ECLI:DE:BFH:2024:U.080824.IIIR24.22.0
BFH III. Senat
AO § 227, EStG § 65 S 1 Nr 2, EStG § 68 Abs 1 S 1, EStG VZ 2014 , EStG VZ 2015 , EStG VZ 2016 , EStG VZ 2017
vorgehend FG Köln, 30. März 2022, Az: 5 K 1464/21
Leitsätze
1. NV: Ein Erlass aus Billigkeitsgründen scheidet regelmäßig aus, wenn der Kindergeldberechtigte seinen Mitwirkungspflichten gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht nachgekommen ist und kein überwiegendes behördliches Mitverschulden der Familienkasse vorliegt (Bestätigung der Senatsrechtsprechung, z.B. Senatsurteil vom 27.05.2020 - III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283).
2. NV: Ein Verschulden der Vereinten Nationen hinsichtlich der Ablehnung kindbezogener Leistungen ("Dependent Child Allowance") ist der inländischen Familienkasse, die das von ihr gewährte Kindergeld wegen § 65 Satz 1 Nr. 2 EStG zurückfordert, nicht zuzurechnen.
3. NV: Die fehlende Weitergabe einer kindergeldrelevanten Information an die Familienkasse seitens der für den Familienzuschlag zuständigen Bezügestelle einer anderen Behörde führt weder zu einer Wissenszurechnung noch zu einem Verschulden der Familienkasse, das zu einem Erlass der Kindergeld-Rückforderung im Billigkeitswege führen könnte.
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 30.03.2022 - 5 K 1464/21 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Im Streit steht der Erlass einer Kindergeld-Rückforderung für die Jahre 2014 bis 2017. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Volljurist, als Beamter bei der C in Y tätig und Vater des am 20.02.2000 geborenen A. Im gemeinsamen Haushalt lebt auch die Mutter (M), die Staatsangehörige von X ist.
Zunächst erhielt M das Kindergeld für A. Im Mai 2006 beantragte der Kläger es für sich selbst (Berechtigtenwechsel). In Nr. 9 des vom Kläger im Mai 2006 eingereichten Kindergeldantrags wurde abgefragt, ob der Antragsteller, der Ehegatte oder eine andere Person für die eingetragenen Kinder in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung eine Geldleistung für Kinder von einer Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) oder von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung erhielt (diese Frage wurde vom Kläger weder bejaht noch verneint). Gemäß Bescheid vom 13.06.2006 erhielt er das Kindergeld ab Juni 2006 jeweils zusammen mit seinen Beamtenbezügen ausgezahlt. Die damals zuständige Bundesfamilienkasse beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) wandte sich unter Hinweis auf die Mitwirkungspflicht nach § 68 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit Schreiben vom 29.08.2006 an den Kläger und bat ihn um Bestätigung, dass A nach wie vor in seinem Haushalt lebe und sich seit dem letzten Kindergeldantrag die Berechtigtenbestimmung nicht geändert habe.
Ab Dezember 2006 war M als Mitarbeiterin bei den Vereinten Nationen (UN) beschäftigt.
Nach den vom Kläger vorgelegten Fragebögen machte M im Februar 2008 und ebenso in den Folgejahren gegenüber den UN Angaben zu "Dependency Benefits" für A. Wegen des Kindergeldbezugs des Klägers erhielt sie von den UN nur geringe monatliche Zahlungen in Höhe der Differenz zwischen dem jeweiligen deutschen Kindergeld und dem "UN-Kindergeld" von 199 € pro Monat (vgl. UN-Bestätigungen vom 14.08.2018, 24.09.2018 und 24.10.2018). Der Kläger teilte der Bundesfamilienkasse dies ebenso wenig mit wie die Tätigkeit der M bei den UN.
Im Oktober 2008 informierte die Bundesfamilienkasse den Kläger über eine "Änderung bei der Kindergeldauszahlung", wonach das Kindergeld unabhängig von der Zahlung der Beamtenbezüge ab Dezember 2008 gesondert ausgezahlt werde. Bei rechtzeitiger Anzeige von Veränderungen (zum Beispiel Haushaltswechsel) könne die Kindergeldzahlung zeitnah eingestellt und damit eine spätere Rückzahlung vermieden beziehungsweise verringert werden. Über einen modernen Datenaustausch gewährleiste die Bundesfamilienkasse den Informationsfluss zur Dienststelle, damit dort über die an den Kindergeldanspruch gekoppelten Leistungen zeitnah entschieden werden könne.
Im Jahr 2010 überprüfte die Bezügestelle die Anspruchsberechtigung des Klägers für den Familienzuschlag. In dem beim BADV eingereichten Formular vom 13.06.2010 gab der Kläger unter anderem die Tätigkeit von M bei den UN an und verneinte insoweit eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst.
Mit Schreiben vom 04.06.2012 bat die Bundesfamilienkasse unter Bezugnahme auf § 68 EStG um Bestätigung, dass A nach wie vor in seinem Haushalt lebe und sich die Berechtigtenbestimmung seit dem letzten Kindergeldantrag nicht geändert habe. Der Kläger bestätigte dies.
Im September 2014 zeigte der Kläger bei der Bundesfamilienkasse an, dass A ein Schuljahr in X verbringen werde. Er werde während seines Aufenthalts die Deutsche Schule in Z besuchen und in einem angeschlossenen Internat wohnen. Auf Nachfrage teilte der Kläger der Bundesfamilienkasse per E-Mail vom 22.02.2016 mit, dass A wieder im elterlichen Haushalt lebe und das Gymnasium in Y besuche.
Im Rahmen der Prüfung der Anspruchsberechtigung für den im Rahmen der Besoldung gewährten Familienzuschlag erklärte der Kläger mit E-Mail vom 15.11.2016 zur Person seiner Ehefrau gegenüber der Bezügestelle erneut, dass M als Angestellte bei den UN in Y vollzeitbeschäftigt sei.
Im Jahr 2017 ging die Kindergeldzuständigkeit auf die Bundesfamilienkasse beim Bundesverwaltungsamt (BVA) über. Im Januar 2018 reichte der Kläger dort im Hinblick auf die bevorstehende Vollendung des 18. Lebensjahres des A einen Kindergeldantrag ein. Die unter Punkt 5 der Anlage "Kind" genannte Frage, ob für den Kläger oder eine andere Person in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung ein Anspruch auf eine kindbezogene Geldleistung von einer Stelle außerhalb Deutschlands oder von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung bestand, beantwortete der Kläger mit "nein".
Mit Bescheid vom 29.01.2018 setzte die Bundesfamilienkasse das Kindergeld für A für die Zeit vom 01.03.2018 bis 31.07.2018 fest.
Per E-Mail vom 19.07.2018 reichte der Kläger einen Kindergeldantrag vom 16.07.2018 ein. Unter Punkt 5 der Anlage "Kind" kreuzte er dort wiederum "nein" an. Per E-Mail teilte er ergänzend mit, dass seine bei den UN in Y beschäftigte Ehefrau "grundsätzlich einen Anspruch auf Kindergeld hätte (in Höhe von rd. 198 Euro im Monat)", der jedoch nicht bestehe beziehungsweise nicht zur Auszahlung komme, soweit er (der Kläger) das Kindergeld beziehe. Seine Ehefrau (M) erhalte "lediglich den verbleibenden (geringen) Differenzbetrag mit ihrem Gehalt ausgezahlt".
Mit Schreiben vom 09.08.2018 bat die Bundesfamilienkasse unter Hinweis auf das Bekanntwerden der Beschäftigung der M bei den UN und des ihr grundsätzlich zustehenden Anspruchs auf Kindergeld darum, für die Überprüfung der Anspruchsberechtigung bei Zahlung von Leistungen zwischen- oder überstaatlicher Einrichtungen eine Arbeitgeberbescheinigung einzureichen, aus der Zeitraum, Höhe und Art der von M bezogenen Leistungen hervorgingen. Der Kläger übermittelte per E-Mail vom 27.08.2018 eine Arbeitgeberbescheinigung vom 14.08.2018, nach der M seit dem 01.10.2010 eine monatliche Zuzahlung zum deutschen Kindergeld in Höhe von 7 € erhalte. Beigefügt war auch eine Entgeltabrechnung, die für Dezember 2016 unter der Position "Dependency Allowance (Child)" einen Betrag von 199 € ausweist, für die unter der Position "Gov't Assistance f Child" ein Betrag von 184 € zum Abzug gebracht wurde.
Mit Anhörungsschreiben vom 17.09.2018 wies die Bundesfamilienkasse auf § 65 EStG sowie darauf hin, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt werde, für das dem Kindergeld vergleichbare Leistungen von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung gewährt würden (zum Beispiel die UN-Leistungen für Kinder "Dependent Child Benefit", "Dependent Child Allowance"). Laut den eingereichten Unterlagen sei von den UN bestätigt worden, dass M grundsätzlich einen Anspruch auf "UN-Kindergeld" habe, jedoch nur eine monatliche Zahlung von aktuell 7 € erhalte. Danach müsse die Kindergeldfestsetzung ab dem 01.01.2014 aufgehoben und das zu Unrecht gezahlte Kindergeld in Höhe von 10.406 € zurückgefordert werden.
Der Kläger wandte sich mit E-Mail vom 23.09.2018 an die UN und bat um Mitteilung, ob ein "Kindergeldanspruch" von M gegenüber den UN für die Zukunft beziehungsweise im Fall der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung rückwirkend für die Zeit ab Januar 2014 bestehe. Er erhielt eine Bescheinigung der UN vom 24.09.2018, wonach M seit 01.10.2010 lediglich eine monatliche Zuzahlung zum deutschen Kindergeld von derzeit 7 € erhalte. M habe die UN in Kenntnis gesetzt, dass das (deutsche) Kindergeld für den gemeinsamen Sohn A an den Kläger ausgezahlt werde. Der Kläger informierte die Bundesfamilienkasse hierüber mit Schreiben vom 07.10.2018.
Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass M von den UN (erst) ab Januar 2018 volles Kindergeld für A erhielt ("Dependency Allowance").
Mit Bescheid vom 10.10.2018, der Gegenstand des beim FG anhängigen Klageverfahrens 5 K 997/19 ist, hob die Bundesfamilienkasse die Kindergeldfestsetzung für A für die Monate Januar 2014 bis Juli 2018 gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf und forderte zugleich das für diesen Zeitraum nach ihrer Ansicht zu Unrecht an den Kläger gezahlte Kindergeld in Höhe von 10.406 € zurück. Zur Begründung verwies sie auf die Anstellung der M bei den UN und den ihr zustehenden Anspruch auf "Dependent Child Allowance", der gemäß der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (A 28.3 DA-KG 2018) eine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung sei.
Den Einspruch gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 10.10.2018 wies die Bundesfamilienkasse nach Abstimmung mit dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) im März 2019 als unbegründet zurück. Das Klageverfahren 5 K 997/19 ruht im Hinblick auf das vom FG angeregte Erlassverfahren.
Mit Billigkeitsantrag an die Bundesfamilienkasse vom 26.01.2021 begehrte der Kläger die abweichende Festsetzung beziehungsweise den Erlass der Kindergeld-Rückforderung für die Zeit vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2017. Die Rückforderung sei infolge eines ungewollten Gesetzesüberhangs greifbar unbillig. Der Kläger habe die Tätigkeit von M bei den UN auf Abfragen der ursprünglich in Kindergeldsachen zuständigen Stelle beim BADV unter dem 13.06.2010 und noch einmal unter dem 15.11.2016 mitgeteilt. Er sei davon ausgegangen, dass er der richtigen Stelle alle notwendigen Informationen gegeben habe, insbesondere auch hinsichtlich des Kindergelds. Das BADV, das zunächst für die familienbezogenen Leistungen und das Kindergeld, später in gespaltener Zuständigkeit und schließlich nicht mehr für das Kindergeld zuständig gewesen sei, habe die mitgeteilten Informationen nicht mit der zuständigen Bundesfamilienkasse ausgetauscht. Eine Kontaktaufnahme durch BADV oder BVA mit den UN, die gegebenenfalls zu einer abweichenden Einschätzung hätte führen können, sei nicht erfolgt. Der Kläger habe über Jahre hinweg keine Hinweise gehabt, dass seine Angaben nicht ausreichend oder nicht an der richtigen Stelle angekommen seien. Er sei zwar Volljurist, aber weder Spezialist für Kindergeld noch für Leistungen der UN. Die Ablehnung des Erlasses führe zum vollständigen Ausschluss der Familie des Klägers vom Familienleistungsausgleich für die Jahre 2014 bis 2017. Die in erheblicher Höhe festgesetzte Rückforderung habe der Kläger zur Vermeidung von Rechtsnachteilen unter großen Belastungen erstattet, sodass das Existenzminimum des Kindes (A) im Streitfall entgegen dem Regelungszweck für die Jahre 2014 bis einschließlich 2017 nicht freigestellt sei. Dies sei jedenfalls in Fällen wie hier unbillig, in denen sich der Berechtigte um ordnungsgemäße Information der zuständigen Stellen bemüht habe.
Nach Einholung einer Stellungnahme des BZSt und im Anschluss an die Erwiderung des Klägervertreters lehnte die Bundesfamilienkasse den Erlassantrag durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 21.04.2021 ab. Den betreffenden Einspruch wies sie als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 15.06.2021). Die Ablehnung sei rechtsfehlerfrei, da weder sachliche noch persönliche Billigkeitsgründe für einen Erlass vorlägen. Der Kläger habe die Rückforderung durch sein Verhalten selbst schuldhaft verursacht, indem er seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei (§ 90 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑, § 68 EStG). Er habe die Bundesfamilienkasse über die vergleichbaren Zahlungen der UN nicht zeitnah unterrichtet. Im Kindergeldantrag vom 15.01.2018 habe er vielmehr falsche Angaben gemacht. Auf die Mitteilung im Juli 2018 habe die Bundesfamilienkasse sogleich reagiert.
Der daraufhin erhobenen Versagungsgegenklage gab das FG mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 1674 veröffentlichten Urteil vom 30.03.2022 - 5 K 1464/21 statt. Es ging von einer Ermessensreduzierung auf null aus und verpflichtete die Bundesfamilienkasse zum Erlass der Kindergeld-Rückforderung in Höhe von … € (gemeint: zur Erstattung der Rückzahlung für den Zeitraum Januar 2014 bis Dezember 2017).
Während des Revisionsverfahrens ist auf der Beklagtenseite ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel eingetreten. Seit dem 01.03.2023 ist an der Stelle der Bundesfamilienkasse beim BVA nun die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) zuständig (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes und § 72 EStG a.F.).
Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht. Die Vorentscheidung des FG stehe im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH).
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Köln vom 30.03.2022 - 5 K 1464/21 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Urteilsaufhebung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Das FG durfte die Familienkasse nicht zur Gewährung eines Erlasses oder zur Erstattung des überwiegenden Teils des vom Kläger zurückbezahlten Kindergeldbetrags im Billigkeitswege verpflichten. Die Urteilsgründe, mit denen das FG der Klage auf Erlass der Kindergeld-Rückforderung in der vom Kläger beantragten Höhe (… €) stattgegeben hat, sind rechtsfehlerhaft.
a) Die Erhebung des streitigen Rückforderungsbetrags war schon nicht unbillig; es ist auch nicht unbillig, dass die Familienkasse dem Kläger den Betrag nicht wieder erstattet.
aa) Gemäß § 227 AO können die Finanzbehörden, zu denen auch die Familienkassen gehören (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO), Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Die Entscheidung über den Erlass, die Erstattung oder die Anrechnung im Billigkeitswege ist eine Ermessensentscheidung (vgl. dazu den grundlegenden Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 - GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603 und aus der ständigen BFH-Rechtsprechung zu § 227 AO die Senatsurteile vom 13.09.2018 - III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 13; vom 17.07.2019 - III R 64/18, BFH/NV 2020, 7, Rz 11 und vom 19.05.2022 - III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, Rz 14).
Nach § 102 Satz 1 FGO kann die Ermessensentscheidung der Finanzbehörde im finanzgerichtlichen Verfahren nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind (vgl. Senatsurteile vom 13.09.2018 - III R 48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 12; vom 27.05.2020 - III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 18 und vom 19.05.2022 - III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, Rz 14). Dabei hat das Gericht grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung als der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen (Senatsurteil vom 17.07.2019 - III R 64/18, BFH/NV 2020, 7, Rz 19; zur Maßgeblichkeit der Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt der Tatsacheninstanz bei Verpflichtungsklagen auf einen gebundenen Verwaltungsakt vgl. BFH-Urteile vom 14.03.2012 - XI R 33/09, BFHE 236, 283, BStBl II 2012, 477, Rz 26 und vom 11.10.2017 - IX R 2/17, BFH/NV 2018, 322, Rz 20). Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen gemäß § 102 Satz 2 FGO bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen.
bb) Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen, die vorliegend allein in Betracht kommt, ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, nach dem Zweck des zugrundeliegenden Gesetzes aber nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. Senatsurteile vom 13.09.2018 - III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 14; vom 27.05.2020 - III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 19; vom 19.05.2022 - III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, Rz 15).
Wie der Große Senat des BFH in seinem Beschluss vom 28.11.2016 - GrS 1/15 (BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393) zum sogenannten Sanierungserlass betont hat, handelt es sich bei dem Begriff der Unbilligkeit im Sinne von § 227 AO um einen gerichtlich überprüfbaren Rechtsbegriff und um die gesetzliche Voraussetzung einer behördlichen Ermessensentscheidung (ebenso BFH-Urteil vom 27.02.2019 - VII R 34/17, BFHE 264, 563, Rz 17).
Ein Erlass aus Billigkeitsgründen scheidet regelmäßig aus, wenn der Kindergeldberechtigte seinen Mitwirkungspflichten (§ 68 Abs. 1 EStG) nicht nachgekommen ist und dies die maßgebliche Ursache für die Überzahlung darstellt (Senatsurteil vom 27.05.2020 - III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 26); dies gilt entsprechend für die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Beträge. Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG hat eine Person, die Kindergeld beantragt oder erhält, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen. Diese besondere Mitwirkungspflicht soll gewährleisten, dass der Familienkasse alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, um rechtzeitig die Rechtmäßigkeit der Auszahlung von Kindergeld beurteilen zu können und fehlerhafte Auszahlungen und damit zusammenhängende spätere Rückforderungen zu vermeiden. Sie führt auch dazu, dass sich die Familienkasse grundsätzlich darauf verlassen darf, dass ihr jeder Kindergeldberechtigte unaufgefordert die seine persönliche Sphäre betreffenden Änderungen mitteilt. Soweit die Familienkasse Kindergeld zu Unrecht auszahlt, weil der Kindergeldempfänger es unterlassen hat, sie über tatsächliche, für den Kindergeldanspruch relevante Verhältnisse zu informieren, und soweit sie hiervon auch anderweitig keine Kenntnis erlangt hat, kann ihr kein Fehlverhalten vorgeworfen werden. In diesem Fall liegt auch kein Gesetzesüberhang vor, der einen Billigkeitserlass gebieten könnte (vgl. Senatsurteile vom 13.09.2018 - III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 19 und vom 27.05.2020 - III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 24).
Zwar kann ein Verhalten der Behörde unter besonderen Umständen einen sachlichen Billigkeitsgrund darstellen. Dies setzt jedoch regelmäßig voraus, dass die Rückforderung nicht auf solche Umstände zurückzuführen ist, die der Rückzahlungsschuldner zu vertreten hat. Ein Anspruch auf einen Billigkeitserlass kann demgemäß in Betracht kommen, wenn der Kindergeldberechtigte seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist und der Grund für die Rückforderung durch ein überwiegendes Verschulden oder eine fehlerhafte Arbeitsweise der Behörde entstanden ist (vgl. Senatsurteile vom 13.09.2018 - III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 21 f.; vom 13.09.2018 - III R 48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 16; vom 08.11.2018 - III R 31/17, BFH/NV 2019, 557, Rz 21 f.; vom 27.05.2020 - III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 25); dies gilt entsprechend für die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Beträge.
b) Nach diesen Grundsätzen, von denen auch das FG ausgegangen ist, ist das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft. Das FG bejaht eine sachliche Unbilligkeit, obwohl sie nach seinen Feststellungen verneint werden muss. Im Widerspruch zum dargelegten Prüfungsmaßstab hat das FG zu Unrecht andere für erheblich erachtete Umstände herangezogen, um eine sachliche Unbilligkeit, eine Ermessensreduzierung auf null und eine Verpflichtung der Familienkasse zur Erlassgewährung zu begründen. Die diesbezügliche Argumentation des FG hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
aa) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist zunächst der Ausgangspunkt des FG-Urteils, dass ‑‑soweit entscheidungserheblich‑‑ lediglich eine "einfach fahrlässige Mitwirkungspflichtverletzung" vorliegt. Allerdings ist hierbei zu differenzieren. Im Zeitraum Dezember 2006 bis Dezember 2017 teilte der Kläger der jeweils zuständigen Bundesfamilienkasse nicht mit, dass M bei den UN tätig war und im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses (geringe) Zahlungen für A erhielt. Im Kindergeldantrag vom Januar 2018 verneinte der Kläger die Frage, ob für ihn oder eine andere Person in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung ein Anspruch auf eine kindbezogene Geldleistung von einer Stelle außerhalb Deutschlands oder einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung bestand.
Während Zweifel daran bestehen, die unzutreffende Beantwortung der Frage Nr. 5 mit "nein" im Januar 2018 nur als eine einfache Fahrlässigkeit zu qualifizieren, ist insoweit zugleich festzustellen, dass die darin liegende Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers unabhängig von ihrem Schweregrad nicht ursächlich dafür war, dass die Bundesfamilienkasse das Kindergeld für die Jahre 2014 bis 2017 an den Kläger bezahlte. Auf den Grad der Sorgfaltspflichtverletzung bei der im Kindergeldantrag Anfang 2018 erkennbar zu Unrecht verneinten Frage Nr. 5 kommt es angesichts der Zahlung des UN-Kindergelds ab dem Jahr 2018 und wegen des auf den Zeitraum Januar 2014 bis Dezember 2017 beschränkten Billigkeitsantrags nicht an. Kausal war insofern allein die im Dezember 2006 beziehungsweise in den Jahren 2007 bis 2017 begangene Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers. Dass bezüglich der unterlassenen Mitteilung zur Tätigkeit von M bei den UN und den in diesem Zusammenhang erhaltenen Zahlungen für A nur eine einfache Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers festzustellen ist, ändert nichts daran, dass ihm in diesem Punkt in den Jahren bis einschließlich 2017 eine relevante Mitwirkungspflichtverletzung anzulasten ist.
Der nur einfache Sorgfaltsverstoß des Klägers bestand in einem bloßen Unterlassen, das darin lag, dass der Kläger der jeweiligen Bundesfamilienkasse nicht von sich aus mitteilte, dass M seit Dezember 2006 bei den UN beschäftigt war und von den UN Zahlungen für A erhielt. Dass er die potenzielle Relevanz dieser Tätigkeit bei den UN für seinen Kindergeldanspruch hätte erkennen können, folgt aus dem vom Kläger im Mai 2006 eingereichten Kindergeldantrag. In dessen Nr. 9 wurde abgefragt, ob der Antragsteller, der Ehegatte oder eine andere Person für die eingetragenen Kinder in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung eine Geldleistung für Kinder von einer Stelle außerhalb Deutschlands oder von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung erhielt (diese Frage wurde vom Kläger weder bejaht noch verneint).
Im Jahr 2008 wurde der Kläger über die von den Beamtenbezügen künftig getrennte Kindergeldauszahlung informiert. Bei den Angaben gegenüber der Bezügestelle im Rahmen der Anspruchsprüfung für den Familienzuschlag in den Jahren 2010 und 2016 gab der Kläger jeweils die Tätigkeit von M bei den UN an. Für den selbst bei einer Behörde tätigen Kläger war die organisatorische Trennung der Bezügestelle von der Bundesfamilienkasse hierbei erkennbar. Es erfolgte auch weder eine Zurechnung des Wissens der Bezügestelle an die Bundesfamilienkasse noch durfte der Kläger bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt hiervon ausgehen.
bb) Im Kern gleichfalls nicht zu beanstanden ist die Würdigung des FG zum behördlichen Verschulden beziehungsweise Mitverschulden. Das FG hat insoweit zu Recht festgestellt, dass ein überwiegendes behördliches Mitverschulden der Familienkasse im Streitfall nicht erkennbar ist. Ein etwaiges Verschulden der UN oder der Bezügestelle ist der (Bundes-)Familienkasse nicht zuzurechnen. Soweit das FG bei seiner Gesamtwürdigung davon ausgeht, dass der "Hauptfehler" bei den UN gelegen habe (rechtlich unzutreffende Auffassung, keine Information bezüglich der Vorrangigkeit der UN-Familienleistungen), begründet dies mangels Zurechnung kein Verschulden der Bundesfamilienkasse.
Der Bundesfamilienkasse ist im Streitfall nach den Feststellungen des FG keine fehlerhafte Arbeitsweise anzulasten. Insbesondere hat sie den Kläger ungeachtet des aus seiner Sicht missverständlichen Begriffs "Datenaustausch" nicht dahingehend falsch informiert, dass die Bezügestelle die für das Kindergeld relevanten Informationen an sie weitergeben werde. Vielmehr hat sie, wie in der Revisionsbegründung zu Recht ausgeführt wird, ausschließlich auf den Informationsfluss in umgekehrter Richtung hingewiesen, der eine zeitnahe Entscheidung über die an den Kindergeldanspruch gekoppelten Leistungen ermögliche.
Der mehrfache Zuständigkeitswechsel bei der für die Kindergeldgewährung zuständigen Stelle begründet gleichfalls kein Verschulden einer der beteiligten Behörden.
cc) Ausgehend von der Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers und dem fehlenden Verschulden der Bundesfamilienkasse ist keine sachliche Unbilligkeit im Sinne des § 227 AO gegeben. Die Kindergeld-Rückforderung ist dem Verantwortungsbereich des Klägers zuzurechnen, der auch nach Auffassung des FG seinen besonderen Mitwirkungspflichten (§ 68 Abs. 1 Satz 1 EStG) nicht hinreichend nachgekommen ist. Das die Familienkasse zum "Erlass" (gemeint: zur Erstattung der Rückzahlung des Klägers) verpflichtende Urteil des FG ist hiernach rechtsfehlerhaft und deshalb aufzuheben. Insbesondere ist die vom FG vorgenommene Abwägung der in nur einfach fahrlässiger Weise begangenen Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers mit den durch sie eingetretenen Rechtsfolgen (Verlust des Kindergeldanspruchs für vier Jahre) unzulässig. Auch ein Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung liegt nicht vor (vgl. Senatsurteil vom 23.01.2020 - III R 16/19, BFH/NV 2020, 926, Rz 16).
dd) Aus der im FG-Urteil herangezogenen Erlassentscheidung der Familienkasse in dem einer Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Fall kann keine entsprechende Verpflichtung der Familienkasse im vorliegenden Fall abgeleitet werden (vgl. dazu den Hinweis in der Ausgangsentscheidung des Senats vom 19.11.2008 - III R 108/06, BFH/NV 2009, 357, unter II.4., dass im damaligen Streitfall ein Billigkeitserlass nach § 227 AO gerechtfertigt sein könnte; dieser Erlass wurde von der Familienkasse anschließend gewährt, sodass die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 292/09 in der Hauptsache für erledigt erklärt werden konnte).
2. Die Sache ist spruchreif (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) lag kein fehlerhaftes Verwaltungshandeln der Bundesfamilienkasse vor, das Anlass für eine Erstattung der vom Kläger zurückgezahlten Beträge im Sinne des § 227 AO sein könnte. Da die tatbestandliche Voraussetzung der Unbilligkeit im Sinne dieser Vorschrift nicht erfüllt ist, hat die Familienkasse den Antrag des Klägers auf die Erstattung des von ihm zurückbezahlten Kindergelds für die Jahre 2014 bis 2017 in rechtmäßiger Weise abgelehnt. Mangels Unbilligkeit kommt es auf die Ermessenserwägungen der Familienkasse nicht mehr an.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.