ECLI:DE:BFH:2024:B.051124.XIR10.22.0
BFH XI. Senat
FGO § 52d S 1, FGO § 52a Abs 3 S 1, FGO § 52a Abs 4 S 1 Nr 2, RAVPV § 23 Abs 3 S 5
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht , 02. März 2022, Az: 4 K 38/19
Leitsätze
1. Ein elektronisches Dokument, das aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) versandt wird und nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, ist nur dann wirksam auf einem sicheren Übermittlungsweg bei Gericht eingereicht, wenn die das Dokument signierende (und damit verantwortende) Person mit dem tatsächlichen Versender übereinstimmt.
2. Der Inhaber eines beA darf sein Recht, nicht qualifiziert elektronisch signierte Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg zu versenden, nicht auf andere Personen (zum Beispiel Angestellte der Kanzlei) übertragen (Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, des Bundesgerichtshofs, des Bundessozialgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts).
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts vom 02.03.2022 - 4 K 38/19 wird als unzulässig verworfen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Das Finanzgericht wies die Klage der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wegen Umsatzsteuer 2016 und 2017 mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 803 veröffentlichten Urteil ab und ließ die Revision zu. Der Entscheidung war eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt, in der auch auf den insbesondere für Rechtsanwälte seit dem 01.01.2022 geltenden § 52d der Finanzgerichtsordnung (FGO) hingewiesen wurde.
Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 25.03.2022 zugestellt.
Hiergegen hat die Klägerin am 19.04.2022 Revision eingelegt und zugleich beantragt, die Frist zur Begründung der Revision um einen Monat zu verlängern. Mit Schreiben vom 21.04.2022 hat die Geschäftsstelle des Bundesfinanzhofs (BFH) mitgeteilt, dass die Frist zur Begründung von dem Vorsitzenden des Senats bis zum 27.06.2022 verlängert worden ist.
Die auf den 27.06.2022 datierende Revisionsbegründung ist beim BFH jedoch erst am 29.06.2022 eingegangen, zum einen per Telefax, zum anderen über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA).
Mit weiterem, beim BFH am 01.07.2022 per Telefax und beA eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin beantragt, wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Revision Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Zur Begründung macht sie geltend: Ihr Prozessbevollmächtigter habe die Revisionsbegründung am Vormittag des 27.06.2022 ausgefertigt und unterschrieben. Anschließend habe er den Schriftsatz seiner Büroangestellten mit der Anweisung übergeben, ihn noch am gleichen Tag per beA und Telefax an den BFH zu übermitteln. Die betreffende Angestellte werde in der Kanzlei regelmäßig mit der Behandlung von Fristen ‑‑insbesondere dem Führen des Fristenkontrollbuchs sowie der Ausgangskontrolle‑‑ und auch mit dem Übermitteln von Schriftsätzen per beA betraut. Die ihr so übertragenen Aufgaben habe sie stets sorgfältig und zuverlässig erfüllt. Am 27.06.2022 habe die Mitarbeiterin die Kanzleiräume gegen 14:00 Uhr aber unvermittelt verlassen müssen, nachdem sie einen Anruf der Kindertagesstätte wegen Erkrankung ihres seinerzeit einjährigen Sohnes erhalten habe. Die unterlassene Übersendung der Revisionsbegründung sei der Mitarbeiterin erst am 29.06.2022 nach ihrer Rückkehr in das Büro aufgefallen. Daraufhin habe sie die Begründung an den BFH übersandt und den Prozessbevollmächtigten der Klägerin über das Versäumnis informiert.
Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung der Mitarbeiterin war dem Antrag auf Wiedereinsetzung beigefügt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Vorentscheidung aufzuheben und1.
den Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 18.11.2019 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 11.05.2022 mit der Maßgabe zu ändern, dass eine Vorsteuerberichtigung gemäß § 15a Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes in Höhe von 886.639,22 € unterbleibt und die Umsatzsteuer auf 0 € festgesetzt wird;
2.
den Umsatzsteuerbescheid 2017 vom 30.08.2019 mit der Maßgabe zu ändern, dass Vorsteuer in Höhe von 510,72 € berücksichtigt und die Umsatzsteuer entsprechend herabgesetzt wird.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Das FA hält die Revision für zulässig; der Klägerin sei Wiedereinsetzung in die Begründungsfrist zu gewähren.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unzulässig und daher durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1 FGO). Die Klägerin hat die Revision nicht fristgemäß begründet; dem Antrag auf Wiedereinsetzung ist nicht zu entsprechen.
1. Die Klägerin hat die Frist für die Begründung der Revision versäumt.
a) Nach § 120 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Frist kann gemäß § 120 Abs. 2 Satz 3 FGO auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden.
b) Innerhalb der ‑‑bis zum 27.06.2022 verlängerten‑‑ Frist zur Begründung der Revision ist beim BFH eine Revisionsbegründung nicht eingegangen. Sie wurde am 29.06.2022 und damit verspätet übermittelt, wobei der Senat offen lässt, ob überhaupt eine wirksame Einreichung erfolgt ist, was zweifelhaft erscheint (vgl. dazu die Ausführungen unter II.2.b bb (3)).
2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist der Klägerin nicht zu gewähren.
a) Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm gemäß § 56 Abs. 1 FGO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. In formeller Hinsicht setzt die Gewährung der Wiedereinsetzung voraus, dass innerhalb einer Frist von einem Monat (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO) nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und diejenigen Tatsachen vorgetragen und im Verfahren über den Antrag glaubhaft gemacht werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll.
aa) Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen sollen, sind innerhalb dieser Frist vollständig, substantiiert und in sich schlüssig darzulegen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 11.05.2010 - XI R 24/08, BFH/NV 2010, 1834, Rz 12; vom 13.09.2012 - XI R 40/11, BFH/NV 2013, 213, Rz 14; vom 04.08.2020 - XI R 15/18, BFH/NV 2021, 29, Rz 18).
bb) Jedes Verschulden ‑‑mithin auch einfache Fahrlässigkeit‑‑ schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 17.02.2010 - I R 38/09, BFH/NV 2010, 1283; vom 13.09.2012 - XI R 48/10, BFH/NV 2013, 212, Rz 12; vom 04.08.2020 - XI R 15/18, BFH/NV 2021, 29, Rz 19). Nach § 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 Satz 1 FGO muss sich jeder Beteiligte das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten wie eigenes Verschulden zurechnen lassen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 15.05.2019 - XI R 14/17, BFH/NV 2019, 924, Rz 7; vom 04.08.2020 - XI R 15/18, BFH/NV 2021, 29, Rz 19).
b) Legt man den Vortrag zugrunde, auf den sich der Antrag auf Wiedereinsetzung stützt, ist das Fristversäumnis verschuldet.
Die rechtserhebliche Ursache für das Versäumen der Frist hat der Prozessbevollmächtigte selbst gesetzt, nicht seine Mitarbeiterin. Ausgehend von seinem Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag hat der Bevollmächtigte ‑‑statt die von ihm einfach signierte Revisionsbegründung vor Fristablauf persönlich einzureichen‑‑ seine Zugangsdaten für das beA an seine Kanzleiangestellte weitergeben, um den Schriftsatz auf diese Weise ‑‑vermeintlich form- und fristgerecht‑‑ an den BFH übersenden zu lassen. Dies ist unzulässig.
aa) Ein anwaltlicher Prozessbevollmächtigter, der seit dem 01.01.2022 nach § 52d Satz 1 FGO zur Übermittlung elektronischer Dokumente verpflichtet ist (BFH-Beschlüsse vom 27.04.2022 - XI B 8/22, BFH/NV 2022, 1057, Rz 5 f.; vom 31.10.2023 - IV B 77/22, BFH/NV 2024, 20, Rz 5; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 52d FGO Rz 13), muss alles ihm Zumutbare tun und veranlassen, damit die Frist und Form zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird. In seiner eigenen Verantwortung liegt es, das Dokument gemäß § 52a Abs. 3 Satz 1 FGO entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehen oder die Einreichung des einfach signierten elektronischen Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg (insbesondere mittels beA nach § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO) vorzunehmen (zu diesen Alternativen z.B. BFH-Beschluss vom 16.01.2024 - VII R 34/22, BFH/NV 2024, 1041, Rz 15; Brandis in Tipke/Kruse, § 52a FGO Rz 8).
bb) Dem wurde das Verhalten und die Weisung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin an seine Angestellte nicht gerecht. Selbst wenn die Angestellte die Weisung befolgt hätte, wäre die Übermittlung unwirksam gewesen. Der Senat schließt sich insoweit für den Bereich des § 52a FGO der Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes zu vergleichbaren Vorschriften an.
(1) Eigenem Bekunden zufolge unterschrieb der Prozessbevollmächtigte am 27.06.2022, dem Tag des Fristablaufs, die von ihm selbst ausgefertigte Revisionsbegründung; die Versendung über das beA sollte die Kanzleiangestellte erledigen. Die handschriftliche Unterschrift erfüllte zwar die Voraussetzungen der einfachen Signatur im Sinne des § 52a Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 FGO. Allerdings hätte dann ‑‑anders bei einer qualifizierten elektronischen Signatur (§ 52a Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 FGO)‑‑ der Versand des Schriftsatzes durch den Verantwortlichen (hier: den Prozessbevollmächtigten) selbst erfolgen müssen.
(2) Dass ein nicht qualifiziert elektronisch signiertes Dokument nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg aus einem beA im Sinne des § 52a Abs. 3 Satz 1 Alternative 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO eingereicht wird, wenn die den Schriftsatz verantwortende Person das Dokument selbst versendet, ergibt sich schon aus der Gesetzesbegründung. Schon dem Entwurf des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten aus dem Jahr 2013 war zu entnehmen, dass diejenige Person, die den Schriftsatz verantwortet, diesen entweder qualifiziert elektronisch signieren oder einen sicheren Übermittlungsweg nutzen muss, um das Formerfordernis zu wahren (BTDrucks 17/12634, S. 25). Für die Pflicht zum Versenden durch den Verantwortlichen selbst spricht außerdem der Zweck der Vorschrift. So soll erreicht werden, die Identität des Urhebers und die Authentizität des jeweiligen Dokuments zu sichern. Würde man ein abweichendes Normverständnis zugrunde legen, wären unautorisierte Übermittlungen und Manipulationen des Textes bei nur einfach signierten Dokumenten nicht ausgeschlossen (vgl. Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts ‑‑BVerwG‑‑ vom 12.10.2021 - 8 C 4.21, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ‑‑NVwZ‑‑ 2022, 649, Rz 5; des Bundessozialgerichts ‑‑BSG‑‑ vom 27.09.2023 - B 2 U 1/23 R, juris, Rz 17; des Bundesgerichtshofs ‑‑BGH‑‑ vom 20.06.2023 - 2 StR 39/23, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2023, 1210 und des Bundesarbeitsgerichts ‑‑BAG‑‑ vom 05.06.2020 - 10 AZN 53/20, BAGE 171, 28, Rz 14 ff.). Entsprechend dürfen ‑‑auch wenn dies technisch möglich ist‑‑ Inhaber eines beA das Recht, nicht-qualifiziert elektronisch signierte Dokumente auf einem sicheren Übermittlungsweg zu versenden, nicht auf andere Personen übertragen (vgl. § 23 Abs. 3 Satz 5 der Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung ‑‑RAVPV‑‑). Sie dürfen das für sie erzeugte Zertifikat keiner weiteren Person überlassen und haben die dem Zertifikat zugehörige Zertifikats-PIN geheim zu halten (§ 26 Abs. 1 RAVPV).
(3) Da der Versand nur einfach signierter Dokumente nicht Kanzleimitarbeitern überlassen werden darf, führt ein gleichwohl vorgenommener Versand, wie er im Streitfall von der Angestellten am 27.06.2022 nach dem Inhalt der Weisung vorgenommen werden sollte, wegen Verstoßes gegen zwingende gesetzliche Formvorschriften zur Formunwirksamkeit elektronisch einzureichender Dokumente (vgl. Beschlüsse des BAG vom 05.06.2020 - 10 AZN 53/20, BAGE 171, 28, Rz 14; des BVerwG vom 12.10.2021 - 8 C 4.21, NVwZ 2022, 649, Rz 4; des BGH vom 20.09.2022 - IX ZR 118/22, Zeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht 2022, 2579, Rz 7; des BSG vom 27.09.2023 - B 2 U 1/23 R, juris, Rz 18).
cc) Knüpft der Verschuldensvorwurf für das Fristversäumnis folglich bereits an der Entscheidung des Prozessbevollmächtigten an, eine nur einfach signierte Revisionsbegründung entgegen § 23 Abs. 3 Satz 5 RAVPV durch eine Angestellte mittels beA einreichen zu lassen, statt sie persönlich zu übersenden, kommt es auf die Frage, aus welchen Gründen die Angestellte es in der Folge unterlassen hat, den Schriftsatz am 27.06.2022 tatsächlich zu übersenden, nicht mehr an. Eine Übersendung durch die Büroangestellte am besagten Tag wäre unwirksam und daher auch nicht fristgerecht gewesen. Der Prozessbevollmächtigte hätte den ‑‑von ihm nur einfach signierten‑‑ Schriftsatz am 27.06.2022 persönlich über beA einreichen müssen oder den Schriftsatz qualifiziert elektronisch signieren müssen. Beides hat er nicht getan.
dd) Dass ‑‑und gegebenenfalls aus welchen Gründen‑‑ ihm beides nicht möglich gewesen wäre, ist nicht dargetan. Allein die ‑‑nicht weiter glaubhaft gemachte‑‑ Angabe, er habe die Kanzleiräume wegen eines persönlichen Termins am 27.06.2022 bereits kurz vor Mittag verlassen und sei am selben Tag nicht mehr in das Büro zurückgekehrt, genügt einer substantiierten und in sich schlüssigen Erklärung für ein entschuldbares Versäumnis nicht.
ee) Auch ein etwaiger Rechtsirrtum des Prozessbevollmächtigten wäre nicht unverschuldet, denn mit der Einführung des beA haben die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein die Anwaltschaft über die geänderten Formerfordernisse informiert sowie auf die erforderliche Personenidentität und das Verbot der Weitergabe des beA-Zugangs hingewiesen (vgl. Beschlüsse des BVerwG vom 12.10.2021 - 8 C 4/21, NVwZ 2022, 649, Rz 17 und des BSG vom 27.09.2023 - B 2 U 1/23 R, juris, Rz 21). Außerdem war die unter II.2.b bb (2 und 3) zitierte Rechtsprechung zu den inhaltsgleichen Parallelregelungen zu § 52a Abs. 3 FGO im Juni 2022 bereits ergangen und veröffentlicht. Sie hätte dem Prozessbevollmächtigten, der sich über den aktuellen Stand der Rechtsprechung zu informieren hat, bekannt sein müssen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.