ECLI:DE:BFH:2024:B.211124.VIB18.24.0
BFH VI. Senat
FGO § 96 Abs 1 S 1 Halbs 1, FGO § 110, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3
vorgehend FG Hamburg, 12. Februar 2024, Az: 5 K 131/20
Leitsätze
1. NV: Übereinstimmende Erklärungen der Beteiligten zur Erledigung der Hauptsache beenden den Rechtsstreit in gleicher Weise wie ein Urteil, ohne allerdings materielle Rechtskraft zu entfalten.
2. NV: Durch übereinstimmende Erledigungserklärungen in einem Rechtsstreit, der vom Kläger nur zur Verhinderung des Eintritts der Bestandskraft eines Steuerbescheids geführt wurde, wird die Steuerfestsetzung nicht bestandskräftig.
Tenor
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 12.02.2024 - 5 K 131/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist bei erheblichen Zweifeln gegen ihre Zulässigkeit jedenfalls unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Soweit der Kläger geltend macht, das Finanzgericht (FG) habe verfahrensfehlerhaft (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) die prozessualen Bindungswirkungen der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten wegen Einkommensteuer 2013 bis 2018 nicht beachtet, die den Rechtsstreit in gleicher Weise wie ein die Steuerfestsetzung abänderndes Urteil beendet hätten, kann der Senat dahin stehen lassen, ob aus diesem Vorbringen ‑‑seine Richtigkeit unterstellt‑‑ ein Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO folgt oder ob damit (lediglich) ein materiell-rechtlicher Fehler der Vorentscheidung gerügt wird, der nur unter weiteren Voraussetzungen gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zur Zulassung der Revision führen kann. Denn das FG war entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung ‑‑wie geschehen‑‑ berechtigt und verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Einkommensteuerbescheide für 2013 bis 2017 vom 23.07.2020 und des Einkommensteuerbescheids für 2018 vom 14.09.2022, jeweils in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17.10.2023, auch materiell zu prüfen, ohne daran durch die Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzungen gehindert zu sein.
a) Zwar ist es zutreffend, dass nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) durch übereinstimmende Erledigungserklärungen der Beteiligten die (angefochtenen) Steuerfestsetzungen grundsätzlich unanfechtbar werden. Die Erklärung der Erledigung der Hauptsache ist eine prozessuale Bewirkungshandlung, die den Rechtsstreit in gleicher Weise wie ein ‑‑eine Steuerfestsetzung abänderndes‑‑ Urteil beendet, wenn sie in Übereinstimmung mit dem Gegner abgegeben wird. Die Prozesslage wird durch diese übereinstimmenden Erklärungen abschließend gestaltet (BFH-Urteile vom 22.05.1984 - VIII R 60/79, BFHE 141, 211, BStBl II 1984, 697; vom 14.05.2003 - XI R 21/02, BFHE 202, 228, BStBl II 2003, 888 und vom 17.03.2022 - XI R 39/19, BFHE 275, 526, BStBl II 2023, 295, Rz 12).
Der Begriff der "Hauptsache" meint dabei das jeweilige Verfahren. Was Gegenstand des Rechtsstreits ist, ist unabhängig von dem materiell-rechtlichen Bestehen des streitigen Anspruchs oder dem darauf bezogenen Sachentscheidungsinteresse des Klägers allein von diesem zu bestimmen und für das Gericht als Entscheidungsgegenstand bis zur Änderung durch den Kläger bindend (grundlegend: Beschluss des Großen Senats des BFH vom 05.03.1979 - GrS 4/78, BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375).
Übereinstimmende Erledigungserklärungen und der daraufhin ergehende Kostenbeschluss gemäß § 138 FGO entfalten mit Rücksicht auf die Hauptsache indessen keine materielle Rechtskraft im Sinne von § 110 FGO (BFH-Urteil vom 11.12.2001 - VIII R 23/01, BFHE 197, 425, BStBl II 2002, 474, m.w.N.). Eine erneute Klage ist deshalb dem Grunde nach auch nach Abgabe der Erledigungserklärungen möglich, scheitert für fristgebundene Klagen aber regelmäßig daran, dass angefochtene Bescheide mit Beendigung des gerichtlichen Verfahrens im Zeitpunkt des Eingangs der zweiten Erledigungserklärung bei Gericht ‑‑wie bereits dargelegt‑‑ bestandskräftig werden (BFH-Urteil vom 17.03.2022 - XI R 39/19, BFHE 275, 526, BStBl II 2023, 295, Rz 12).
b) Im Streitfall hatte der Kläger seine ursprüngliche Klage gegen die Einkommensteuerbescheide für 2013 bis 2018 vom 23.07.2020 insbesondere darauf gestützt, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) im Rubrum der Einspruchsentscheidung vom 03.09.2020 ausgeführt hatte, es werde über den Einspruch vom 30.07.2020 gegen "den Bescheid über die Einkommensteuer und den Solidaritätszuschlag ab 2012 vom 23.07.2020" entschieden. Es bleibe damit offen, mit welchen Einsprüchen sich die Einspruchsentscheidung genau befasse.
Nachdem das FA dem Kläger mit Schreiben vom 27.10.2020 außergerichtlich und mit Schreiben vom 03.12.2020 auch in dem laufenden Klageverfahren mitgeteilt hatte, dass mit der Einspruchsentscheidung vom 03.09.2020 lediglich über den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für 2012 entschieden worden sei, erklärten Kläger und FA den Rechtsstreit wegen Einkommensteuer 2013 bis 2018 übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt. Das FG trennte den Rechtsstreit wegen Einkommensteuer 2013 bis 2018 daraufhin ab und legte dem FA insoweit die Kosten auf.
Die übereinstimmenden Erledigungserklärungen und der Kostenbeschluss des FG führten im Streitfall jedoch nicht zur Bestandskraft der Einkommensteuerbescheide für 2013 bis 2018. Denn das ursprüngliche (Klage-)Begehren des Klägers war in Bezug auf die Einkommensteuerbescheide für 2013 bis 2018 in erster Linie darauf gerichtet, die Bestandskraft der Bescheide zu verhindern, falls sich die Einspruchsentscheidung vom 03.09.2020 auch auf diese Bescheide bezogen hätte. Hingegen war das Klagebegehren nicht darauf angelegt, ohne Durchführung eines Einspruchsverfahrens eine Änderung der Einkommensteuerbescheide für 2013 bis 2018 zu erstreiten. Da sich die Einspruchsentscheidung vom 03.09.2020 nach den Erklärungen des FA nicht auf die Einsprüche wegen Einkommensteuer 2013 bis 2018 bezogen hatte, sah der Kläger ausweislich seines Schriftsatzes vom 18.02.2021 sein Begehren wegen Einkommensteuer 2013 bis 2018 (auch) materiell als erledigt an und erklärte ausgehend hiervon insoweit die Erledigung der Hauptsache, der sich das FA anschloss.
Hierdurch wurden die angefochtenen Einkommensteuerbescheide für 2013 bis 2018 indessen nicht bestandskräftig. Vielmehr blieben die gegen diese Bescheide gerichteten Einsprüche weiter anhängig, da das FA über diese Einsprüche bisher nicht entschieden hatte. Dies geschah erst nach der Abgabe der Erledigungserklärungen beider Beteiligter durch die Einspruchsentscheidung vom 17.10.2023.
2. Soweit der Kläger meint, das FG habe einen Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) begangen, indem es in den Urteilsgründen zu Unrecht ausgeführt habe, die Beteiligten hätten in der mündlichen Verhandlung eine tatsächliche Verständigung getroffen, ergibt sich aus dem Vorbringen des Klägers bereits nicht, welche Verfahrensvorschrift als verletzt gerügt wird.
Sollte der Kläger diesbezüglich einen Verstoß gegen den wesentlichen (klaren) Inhalt der Akten geltend machen, ist dieser nach der Rechtsprechung des BFH als solcher zwar kein Verfahrensmangel (Senatsbeschluss vom 20.01.2016 - VI B 61/15, Rz 10). Er kann aber als Rüge verstanden werden, dass das FG entgegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO nicht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entschieden hat (BFH-Beschluss vom 08.05.2014 - X B 105/13, Rz 31, m.w.N. und Senatsbeschluss vom 26.11.2020 - VI B 29/20, Rz 3).
Die Rüge eines derartigen Verfahrensverstoßes setzt die Darlegung voraus, dass das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt habe, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen habe (z.B. BFH-Beschluss vom 09.07.2012 - III B 66/11, Rz 18). Zudem muss der Beschwerdeführer substantiiert darlegen, dass die Vorentscheidung unter Zugrundelegung der dort vertretenen materiell-rechtlichen Auffassung möglicherweise anders getroffen worden wäre, wenn dem FG der behauptete Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre (BFH-Beschlüsse vom 22.09.2005 - X B 58/05, BFH/NV 2005, 2193 und vom 04.10.2010 - III B 82/10, Rz 11).
Im Streitfall fehlt es jedenfalls an dem zuletzt genannten Vortrag. Im Übrigen waren sich Kläger und FA ausweislich des Protokolls über die öffentliche Sitzung vor dem FG am 12.02.2024 "in tatsächlicher Hinsicht darüber einig, dass der Kläger bei dem jeweiligen, unter der Bezeichnung '...' handelnden Einzelunternehmer angestellt war und aus dieser Tätigkeit dem Grunde nach Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielt hat".
3. Mit dem Vortrag, das FG habe fehlerhaft unterstellt, der Kläger habe mit der Beschränkung der Revision gegen das Urteil der Großen Strafkammer des Landgerichts X auf den Ausspruch über die Einziehung den Vorwurf der Beihilfe zur Umsatzsteuerhinterziehung "im Ergebnis eingeräumt", rügt der Kläger keinen Verfahrensfehler der Vorinstanz, sondern die inhaltliche Richtigkeit des Urteils. Die Rüge der falschen Rechtsanwendung und tatsächlichen Würdigung des Streitfalls durch das FG ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren indessen ‑‑von im Streitfall nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen‑‑ grundsätzlich unbeachtlich (Senatsbeschluss vom 19.03.2018 - VI B 97/17, Rz 10, m.w.N.).
4. Die Revision ist schließlich nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
a) Macht der Beschwerdeführer geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), so muss er zunächst eine bestimmte für die Entscheidung des Streitfalls erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellen. Des Weiteren muss in der Beschwerdebegründung schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung mit den zur aufgeworfenen Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen dargetan werden, weshalb die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist. Dazu muss dargelegt werden, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig ist (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom 05.12.2013 - X B 262/12, Rz 6; vom 21.08.2014 - X B 159/13, Rz 2 und vom 15.10.2021 - VIII B 130/20, Rz 3).
b) Diesen Maßstäben entspricht das klägerische Vorbringen nicht. Zwar stellt der Kläger zwei Rechtsfragen heraus, denen er grundsätzliche Bedeutung beimisst. Er trägt aber nicht ansatzweise vor, weshalb diese Fragen im Allgemeininteresse klärungsbedürftig seien. Der Kläger legt nicht dar, weshalb die Beantwortung der Fragen zweifelhaft und streitig sei. Äußerungen in Rechtsprechung und Schrifttum zu den herausgestellten Fragen werden in der Beschwerdebegründung nicht beachtet.
5. Von der Wiedergabe des Tatbestands und einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.