangemessene Teil der Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 auf 15 Monate (unten 4.), des Verfahrens 12 K 2849/20 auf sechs Monate (unten 5.) und des Verfahrens 12 K 2948/19 auf 13 Monate (unten 6.). Die Dauer der Verfahren 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 war hingegen nicht unangemessen (unten 7.). Der Beklagte hat die gesetzliche Vermutung eines Nichtvermögensnachteils nicht widerlegt (unten 8.). Für die Kompensation des erlittenen Nachteils ist im Streitfall eine Wiedergutmachung auf andere Weise statt der Zuerkennung einer Geldentschädigung nicht ausreichend (unten 9.). Die Verzögerungsrügen waren wirksam und eröffnen in den Verfahren 12 K 2948/19 und 12 K 2849/20 die Geldentschädigung für alle Verzögerungsmonate, während in dem Verfahren 12 K 2343/19 für zwei der Verzögerungsmonate nur ein Feststellungsausspruch möglich ist (unten 10.). Entgegen der Auffassung des Beklagten bestehen im Streitfall keine Gründe, vom gesetzlichen Regelbetrag der Entschädigung nach unten abzuweichen (unten 11.). Ob der ursprüngliche Teilklageanspruch für das Ausgangsverfahren 12 K 476/21 nach Klageerhebung anderen Ausgangsverfahren zugeordnet werden kann, ist im Streitfall nicht erheblich (unten 12.). Soweit die Kläger einen Anspruch auf Geldentschädigung haben, besteht auch ein Anspruch auf Prozesszinsen (unten 13.).

  3. 1. Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

  4. a) Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K 13/12 (BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 48 ff.) Bezug genommen. Hiernach ist der Begriff der "Angemessenheit" für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Verfahrens einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen ‑‑wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter‑‑ Rechnung tragen. Daher darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng gezogen werden. Insbesondere ist die Dauer eines Gerichtsverfahrens nicht schon dann "unangemessen", wenn die Betrachtung eine Abweichung vom Optimum ergibt; vielmehr muss eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen feststellbar sein (Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 51 bis 53). Dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens ‑‑auch in zeitlicher Hinsicht‑‑ einzuräumen (zum Ganzen auch Senatsurteil vom 14.04.2021 - X K 3/20, BFH/NV 2021, 1507, Rz 26 f.).

  5. b) Für ein finanzgerichtliches Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, hat der Senat die Vermutung aufgestellt, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene ("dritte") Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt (ausführlich Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 62 ff., insbesondere Rz 69).

  6. 2. Die Einwendungen der Kläger bieten keinen Anlass, diese ‑‑für den typischen Fall geltende‑‑ Vermutungsregel aufzugeben.

  7. a) Im Gegensatz zur Auffassung der Kläger ist nicht jede über sechs Wochen hinausgehende Verfahrensdauer unangemessen.

  8. aa) Insoweit sind die Kläger der Auffassung, aus den ‑‑sich regelmäßig auf 14 Tage belaufenden‑‑ Erklärungs-, Stellungnahme- und Erwiderungsfristen, die den Parteien eines Zivilprozesses und ihren Prozessbevollmächtigten durch § 276, § 277 Abs. 3 ZPO auferlegt seien, folge, dass das Gericht die mündliche Verhandlung im Normalfall auf einen vier Wochen nach Klageeingang liegenden Termin ansetzen könne. Weitere zwei Wochen später müsse das Urteil abgefasst und zugestellt sein. Hieraus ergebe sich eine angemessene Verfahrensdauer von lediglich sechs Wochen; jede Verfahrensdauer, die darüber hinausgehe, sei als unangemessen anzusehen. Die genannten zivilprozessualen Vorschriften seien gemäß § 155 Satz 1 FGO auch im finanzgerichtlichen Verfahren anzuwenden.

  9. bb) Bereits die letztgenannte Prämisse geht fehl. Nach § 155 Satz 1 FGO sind Vorschriften der ZPO nur insoweit sinngemäß im finanzgerichtlichen Verfahren anzuwenden, als die FGO keine Bestimmungen über das Verfahren enthält und die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten die sinngemäße Anwendung nicht ausschließen. In Bezug auf die von den Klägern genannten Vorschriften der § 276, § 277 Abs. 3 ZPO enthält die FGO aber ‑‑in Gestalt des § 79b FGO‑‑ eine eigenständige Bestimmung. Abgesehen von der Notfrist des § 276 Abs. 1 Satz 1 ZPO, die sich auf die der FGO unbekannte Verteidigungsanzeige als solche bezieht und deren Verstreichen den Erlass des ebenfalls der FGO unbekannten Versäumnisurteils nach § 331 Abs. 3 ZPO eröffnet, besteht die Folge einer Überschreitung der in § 276, § 277 Abs. 3 ZPO genannten Fristen darin, dass das verspätete Vorbringen nur zugelassen werden darf, wenn nach der freien Überzeugung des Gerichts die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder wenn die Partei die Verspätung genügend entschuldigt (§ 296 Abs. 1 ZPO). Diese Rechtsfolge ist für das finanzgerichtliche Verfahren indes in § 79b Abs. 3 FGO geregelt. Das zeigt, dass die § 276, § 277 Abs. 3, § 296 ZPO durch § 79b FGO verdrängt werden.

  10. cc) Darüber hinaus enthält die FGO weder in § 79b FGO noch anderweit eine Vorgabe dahingehend, dass Stellungnahmefristen lediglich zwei Wochen betragen sollen. Die Kläger geben zudem den Inhalt des § 276 ZPO und des § 277 Abs. 3 ZPO nicht korrekt wieder. Eine zwingende Zwei-Wochen-Frist ist wiederum lediglich für die Notfrist des § 276 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorgesehen, die in der Finanzgerichtsordnung nicht existiert. Die darin liegende Wertung kann daher nicht auf den Finanzprozess übertragen werden. Sowohl in § 276 Abs. 1 Satz 2 ZPO als auch in § 277 Abs. 3 ZPO ist angeordnet, die Stellungnahmefrist müsse mindestens zwei (weitere) Wochen betragen. Je nach Fallgestaltung sind also auch deutlich längere Fristen möglich.

  11. dd) Die weitere von den Klägern angeführte Vorschrift des § 132 ZPO, wonach bestimmte vorbereitende Schriftsätze so rechtzeitig eingereicht werden müssen, dass sie mindestens eine Woche beziehungsweise drei Tage vor der mündlichen Verhandlung zugestellt werden können, bewirkt keine feste Bearbeitungsfrist für die Partei, die den Schriftsatz einreicht. Sie soll es dem Gericht und der anderen Partei ermöglichen, die mündliche Verhandlung vorzubereiten und so rechtliches Gehör gewähren (vgl. Urteil des Oberlandesgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 03.09.2015 - 1 U 10/15, juris, Rz 37; Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 132 Rz 1; Gerken in Wieczorek/Schütze, 5. Aufl., § 132 ZPO Rz 1) und enthält überdies auch nur Mindestzeitspannen. Reichen diese nicht aus, bleiben ein Schriftsatznachlass nach § 283 Satz 1 ZPO oder die Verlegung des Termins nach § 227 ZPO möglich.

  12. ee) Ebenso ist § 216 Abs. 2 ZPO, wonach Termine zur mündlichen Verhandlung "unverzüglich" zu bestimmen sind, im finanzgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar (Brandis in Tipke/Kruse, § 91 FGO Tz 1; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 91 FGO Rz 20; Wendl in Gosch, FGO § 91 Rz 12).

  13. ff) Im Übrigen gilt nach den vorstehend unter II.1.a dargelegten Grundsätzen, dass nicht jede Abweichung vom Optimum die Dauer eines (finanz)gerichtlichen Verfahrens unangemessen macht, sondern eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen feststellbar sein muss.

  14. b) Soweit die Kläger darüber hinaus auf statistische Durchschnittswerte für die Dauer arbeitsgerichtlicher Verfahren verweisen, ist dies für die Bestimmung der Angemessenheit der Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens ohne Bedeutung. Zudem hat der Senat bereits entschieden, dass statistische Durchschnittswerte für die Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines konkreten Verfahrens über eine Indizwirkung hinaus nur von sehr eingeschränkter Aussagekraft sind (Urteil vom 19.03.2014 - X K 3/13, BFH/NV 2014, 1053, Rz 29).

  15. 3. Die vorliegend in Rede stehenden Ausgangsverfahren weisen keine außergewöhnlichen Besonderheiten auf, die Anlass gäben, die dargestellte typisierende Regelvermutung zugunsten oder zulasten der Kläger nicht anzuwenden. Insbesondere vermittelt die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien im Streitfall kein einheitliches Bild.

  16. a) Entgegen der Auffassung des Beklagten war der Schwierigkeitsgrad der Verfahren gering.

  17. aa) Dies zeigt sich im Streitfall vor allem daran, dass das Gericht weder rechtliche Hinweise erteilt noch ‑‑abgesehen von der seitens des Klägers in Abrede gestellten Anforderung der Steuerakten und einer Anfrage an die Beteiligten im Verfahren 12 K 2948/19‑‑ Maßnahmen zur Sachaufklärung getroffen hat, die verfahrensabschließenden Urteile weitestgehend auf formelle Gesichtspunkte gestützt werden konnten und die tragenden ‑‑gleichwohl die Probleme der Verfahren abdeckenden‑‑ Entscheidungsgründe jeweils nur wenige Zeilen bis maximal eine Seite umfassen.

  18. bb) Der Senat folgt dem Beklagten nicht darin, dass der Schwierigkeitsgrad deshalb erhöht gewesen sei, weil der Verfahrensstoff sehr unübersichtlich gewesen wäre. Der Beklagte führt insoweit an, die Kläger hätten mehrere Klagen erhoben, deren Streitgegenstände sich teilweise überschnitten hätten. Zwar überschnitten sich in der Tat die Streitgegenstände der Verfahren 12 K 2343/19 und 12 K 2849/20 teilweise. Inwieweit dies aber zu einem erhöhten Schwierigkeitsgrad geführt haben soll, hat der Beklagte nicht darlegen können. Wird eine Klage mit einem Streitgegenstand erhoben, zu dem bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, ist sie wegen des Prozesshindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG unzulässig und nicht, wie das FG wohl meint, unbegründet. Sie ist jedoch grundsätzlich im Finanzprozess mit der zuvor anhängig gemachten Klage zu verbinden (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 08.06.2021 - II R 15/20, BFH/NV 2022, 34, Rz 14 f., m.w.N.). Das begründet keine hohe Schwierigkeit. Eine gewisses Maß an Unübersichtlichkeit und die Notwendigkeit, überhaupt erst festzustellen, welche Streitgegenstände und welche Bescheide Gegenstand welcher Verfahren sind und ob tatsächlich identische Streitgegenstände vorliegen, liegt noch im üblichen Schwierigkeitsbereich eines finanzgerichtlichen Verfahrens.

  19. cc) Darüber hinaus führt der Einzelrichter in seiner vom Beklagten übermittelten dienstlichen Stellungnahme an, die Kläger würden regelmäßig in pauschaler Form rügen, dass entweder erhebliche Überzahlungen eingetreten oder die vom FA erstellten Abrechnungsbescheide nicht nachvollziehbar seien. Auch daraus folgt jedoch kein besonderer Schwierigkeitsgrad der Verfahren. Im Gegenteil deutet es eher auf einen geringeren Schwierigkeitsgrad hin, wenn die Kläger regelmäßig gleichartige Klagen erheben, weil die rechtlichen ‑‑und häufig auch tatsächlichen‑‑ Gesichtspunkte dann zumeist nur einmal durchdacht werden müssen, aber auf eine Mehrzahl von Verfahren angewendet werden können.

  20. dd) Ohnehin wäre ein erhöhter Schwierigkeitsgrad der Verfahren erst in der dritten Phase des vom Senat typisierend zugrunde gelegten Drei-Phasen-Modells in der Weise zu berücksichtigen, dass die für Maßnahmen der Sachaufklärung oder für Überlegungen zur Rechtsfindung aufgewendete Zeit auch nach einer mehr als zweijährigen Laufzeit des Verfahrens als Teil der angemessenen Verfahrensdauer zu werten wäre. Demgegenüber könnte es nicht als angemessen erachtet werden, ein Verfahren, das als schwierig empfunden wird, über die vom Senat für den Regelfall angewendete Zwei-Jahres-Frist hinaus schlicht unbearbeitet zu lassen.

  21. b) Gegenläufig ist aber weder von den Klägern geltend gemacht worden noch sind sonstige Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Ausgangsverfahren für die Kläger von besonderer Bedeutung gewesen sein könnten. In den auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden gerichteten Ausgangsverfahren war offengeblieben, ob in einem späteren Verfahren gegen die Abrechnungsbescheide wegen etwaiger Buchungsfehler, die dem FA zu Lasten der Kläger unterlaufen sein könnten, mit tatsächlichen Auszahlungen an die Kläger zu rechnen sein könnte. Im Verfahren gegen den Zinsbescheid war der Streitwert mit ‑‑nach Ergehen der teilweise abhelfenden Einspruchsentscheidung‑‑ 2.311,50 € nicht besonders hoch.

  22. c) Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter ist vor allem im Rahmen der Betrachtung der konkreten Verfahrensgestaltung während der dritten Phase ‑‑nach Ablauf der ersten zwei Jahre der Dauer des jeweiligen Verfahrens‑‑ zu berücksichtigen.

  23. d) Einzelfallbezogene Gründe für eine besondere Eilbedürftigkeit haben die Kläger weder gegenüber dem Ausgangsgericht noch im vorliegenden Verfahren geltend gemacht.

  24. e) Soweit der Beklagte pauschal auf weitere von den Klägern eingeleitete Klageverfahren verweist, bleibt unklar, welche ‑‑einer Erledigung in angemessener Zeit entgegenstehenden‑‑ inhaltlichen Verbindungen sie mit den hier maßgeblichen Ausgangsverfahren aufweisen sollen. Sowohl aus der dienstlichen Stellungnahme des Einzelrichters als auch aus dem Beschluss vom 04.11.2022 betreffend den Ablehnungsantrag der Kläger ergibt sich, dass in den weiteren Verfahren zumindest überwiegend um Abrechnungsbescheide gestritten wurde. Ein sachlicher Zusammenhang mit den Streitgegenständen der hiesigen Ausgangsverfahren ist damit aber noch nicht belegt.

  25. Das in seiner dienstlichen Stellungnahme zum Ausdruck gekommene Bestreben des Einzelrichters, alle Verfahren der Kläger in einem zeitlichen Zusammenhang zu erledigen, führt im Ergebnis zu keiner anderen Beurteilung. Dieses Bestreben ist zwar dem Grunde nach berechtigt. Es kann deshalb sachgerecht sein, die abschließende Bearbeitung eines Verfahrens, das nach dem üblichen Arbeitsrhythmus des Gerichts zur Entscheidung anstünde, mit Rücksicht auf weitere Verfahren desselben Klägers zurückzustellen, um eine gleichzeitige Entscheidung zu ermöglichen.

  26. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. Es kann umgekehrt gerade sachgerecht sein, den Streitkomplex abzuschichten und Teile vorab zu entscheiden, um eine Konzentration auf das Wesentliche zu ermöglichen, und zwar insbesondere dann, wenn dies mit überwiegend formellen Erwägungen möglich ist. So verhielt es sich in den Ausgangsverfahren. Die auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden gerichteten Verpflichtungsbegehren sowie die Klage gegen die Aussetzungszinsen stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Anfechtungsklagen gegen tatsächlich erteilte Abrechnungsbescheide, so dass es das weitere Verfahren erheblich entlastet hätte, wenn hierüber bereits entschieden wäre. Vor diesem Hintergrund sieht der Senat keinen Anlass, im Streitfall von seiner Typisierung abzuweichen.

  27. 4. Nach diesen Grundsätzen beläuft sich der unangemessene Teil der Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 auf 15 Monate.

  28. a) Da diese Klage am 22.08.2019 erhoben wurde, wäre das FG verpflichtet gewesen, spätestens ab September 2021 mit Maßnahmen zu beginnen, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen hätten sollen.

  29. b) Für die Monate September bis Dezember 2021 lassen sich den Akten des Ausgangsverfahrens keine gerichtlichen Aktivitäten entnehmen. Damit ist die Verfahrensdauer in diesem Zeitraum als unangemessen anzusehen.

  30. c) Am 20.01.2022 beantragte das FA zwar, eine noch anzuberaumende mündliche Verhandlung im Wege der Videokonferenz abzuhalten. Das FG leitete dieses Schreiben jedoch nicht an die Kläger weiter. Mangels eigener Aktivität des Gerichts kann der bloße Eingang eines Schreibens, von dem nicht ersichtlich ist, dass es im Gericht bearbeitet worden sein könnte, nicht dazu führen, dass für diesen Monat von einer angemessenen Verfahrensdauer auszugehen wäre. Auch für die Monate Februar bis April 2022 gehen aus den Akten keine gerichtlichen Aktivitäten hervor.

  31. d) Im Mai 2022 erhoben die Kläger Verzögerungsrüge. Der Senat hat allerdings bereits entschieden, dass die bloße Entgegennahme der Verzögerungsrüge und ihre Weiterleitung an den anderen Beteiligten ‑‑die hier zudem unterblieben ist‑‑ nicht als gerichtliche Aktivität zu werten ist, sofern das Verfahren nicht im unmittelbaren Anschluss durchgehend gefördert wird (Senatsurteil vom 25.10.2016 - X K 3/15, BFH/NV 2017, 159, Rz 32 f.; ebenso zu einer formularmäßigen Standardantwort auf eine Sachstandsanfrage Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 2/20, BFHE 275, 533, BStBl II 2023, 38, Rz 38), was hier nicht der Fall war.

  32. e) Am 07.06.2022 übermittelte das FA dem FG einen Schriftsatz, in dem es erklärte, für einen Teil der Streitjahre Abrechnungsbescheide erteilt und dem Begehren der Kläger insoweit abgeholfen zu haben. Dieses Schreiben leitete das FG den Klägern mit der Bitte um Kenntnis- und Stellungnahme bis zum 10.07.2022 weiter, ebenso die am 15.06.2022 beim FG eingegangenen Abrechnungsbescheide. Der Monat Juni 2022 ist daher als Teil der angemessenen Verfahrensdauer anzusehen.

  33. Da die den Klägern gesetzte Stellungnahmefrist im Juli 2022 noch lief, hätte das FG bis zum Fristablauf noch nicht entscheiden können. Damit ist der Monat Juli 2022 ebenfalls als Teil der angemessenen Verfahrensdauer anzusehen, auch wenn das Gericht in diesem Monat keine Aktivität entfaltet hat. Am 05.08.2022 hat der Berichterstatter beim FA und am 22.08.2022 bei den Klägern angefragt, ob der Rechtsstreit im Hinblick auf die erlassenen Abrechnungsbescheide teilweise in der Hauptsache für erledigt erklärt werden kann. Am 26.09.2022 reichten die Kläger einen Ablehnungsantrag ein, der vom Vollsenat ‑‑in angemessener Zeit‑‑ am 04.11.2022 beschieden wurde.

  34. Damit ist die Verfahrensdauer in den Monaten Juni bis November 2022 durchgehend als angemessen anzusehen. Demgegenüber ist in den Monaten Dezember 2022 bis Mai 2023 keine gerichtliche Aktivität feststellbar.

  35. f) Ab Juni 2023 ist es zu keinen weiteren Verzögerungen mehr gekommen: Am 12.06.2023 hat der Senat des FG den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen. Dieser lud am 27.06.2023 zur mündlichen Verhandlung, die am 18.07.2023 durchgeführt wurde. Am 01.08.2023 ging der Urteilstenor und am 18.09.2023 das vollständige Urteil in der Geschäftsstelle des FG ein, das den Klägern am 19.09.2023 zugestellt wurde.

  36. g) Zusammenfassend ist die Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 in den Monaten September 2021 bis Mai 2022 sowie Dezember 2022 bis Mai 2023 als unangemessen anzusehen (insgesamt 15 Monate).

  37. 5. Im Verfahren 12 K 2849/20 beträgt der unangemessene Teil der Verfahrensdauer sechs Monate.

  38. a) Diese Klage wurde am 05.11.2020 erhoben. Die Kläger haben in jenem Schriftsatz zwar formuliert, sie wollten ihre bereits anhängige Klage 12 K 2343/19 erweitern. Die Verfügung des Berichterstatters, hier eine neue Klage eintragen zu lassen, war aber vertretbar, da es um weitere Ablehnungsbescheide und weitere Einspruchsentscheidungen ging, die mit den Streitgegenständen des bereits anhängigen Verfahrens nicht identisch waren. Damit wäre das FG in dem neuen Klageverfahren verpflichtet gewesen, spätestens ab Dezember 2022 mit Maßnahmen zu beginnen, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollten.

  39. b) Von Dezember 2022 bis Mai 2023 lassen die Akten des Ausgangsverfahrens ‑‑ebenso wie im Parallelverfahren 12 K 2343/19 (vgl. oben 4.f)‑‑ keine gerichtliche Aktivität erkennen. In Bezug auf diese sechs Monate ist die Verfahrensdauer daher als unangemessen anzusehen.

  40. c) Von Juni 2023 bis zur abschließenden Erledigung im September 2023 hat das Ausgangsgericht das Verfahren hingegen durchgehend gefördert (wegen der Einzelheiten vgl. oben 4.f zum parallel betriebenen Verfahren 12 K 2343/19).

  41. 6. Im Verfahren 12 K 2948/19 sind 13 Monate der Gesamtverfahrensdauer als unangemessen anzusehen.

  42. a) Diese Klage wurde am 28.10.2019 erhoben, so dass das FG spätestens im November 2021 verpflichtet gewesen wäre, mit Maßnahmen zu beginnen, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollten.

  43. b) Von November 2021 bis April 2022 lassen sich den Akten keine gerichtlichen Aktivitäten entnehmen. Auch die bloße Entgegennahme der am 02.05.2022 erhobenen Verzögerungsrüge bewirkt nicht, dass die Verfahrensdauer für den Monat Mai 2022 als angemessen anzusehen wäre (vgl. bereits oben 4.d).

  44. c) Im Juni 2022 hatte der Einzelrichter eine Aufklärungsverfügung an die Kläger gerichtet, die nicht beantwortet wurde. Am 15.08.2022 richtete der Einzelrichter dieselbe Anfrage an das FA, das am 16.08.2022 eine Antwort übermittelte. Ferner lud der Einzelrichter am 29.08.2022 zur mündlichen Verhandlung. Am 26.09.2022 stellten die Kläger auch in diesem Verfahren einen Ablehnungsantrag gegen den Einzelrichter, der vom Senat am 04.11.2022 zurückgewiesen wurde. Im Zeitraum von Juni bis November 2022 ist das Verfahren daher durchgehend gefördert worden.

  45. d) Demgegenüber sind von Dezember 2022 bis Mai 2023 keine gerichtlichen Aktivitäten erkennbar. Von Juni 2023 bis zur abschließenden Erledigung im September 2023 hat das Ausgangsgericht das Verfahren wiederum durchgehend gefördert (Ladung im Juni 2023, mündliche Verhandlung im Juli 2023, Urteilszustellung im September 2023).

  46. e) Damit ist die Dauer des Verfahrens 12 K 2948/19 in den Monaten November 2021 bis Mai 2022 sowie Dezember 2022 bis Mai 2023 als unangemessen anzusehen (insgesamt 13 Monate).

  47. 7. Die Dauer der Verfahren 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 war nicht unangemessen.

  48. Diese Verfahren wurden erst nach der ‑‑verfahrensabschließenden‑‑ mündlichen Verhandlung vom 18.07.2023 aus den Verfahren 12 K 2343/19 sowie 12 K 2849/20 abgetrennt. Im Zeitraum zwischen dem Ergehen des Abtrennungsbeschlusses und der Zustellung der Urteile sind die Verfahren nicht verzögert worden.

  49. Der Senat hat bereits entschieden, dass vor der Abtrennung nur ein einziges Verfahren im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG anhängig ist, hierfür nur ein einziger ‑‑einheitlicher‑‑ Entschädigungsanspruch entsteht und dieser sich in Fällen der objektiven Klagehäufung ‑‑im Gegensatz zur subjektiven Klagehäufung‑‑ nicht vervielfacht (Senatsurteil vom 27.06.2018 - X K 3-6/17, BFH/NV 2019, 27, Rz 101).

  50. Für die vor der Abtrennung eingetretenen Verzögerungen hinsichtlich der Streitgegenstände der später abgetrennten Verfahren 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 wird die Entschädigung im Rahmen der Ausgangsverfahren 12 K 2343/19 und 12 K 2849/20 gewährt, in denen die Streitgegenstände ursprünglich geführt worden sind (s. oben II.4. und 5.).

  51. 8. Soweit die Verfahrensdauer nach dem Vorstehenden als unangemessen anzusehen ist, hat der Beklagte die gesetzliche Vermutung eines Nichtvermögensnachteils nicht widerlegt.

  52. a) Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Der Senat hat unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien (BTDrucks 17/3802, S. 19) und die Rechtsprechung des EGMR (vgl. Urteil vom 29.03.2006 - 36813/97 - Scordino/Italien, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 2007, 1259, Rz 204) bereits entschieden, dass es sich um eine "starke, aber widerlegbare" Vermutung handelt und daher ein überlanges Gerichtsverfahren "in aller Regel" einen Nichtvermögensnachteil zur Folge hat (Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II 2022, 811, Rz 37). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ‑‑BSG‑‑ (vgl. Urteil vom 26.10.2023 - B 10 ÜG 1/22 R, NJW 2024, 1683, Rz 23, m.w.N.).

  53. Die gesetzliche Vermutung ist widerlegt, wenn sicher festgestellt wird, dass die unangemessene Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat, entweder weil kein Nachteil vorliegt oder weil kein Kausalzusammenhang zwischen der Verfahrensdauer und dem Nachteil gegeben ist. Hierzu bedarf es des vollen Beweises des Gegenteils (§ 292 ZPO i.V.m. § 155 Satz 1 FGO), also des Fehlens eines Nichtvermögensnachteils (zum Ganzen vgl. Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II 2022, 811, Rz 38, m.w.N.).

  54. b) Nach diesen Maßstäben ist das Vorbringen des Beklagten nicht geeignet, die gesetzliche Vermutung eines Nichtvermögensnachteils zu widerlegen.

  55. aa) Zum einen beruft der Beklagte sich auf das Senatsurteil vom 20.11.2013 - X K 2/12 (BFHE 243, 151, BStBl II 2014, 395). Dort hat der Senat sowohl eine Geldentschädigung als auch die Feststellung einer überlangen Verfahrensdauer versagt, weil erst die lange Verfahrensdauer dem dortigen Kläger die Möglichkeit verschafft hatte, von einer zwischenzeitlichen Rechtsprechungsänderung zu profitieren. Damit hatte die lange Verfahrensdauer dem dortigen Kläger "gewichtige Vorteile verschafft" (so ausdrücklich Senatsurteil vom 20.11.2013 - X K 2/12, BFHE 243, 151, BStBl II 2014, 395, Rz 29; Verfassungsbeschwerde durch BVerfG-Beschluss vom 28.09.2015 - 2 BvR 1738/14 nicht zur Entscheidung angenommen). In Bezug auf die vorliegend zu beurteilenden Ausgangsverfahren ist aber nicht erkennbar, dass die Kläger "gewichtige Vorteile" aufgrund der überlangen Verfahrensdauer erlangt hätten. Solche Vorteile werden auch vom Beklagten nicht benannt.

  56. bb) Soweit der Beklagte vorbringt, die Kläger hätten nicht dargelegt, durch die überlange Verfahrensdauer psychisch oder physisch beeinträchtigt worden zu sein, ist darauf hinzuweisen, dass solche Darlegungen angesichts der ‑‑unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR "starken, aber widerlegbaren"‑‑ gesetzlichen Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG nicht erforderlich sind (vgl. auch Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 2/20, BFHE 275, 533, BStBl II 2023, 38, Rz 48).

  57. cc) Darüber hinaus bringt der Beklagte vor, es sei nicht ersichtlich, dass die begehrten Abrechnungsbescheide für die Kläger, die keine substantiierten Einwendungen erhoben hätten, rechtlich erheblich gewesen seien. Abgesehen davon, dass es auf die Erfolgsaussichten des Ausgangsverfahrens für die Prüfung einer späteren Entschädigungsklage grundsätzlich nicht ankommt, geht dieses Vorbringen des Beklagten auch deshalb ins Leere, weil das Ausgangsgericht den von den Klägern erhobenen Verpflichtungsklagen auf Erteilung von Abrechnungsbescheiden ‑‑soweit ihnen keine formellen Gesichtspunkte entgegenstanden‑‑ stattgegeben hat.

  58. 9. Für die Kompensation des erlittenen Nachteils ist im Streitfall eine Wiedergutmachung auf andere Weise statt der Zuerkennung einer Geldentschädigung nicht ausreichend.

  59. a) Nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG kann für einen Nichtvermögensnachteil eine (Geld-)Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist.

  60. aa) Nach der Rechtsprechung des Senats begründet der Gesetzeswortlaut keinen Vorrang der Geldentschädigung vor einem Feststellungsausspruch, so dass vor der Zuerkennung einer Geldentschädigung jeweils konkret zu prüfen ist, ob die bloße Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer als Wiedergutmachung ausreichend ist. Dies kann nicht pauschal, sondern muss unter Abwägung aller Belange im Einzelfall entschieden werden (zum Ganzen Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II 2022, 811, Rz 42, m.w.N.).

  61. bb) In der Rechtspraxis hat sich gleichwohl gezeigt, dass die Zuerkennung einer Geldentschädigung die Regel, die Wiedergutmachung auf andere Weise eine typischerweise in bestimmten Fallgruppen (dazu noch unten c) auftretende Ausnahme ist.

  62. Die Rechtsprechung des BSG stimmt damit in ihren Ergebnissen überein, betont aber schon seit jeher ausdrücklich, dass die Kompensation eines Nichtvermögensschadens auf andere Weise als durch eine Geldentschädigung nur ausnahmsweise in Betracht komme (so bereits BSG-Urteil vom 21.02.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL, BSGE 113, 75, Rz 45, unter ausführlicher Analyse der Rechtsprechung des EGMR, der ebenfalls im Regelfall Geldentschädigungen zuerkenne und nur ausnahmsweise einen bloßen Feststellungsausspruch tätige; ferner z.B. BSG-Urteile vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 12/13 R, Die Sozialgerichtsbarkeit 2014, 627, Rz 59; vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 11/13 R, BSGE 118, 102, Rz 36 und vom 26.10.2023 - B 10 ÜG 1/22 R, NJW 2024, 1683, Rz 23). Dem schließt sich der Senat an, wobei ‑‑auch nach Auffassung des BSG‑‑ weiterhin eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls erforderlich ist (s. dazu unten c).

  63. b) In der Rechtsprechung des Senats und der Entschädigungsklagesenate der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes zu § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG haben sich im Wesentlichen drei ‑‑naturgemäß nicht abschließende‑‑ Fallgruppen herausgebildet, in denen eine Wiedergutmachung auf andere Weise als ausreichend angesehen wird (vgl. auch die Zusammenstellung der Rechtsprechung im Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II 2022, 811, Rz 43 f.).

  64. aa) Die häufigste Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass das Ausgangsverfahren für den Beteiligten objektiv keine besondere Bedeutung hatte. Hiervon ist der Senat beispielsweise in einem Fall ausgegangen, der dadurch gekennzeichnet war, dass die im Ausgangsverfahren erhobene Klage bereits unschlüssig ‑‑also schon auf der Grundlage des eigenen Tatsachenvortrags des Klägers erkennbar unbegründet‑‑ war (Senatsurteil vom 17.04.2013 - X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, Rz 62). Gleiches gilt, wenn sich die Klage gegen einen Bescheid richtet, der gar nicht an den Kläger adressiert ist und der Kläger bei Erlass des Bescheids noch nicht geboren war (BSG-Urteil vom 26.10.2023 - B 10 ÜG 1/22 R, NJW 2024, 1683, Rz 37 ff.). Das BVerfG hat einen bloßen Feststellungsausspruch wegen objektiv fehlender besonderer Bedeutung des Verfahrens in einem Fall als Wiedergutmachung ausreichen lassen, in dem ein Rechtsanwalt in eigener Sache ein Kostenfestsetzungsverfahren führte. Ein solches Verfahren sei für die Partei im Verhältnis zum Hauptsacheverfahren regelmäßig nur von untergeordneter Bedeutung. Materiell sei die Verfahrensdauer in gewisser Weise sogar günstig, da der Kostenerstattungsanspruch verzinst werde. Dem Grunde nach stehe der Kostenerstattungsanspruch durch die Kostengrundentscheidung bereits fest, und bei einem Rechtsanwalt, der die Wirkungszusammenhänge gerichtlicher Verfahren einschätzen könne, bestehe ein immaterieller Nachteil in weitaus geringerem Maße als bei einem Laien (BVerfG-Beschluss vom 11.12.2023 - 2 BvR 739/17 - Vz 5/23, NJW 2024, 1331, Rz 77).

  65. bb) Ferner wird eine Geldentschädigung versagt, wenn dem Beteiligten aufgrund der unangemessenen Verfahrensdauer andere Vorteile erwachsen sind, und zwar auch über diejenigen Fälle hinaus, in denen der Nichtvermögensnachteil gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG schon dem Grunde nach entfällt, weil eine Rechtsprechungsänderung zu einem "gewichtigen Vorteil" führt (vgl. oben 8.b aa).

  66. (1) Hier ist auf die gesetzliche Regelung des § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG hinzuweisen, wonach im Strafverfahren eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG auch darin liegt, dass das Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt. Gemeint ist damit die Kompensation im Wege des Vollstreckungsmodells (Beschluss des Bundesgerichtshofs ‑‑BGH‑‑ vom 28.05.2020 - 3 StR 99/19, Der Strafverteidiger 2020, 838, Rz 39; vgl. dazu BGH-Beschluss vom 17.01.2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124).

  67. (2) Anderweitige Vorteile, die eine Geldentschädigung ausschließen, sind ferner bejaht worden, wenn ein unangemessen lange dauerndes gerichtliches Disziplinarverfahren mit der Entfernung aus dem Dienst endet, der Betroffene aber aufgrund der Verzögerung noch Dienstbezüge vereinnahmen konnte, die ihm bei einer früheren Entscheidung nicht mehr zugeflossen wären (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.07.2018 - 2 WA 1.17 D, NJW 2019, 320, Rz 39). Auch der ‑‑bereits vorstehend unter aa zitierte‑‑ BVerfG-Beschluss vom 11.12.2023 - 2 BvR 739/17 - Vz 5/23 (NJW 2024, 1331) gehört insoweit in diese Fallgruppe, als er Überlegungen zu der Verzinsung des Kostenerstattungsanspruchs anstellt.

  68. cc) In einer dritten Fallgruppe bestehen Besonderheiten, die im eigenen Verhalten des Beteiligten liegen, aber nicht schon dazu führen, dass aufgrund seines eigenen Verhaltens bereits gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG die Unangemessenheit der Verfahrensdauer als solche zu verneinen wäre. Ein derartiges Verhalten, das eine Wiedergutmachung auf andere Weise als ausreichend erscheinen lässt, ist in der bisherigen Rechtsprechung beispielsweise angenommen worden, wenn der Beteiligte einem ‑‑in der Sache gebotenen‑‑ Ruhen des Verfahrens nicht zustimmt (Senatsurteile vom 04.06.2014 - X K 12/13, BFHE 246, 136, BStBl II 2014, 933, Rz 38 und vom 02.12.2015 - X K 4/14, BFH/NV 2016, 758, Rz 43).

  69. dd) Darüber hinaus hat der Senat bereits entschieden, dass die weitere in den Gesetzesmaterialien für ein Ausreichen der Wiedergutmachung auf andere Weise genannte Fallgruppe, wonach der Verfahrensbeteiligte neben der Überlänge des Verfahrens keinen weitergehenden immateriellen Nachteil erlitten habe, im finanzgerichtlichen Verfahren grundsätzlich keine Relevanz habe (ausführlich Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II 2022, 811, Rz 47).

  70. c) Ungeachtet dieser Typisierung hält der Senat jedoch mit dem BSG weiterhin eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls für erforderlich. Die beschriebenen Fallgruppen begründen keine Vermutungswirkung (wie bei § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG); jedoch kommt den tatsächlichen Umständen, die ihnen zugrunde liegen, eine indizielle Bedeutung zu. Die Fallgruppen sind auch nicht abschließend. Es bleibt erforderlich, eine Abwägung aller Belange im Einzelfall vorzunehmen (s. oben II.9.a aa).

  71. In diese Abwägung ist regelmäßig einzustellen, ob das Ausgangsverfahren für den Entschädigungskläger eine besondere Bedeutung hatte. Darüber hinaus kann aber auch bedeutsam sein, ob der Entschädigungskläger durch sein Prozessverhalten erheblich zur Verzögerung des Ausgangsverfahrens beigetragen hat, ob er weitergehende immaterielle Schäden erlitten hat oder ob die Überlänge den einzigen Nachteil darstellt. Schließlich kann im Rahmen des Abwägungsvorgangs vom Entschädigungsgericht zu berücksichtigen sein, von welchem Ausmaß die Unangemessenheit der Dauer des Verfahrens ist und ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese zwischenzeitlich entfallen war oder ob sich das Ausgangsgericht in besonderem Maße unkooperativ oder uneinsichtig verhalten hat (vgl. BSG-Beschluss vom 11.11.2019 - B 10 ÜG 1/19 B, juris, Rz 8, m.w.N. aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung).

  72. d) Vorliegend ist keine dieser Fallgruppen gegeben, in denen eine Wiedergutmachung auf andere Weise als ausreichend angesehen wird. Sonstige Besonderheiten vermag der Senat in der Konstellation des Streitfalls nicht zu erkennen. Weder kann festgestellt werden, dass die Ausgangsverfahren für die Kläger objektiv keine besondere Bedeutung hatten (vgl. dazu bereits oben 3.b) noch sind den Klägern gerade durch die Verzögerung der Ausgangsverfahren andere Vorteile erwachsen noch bestehen Besonderheiten, die im eigenen Verhalten der Kläger während der Ausgangsverfahren liegen. Der vom Beklagten hervorgehobene Gesichtspunkt, dass die Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil dargestellt haben mag, spielt im finanzgerichtlichen Verfahren ‑‑wie vorstehend unter b dd dargelegt‑‑ keine Rolle.

  73. Der Senat versteht die Erwägung im BVerfG-Beschluss vom 11.12.2023 - 2 BvR 739/17 - Vz 5/23 (NJW 2024, 1331, Rz 77; ebenso das vom Beklagten angeführte Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 21.02.2018 - 23 EK 5/17, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2018, 634, Rz 25), bei einem Rechtsanwalt bestehe ein immaterieller Nachteil in weitaus geringerem Maße als bei einem Laien, dahingehend, dass dieses Kriterium nicht schon für sich genommen zum Ausschluss einer Geldentschädigung führt, sondern nur im Zusammenwirken mit anderen ‑‑im dortigen Verfahren gegebenen‑‑ Besonderheiten des Einzelfalls. Der Umstand, dass der Kläger ‑‑nicht aber die Klägerin‑‑ als Rechtsanwalt tätig ist, steht daher der Zuerkennung einer Geldentschädigung nicht entgegen.

  74. Auch ist die Verzögerung der Ausgangsverfahren mit 16, 13 beziehungsweise sechs Monaten nicht unerheblich.

  75. 10. Die für die Gewährung einer Geldentschädigung nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG erforderlichen Verzögerungsrügen waren in allen drei Verfahren wirksam. Im Verfahren 12 K 2343/19 ermöglicht die ‑‑insoweit erst längere Zeit nach Eintritt der Verzögerung erhobene‑‑ Verzögerungsrüge nur eine Geldentschädigung für 13 der 15 Verzögerungsmonate; für die beiden weiteren Monate ist lediglich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festzustellen (unten a). Demgegenüber haben die Kläger die Verzögerungsrügen in den Verfahren 12 K 2948/19 (dazu unten b) und 12 K 2849/20 (unten c) in zeitlicher Hinsicht dergestalt erhoben, dass ihnen für den gesamten Zeitraum der Verzögerung dieser Verfahren eine Geldentschädigung zuzuerkennen ist.

  76. a) Die Klage 12 K 2343/19 war seit dem 22.08.2019 anhängig; die Verfahrensdauer war seit September 2021 als unangemessen anzusehen (vgl. oben 4.a). Die Verzögerungsrüge vom 02.05.2022 wurde hier erst acht Monate nach dem Beginn der Verzögerung erhoben. Die Besorgnis unangemessener Verfahrensdauer, wie § 198 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 GVG sie verlangt, besteht (erst recht), wenn die Verzögerung nicht nur zu befürchten war, sondern sich längst realisiert hatte.

  77. aa) Verzögerungsrügen wirken nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats im Regelfall gut sechs Monate zurück (mit ausführlicher Begründung Senatsurteil vom 06.04.2016 - X K 1/15, BFHE 253, 205, BStBl II 2016, 694, Rz 40 ff.; ferner Senatsurteile vom 25.10.2016 - X K 3/15, BFH/NV 2017, 159, Rz 39; vom 12.07.2017 - X K 3-7/16, BFHE 259, 393, BStBl II 2018, 103, Rz 53 und vom 23.03.2022 - X K 6/20, BFHE 276, 308, BStBl II 2022, 811, Rz 35). Eine Ausnahme von diesem Regelfall hat der Senat beispielsweise angenommen, wenn das Gericht dem Entschädigungskläger auf eine frühere ‑‑zu früh erhobene und daher unwirksame‑‑ Verzögerungsrüge einen voraussichtlichen Bearbeitungszeitraum nennt, diesen dann aber nicht einhält (Senatsurteil vom 29.11.2017 - X K 1/16, BFHE 259, 499, BStBl II 2018, 132, Rz 44). Gleiches gilt, wenn der andere Beteiligte eine Sachstandsanfrage gestellt hat und davon auszugehen ist, dass beide Beteiligte das weitere Verhalten des Gerichts zunächst abwarten wollten (Senatsurteil vom 23.03.2022 - X K 2/20, BFHE 275, 533, BStBl II 2023, 38, Rz 47).

  78. bb) Das BSG und der BGH sind dieser Rechtsprechung zwar nicht gefolgt, sehen aber im Hinblick auf die im sozialgerichtlichen Verfahren andersgeartete typisierende Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer (BSG-Urteil vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 3/16 R, Sozialrecht 4-1720 § 198 Nr. 14, Rz 22) beziehungsweise wegen des Fehlens jeglicher Typisierungsmöglichkeit im Zivilprozess (BGH-Urteil vom 26.11.2020 - III ZR 61/20, BGHZ 227, 377, Rz 23 ff.) keine Divergenz im Sinne des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes.

  79. cc) Vorliegend sind keine besonderen Gründe dafür ersichtlich, ausnahmsweise eine Rückwirkung der Verzögerungsrüge über sechs Monate hinaus zuzulassen. Sie wirkt daher nur bis einschließlich November 2021 zurück.

  80. Für die Monate September und Oktober 2021, in denen das Ausgangsverfahren 12 K 2343/19 ebenfalls unangemessen verzögert war, kann hingegen keine Geldentschädigung gewährt werden. Für diese Monate ist allerdings gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG festzustellen, dass die Dauer des Verfahrens 12 K 2343/19 unangemessen war. Eine solche Feststellung setzt keinen Antrag voraus (§ 198 Abs. 4 Satz 2 GVG). Demzufolge kann eine unangemessene Verfahrensdauer auch dann festgestellt werden, wenn der Entschädigungskläger lediglich eine Geldentschädigung beantragt hatte, es aber an einer hierfür erforderlichen Voraussetzung fehlte (vgl. Senatsurteil vom 17.04.2013 - X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, Rz 14 [Klageantrag], 72 [Begründung für den Feststellungsausspruch]). Dass eine Verzögerungsrüge nicht Voraussetzung für den Feststellungsausspruch ist, folgt aus § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 GVG.

  81. b) Die Klage 12 K 2948/19 wurde am 28.10.2019 erhoben; der erste Monat, für den die Verfahrensdauer als unangemessen anzusehen ist, ist der November 2021 (s. oben 6.a). Die Kläger übermittelten ihre Verzögerungsrüge am 02.05.2022. Da Verzögerungsrügen nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats im Regelfall gut sechs Monate zurückwirken (s. oben a aa), ist der Monat November 2021 von der Verzögerungsrüge umfasst.

  82. Den Einwand des Beklagten, die Verzögerungsrüge sei zu früh erhoben worden, teilt der Senat nicht. Die Verzögerung bestand tatsächlich bereits seit November 2021, während das letzte als Verfahrensförderung zu begreifende Ereignis der Ablauf der Stellungnahmefrist zum 10.10.2020 war, noch ein Jahr früher.

  83. c) Die Klage 12 K 2849/20 war seit dem 05.11.2020 anhängig; die unangemessene Verfahrensdauer begann im Dezember 2022 (s. oben 5.a). Die Verzögerungsrüge wurde am 02.05.2022, etwa 18 Monate nach Einleitung des Verfahrens, erhoben, bevor die Verfahrensdauer tatsächlich bereits unangemessen war.

  84. aa) Dies ist zwar relativ früh, da bis zum objektiven Beginn der Verzögerung ‑‑bei Anwendung der typisierenden Betrachtung des Senats‑‑ noch ein Zeitraum von gut sechs Monaten verblieb. Demzufolge hat der Senat Verzögerungsrügen als unwirksam angesehen, die 13 Monate (Urteil vom 16.11.2022 - X K 1, 2/21, BFH/NV 2023, 720, Rz 29 f., m.w.N.) oder 14 Monate (Senatsurteile vom 26.10.2016 - X K 2/15, BFHE 255, 407, BStBl II 2017, 350, Rz 45 ff. und vom 29.11.2017 - X K 1/16, BFHE 259, 499, BStBl II 2018, 132, Rz 40 f.) nach Eingang der Klage erhoben worden waren.

  85. bb) Vorliegend ist allerdings die Besonderheit zu beachten, dass das Ausgangsverfahren 12 K 2849/20 ‑‑insbesondere aufgrund der teilweisen Identität der Streitgegenstände‑‑ in engem sachlichen Zusammenhang mit dem schon seit dem 22.08.2019 anhängigen Ausgangsverfahren 12 K 2343/19 stand, das bereits seit September 2021 als verzögert anzusehen war. In einem solchen Fall des Zusammenhangs mit einem Parallelverfahren lässt der Senat auch eine mehrmonatige Vorwirkung der Verzögerungsrüge zu (Urteil vom 08.10.2019 - X K 1/19, BFH/NV 2020, 98, Rz 62 f.: vier Monate). Denn maßgeblich ist, wann der Beteiligte erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt (Senatsurteil vom 26.10.2016 - X K 2/15, BFHE 255, 407, BStBl II 2017, 350, Rz 47, m.w.N.). Solche Anhaltspunkte können sich nicht nur aus dem betroffenen Ausgangsverfahren selbst ‑‑in dem die letzte gerichtliche Aktivität im Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge nahezu 15 Monate zurücklag‑‑, sondern auch aus einem Parallelverfahren ergeben, das hier bereits erheblich verzögert war. Angesichts des hier gegebenen besonders engen Zusammenhangs zwischen den beiden Verfahren ist im Streitfall auch eine Vorwirkung von sechs Monaten noch als zulässig anzusehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verzögerungsrüge nicht allein dazu dient, dem Beteiligten später einen Anspruch auf Geldentschädigung zu ermöglichen, sondern vor allem eine präventive Funktion hat, die aber nur dann in vollem Umfang zur Geltung kommen kann, wenn die Rüge dem Ausgangsgericht als Anstoß dient, das Verfahren zu einem Zeitpunkt zu fördern, in dem die Verfahrensdauer noch als angemessen anzusehen ist (vgl. auch hierzu bereits Senatsurteil vom 08.10.2019 - X K 1/19, BFH/NV 2020, 98, Rz 62).

  86. 11. Entgegen der Auffassung des Beklagten bestehen im Streitfall keine Gründe, vom gesetzlichen Regelbetrag der Entschädigung nach unten abzuweichen.

  87. a) Die Geldentschädigung beträgt grundsätzlich 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG), wobei dieser Betrag zeitanteilig nach Monaten bemessen werden kann (Senatsurteil vom 20.08.2014 - X K 9/13, BFHE 247, 1, BStBl II 2015, 33, Rz 38; BSG-Urteil vom 12.02.2015 - B 10 ÜG 1/13 R, BSGE 118, 91, Rz 23, m.w.N.). Ist der genannte Betrag nach den Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG).

  88. b) Der erkennende Senat hat in seiner bisherigen Rechtsprechung von der Billigkeitsregelung des § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG noch keinen Gebrauch gemacht und auch noch keine abstrakten Maßstäbe hierzu entwickelt. Nach der Rechtsprechung des BGH ist das Entschädigungsgericht im Hinblick auf den Vereinfachungszweck der Pauschalierung nur beim Vorliegen besonderer Umstände gehalten, aus Billigkeitsgründen von dem normierten Pauschalsatz abzuweichen (BGH-Urteil vom 14.11.2013 - III ZR 376/12, BGHZ 199, 87, Rz 46), etwa durch Erhöhung des Betrags wegen der besonderen Bedeutung eines Pilotverfahrens bei gleichzeitigem Fortfall der Entschädigung für die Folgeverfahren (BGH-Urteile vom 15.12.2022 - III ZR 192/21, BGHZ 236, 10 und vom 09.03.2023 - III ZR 80/22, BGHZ 236, 246) oder aufgrund schwerwiegender Beeinträchtigungen aufgrund der Verzögerung (BGH-Urteil vom 06.05.2021 - III ZR 72/20, BGHZ 230, 14).

  89. c) Solche besonderen Umstände sind vorliegend nicht ersichtlich. Der Beklagte beruft sich zwar darauf, dass die Streitwerte gering und die Ausgangsverfahren von geringer Bedeutung gewesen seien. Es kann dahinstehen, welche Bedeutung dem Streitwert zukommen kann (vgl. dazu Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 12.02.2020 - L 12 SF 39/17 EK AS: Minderung bei Streitwert von knapp unter 11 €; Prozesskostenhilfe für die Nichtzulassungsbeschwerde versagt durch BSG-Beschluss vom 14.10.2020 - B 10 ÜG 3/20 B). Mit diesem Vorbringen kann jedenfalls im Streitfall keine auf Billigkeitsgründe gestützte Abweichung vom gesetzlichen Regelbetrag der Entschädigung begründet werden.

  90. In den vier Ausgangsverfahren, die auf die Erteilung von Abrechnungsbescheiden gerichtet waren, hat das FG jeweils den Auffangstreitwert von 5.000 € angesetzt. In dem weiteren Ausgangsverfahren wegen der Festsetzung von Aussetzungszinsen betrug der Streitwert anfänglich 4.243 € und nach einer Teilabhilfe durch das FA noch 2.311 €. Diese Beträge sind nicht derart geringfügig, dass der gesetzliche Regelbetrag der Entschädigung als unbillig anzusehen wäre.

  91. Mit der Auffassung des Beklagten, die Ausgangsverfahren seien von geringer Bedeutung gewesen, hat der Senat sich bereits auseinandergesetzt (vgl. oben 3.b) und dies nicht für durchgreifend erachtet. Der Senat hat zwar keine besonders hohe Bedeutung der Ausgangsverfahren feststellen können; eine außergewöhnliche geringe Bedeutung der Verfahren, die erst Anlass sein könnte, der Annahme von Unbilligkeit näherzutreten, ist aber ebenfalls nicht feststellbar.

  92. d) Bei Ausgangsverfahren, die ‑‑wie hier‑‑ durch Eheleute geführt werden, steht der Entschädigungsanspruch jedem Ehegatten gesondert zu (Senatsurteil vom 04.06.2014 - X K 12/13, BFHE 246, 136, BStBl II 2014, 933, Rz 47).

  93. 12. Da die zuerkannten Geldentschädigungen sich noch im Rahmen der ursprünglich zu den einzelnen Streitgegenständen eingeklagten Teilbeträge halten, muss der Senat nicht entscheiden, ob der nicht mehr aufrechterhaltene Teilklageanspruch für das Ausgangsverfahren 12 K 476/21 nachträglich auf andere Streitgegenstände hätte verteilt werden können.

  94. a) Ursprünglich hatten die Kläger die folgenden Entschädigungsbeträge geltend gemacht:

    Für die Verfahren 12 K 2343/19, 12 K 2849/20, 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 pro Kläger jeweils 4.737,58 €,

    für das Verfahren 12 K 2948/19 pro Kläger 4.540,31 €,

    für das Verfahren 12 K 476/21 pro Kläger 2.926,05 €.

  95. Daraus ergab sich ein Gesamtbetrag von 26.416,68 € für jeden der Kläger, von dem sie jedoch nur einen erststelligen Teilbetrag von 15.000 € eingeklagt haben, ohne diesen Teilbetrag auf die einzelnen Streitgegenstände zu verteilen.

  96. b) Später haben die Kläger erklärt, für das Verfahren 12 K 476/21 keinen Entschädigungsanspruch mehr zu begehren, wodurch sich die Gesamtsumme der von ihnen ermittelten Entschädigungsansprüche auf 23.490,63 € minderte. An der auf einen Betrag von insgesamt 15.000 € gerichteten Teilklage hielten sie jedoch fest.

  97. c) Auch wenn man mit dem Beklagten den ursprünglich geltend gemachten Gesamtbetrag von 26.416,68 € im Verhältnis der genannten Einzelbeträge auf den eingeklagten Teilbetrag von 15.000 € verteilen und eine nachträgliche Übertragung des sich daraus ergebenden Teilklageanspruchs für das Ausgangsverfahren 12 K 476/21 auf die anderen Verfahren ablehnen würde, ergäbe sich keine Begrenzung der vom Senat zugesprochenen Geldentschädigungen.

  98. Wenn man davon ausgeht, dass die Kläger von den ermittelten Einzelbeträgen ursprünglich jeweils einen erststelligen Teilbetrag eingeklagt haben, der sich auf die Quote 15.000 € zu 26.416,68 € (56,78 %) beschränkt, ergäben sich die folgenden erststelligen Teilbeträge:

    Für die Verfahren 12 K 2343/19, 12 K 2849/20, 12 K 1462/23 und 12 K 1465/23 pro Kläger jeweils 2.690,00 €,

    für das Verfahren 12 K 2948/19 pro Kläger 2.577,99 €.

  99. Die vom Senat zugesprochenen Entschädigungsbeträge von 1.300 € (12 K 2343/19), 600 € (12 K 2849/20) und 1.300 € (12 K 2948/19) liegen deutlich unterhalb der so ermittelten eingeklagten erststelligen Teilbeträge.

  100. 13. Soweit die Kläger einen Anspruch auf Geldentschädigung haben, besteht auch ein Anspruch auf Prozesszinsen (vgl. Senatsurteil vom 19.03.2014 - X K 8/13, BFHE 244, 521, BStBl II 2014, 584, Rz 39 ff.). Dem Grunde nach folgt der Zinsanspruch aus § 291 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Der Zinslauf beginnt mit dem Eintritt der Rechtshängigkeit, die erst mit der Zustellung der Entschädigungsklage an den Beklagten eintritt (§ 66 Satz 2 FGO), so dass der Zinslauf an dem auf die Zustellung folgenden Tag (§ 187 Abs. 1 BGB) ‑‑vorliegend am 05.04.2024‑‑ beginnt. Der Höhe nach beträgt der Zinssatz fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz (§ 291 Satz 2 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB).

  101. 14. Soweit der Senat zwar keine Geldentschädigung zusprechen konnte, aber die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festgestellt hat, beruht die Kostenentscheidung auf § 201 Abs. 4 GVG. Der Senat hat den dortigen Maßstab des billigen Ermessens dahingehend konkretisiert, dass in einem solchen Fall der Beklagte 75 % der hierauf entfallenden Verfahrenskosten zu tragen hat (Senatsurteil vom 17.04.2013 - X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, Rz 74 ff.). Im Übrigen beruht die Kostenentscheidung auf § 136 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 155 Satz 2 FGO.

  102. 15. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).

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