ECLI:DE:BFH:2024:BA.241024.VIB35.24.0
BFH VI. Senat
AO § 233a, AO § 237, AO § 238, FGO § 69, GG Art 3 Abs 1, AO § 234 Abs 2, AO § 238 Abs 1 S 1
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 28. März 2024, Az: 9 V 123/23
Leitsätze
Aussetzung der Vollziehung wegen verfassungsrechtlicher Zweifel an der Höhe des Aussetzungszinssatzes ist nur für Zinszeiträume ab dem 01.01.2019 und lediglich in Höhe der gesetzlichen Spreizung der Aussetzungszinsen und der Nachzahlungszinsen von 0,35 Prozent für jeden Monat zu gewähren.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 28.03.2024 - 9 V 123/23 dahin geändert, dass Aussetzung der Vollziehung des Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 27.06.2023 betreffend Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer für 2002 und Solidaritätszuschlag für 2002 jeweils für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis 27.03.2023 in Höhe von 34.956,25 € und in Höhe von 1.916,25 € gewährt wird.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens haben der Antragsteller zu 79 Prozent und der Antragsgegner zu 21 Prozent zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Aussetzungszinsen.
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) erzielte in den Jahren 2001 und 2002 aus der Veräußerung einer Unternehmensbeteiligung Einnahmen in sechsstelliger Höhe, über deren steuerrechtliche Einordnung zwischen den Beteiligten Streit bestand.
Das Einspruchsverfahren betreffend die Einkommensteuerfestsetzung für 2001 wurde für die Dauer des gegen den Einkommensteuerbescheid für 2002 unter dem Aktenzeichen 9 K 174/13 beim Niedersächsischen Finanzgericht (FG) geführten Klageverfahren ausgesetzt.
Auf Antrag des Antragstellers gewährte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) mit Bescheiden vom 08.07.2008, 15.09.2011 und 05.08.2013 Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Einkommensteuerbescheids für 2002.
Am 27.02.2023 ist in dem Klageverfahren 9 K 174/13 wegen Einkommensteuer 2002 ein Erörterungstermin durchgeführt worden. In diesem unterbreitete der damalige Berichterstatter den Beteiligten einen Verständigungsvorschlag. In dem Sitzungsprotokoll heißt es hierzu:
"Nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage schlägt der Vorsitzende folgende Verständigung unter Einschluss des nicht im Streit befindlichen Jahres 2001 vor: Der Kläger nimmt die Klage für das Streitjahr 2002 zurück. Der Beklagte verpflichtet sich den geänderten Einkommensteuerbescheid 2001 vom 17.12.2007 dergestalt zu ändern, dass nurmehr die bislang nicht der Besteuerung unterworfenen Zinsen in Höhe von 17.144 DM versteuert werden.
Der Erörterungstermin wurde für eine Zwischenberatung der Beteiligten um 13:50 Uhr unterbrochen.
Der Erörterungstermin wurde um 14:05 Uhr fortgesetzt.
Die Beteiligten erklären sodann, dass sie den Rechtsstreit und die Gesamtangelegenheit unter Einschluss des Steuerjahres 2001 einvernehmlich im Sinne des Vorschlags des Vorsitzenden regeln wollen.
Die Vertreterin des Beklagten erklärt:
Hiermit verpflichte ich mich, den geänderten Einkommensteuerbescheid 2001 vom 17.12.2007 dergestalt zu ändern, dass nur noch die Kapitaleinkünfte, die nacherklärt worden sind, in Höhe von 17.144 DM steuerlich erfasst werden.
Im Hinblick auf diese Verpflichtung erklärt der Kläger:
Hiermit nehme ich die Klage in Sachen 9 K 174/13 zurück."In ihrem Ergebnisprotokoll des Erörterungstermins notierte die Vertreterin des FA unter anderem zu den Aussetzungszinsen: "Es wurde sodann noch über die Festsetzung der Zinsen nach § 233a und der zukünftigen Festsetzung der Aussetzungszinsen gesprochen. [Der Prozessbevollmächtigte] erklärte, dass man über einen Erlass nachdenken könnte. Diesem widersprachen wir vehement. Es gibt keinen Grund an der Festsetzung von AdV-Zinsen nicht festzuhalten. Der Kläger wurde mehrmals auf die Problematik hingewiesen. Der Kläger und seine Berater zogen sich zur Beratung zurück. Nach Wiedereröffnung erklärte der Kläger, dass er der vorgeschlagenen Regelung zustimme."
Am 23.03.2023 erließ das FA einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 2001, der ausweislich des Erläuterungsteils des Bescheids die "Vereinbarungen laut Erörterungstermin" umsetzen sollte.
Unter Hinweis auf die vom Antragsteller im Erörterungstermin erklärte Klagerücknahme hinsichtlich des Einkommensteuerbescheids 2002 setzte das FA mit Bescheid vom 27.06.2023 Aussetzungszinsen nach § 237 der Abgabenordnung (AO) zur Einkommensteuer 2002 und zum Solidaritätszuschlag 2002 jeweils nach dem Zinssatz von einhalb Prozent je vollem Monat für die Zeit vom 22.01.2008 bis zum 26.10.2011 für 45 Monate in Höhe von 35.673,75 € (für Einkommensteuer) und 1.957,50 € (für Solidaritätszuschlag), für die Zeit vom 27.10.2011 bis zum 15.08.2013 für 21 Monate in Höhe von 16.553,25 € (für Einkommensteuer) und 908,25 € (für Solidaritätszuschlag) sowie für die Zeit vom 16.08.2008 bis zum 27.03.2023 für 115 Monate in Höhe von 114.856,25 € (für Einkommensteuer) und 6.296,25 € (für Solidaritätszuschlag) und damit in Höhe von insgesamt 176.245,25 € fest.
Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller Einspruch ein und begehrte AdV. Das FA lehnte den Antrag auf AdV mit Bescheid vom 21.08.2023 ab; über den Einspruch ist noch nicht entschieden.
Den daraufhin gemäß § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erhobenen Antrag auf gerichtliche AdV hat das FG mit Beschluss vom 28.03.2024 - 9 V 123/23 abgelehnt.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit der vom FG zugelassenen Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat.
Er beantragt (sinngemäß),
unter Aufhebung des Beschlusses des FG den Bescheid vom 27.06.2023 betreffend die Festsetzung von Aussetzungszinsen in voller Höhe von der Vollziehung auszusetzen.Das FA beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die gemäß § 128 Abs. 3 FGO zulässige Beschwerde des Antragstellers ist (lediglich) insoweit begründet, als AdV hinsichtlich der für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis 27.03.2023 festgesetzten Aussetzungszinsen betreffend die Einkommensteuer für 2002 und Solidaritätszuschlag für 2002 in Höhe eines Differenzzinssatzes von 0,35 Prozent je Monat zu gewähren ist. Der Beschluss des FG, das die AdV des Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 27.06.2023 abgelehnt hat, ist deshalb in dem tenorierten Umfang zu ändern. Im Übrigen ist die Beschwerde des Antragstellers unbegründet.
1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte zur Folge hätte.
Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen. Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV), BFHE 278, 27, BStBl II 2023, 12, m.w.N.).
2. Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen. Für den Zinslauf bestimmt § 237 Abs. 2 AO, dass Zinsen vom Tag des Eingangs des außergerichtlichen Rechtsbehelfs bei der Behörde, deren Verwaltungsakt angefochten wird, oder vom Tag der Rechtshängigkeit beim Gericht an bis zum Tag, an dem die AdV endet, erhoben werden. Ist die Vollziehung erst nach dem Eingang des außergerichtlichen Rechtsbehelfs oder erst nach der Rechtshängigkeit ausgesetzt worden, so beginnt die Verzinsung mit dem Tag, an dem die Wirkung der AdV beginnt. Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO).
3. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall bei der gebotenen summarischen Prüfung vor. Durch die Klagerücknahme in dem Verfahren 9 K 174/13 wegen Einkommensteuer für 2002, dessen Bescheid von der Vollziehung ausgesetzt war, ist die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage endgültig erfolglos geblieben. Die für 2002 geschuldete Einkommensteuer nebst Solidaritätszuschlag war daher zu verzinsen.
a) Entgegen der Auffassung des Antragstellers hat das FG zu Recht entschieden, dass der vorliegende "innere Zusammenhang mit dem Steuerjahr 2001" im Hinblick auf die Festsetzung von Aussetzungszinsen keine Gesamtbetrachtung der Jahre 2001 und 2002 verlangt. Eine solche Vorgehensweise ist im Gesetz nicht angelegt. Vielmehr knüpft der Gesetzesbefehl des § 237 Abs. 1 und 2 AO nach seinem Wortlaut eindeutig an den konkret von der Vollziehung ausgesetzten Verwaltungsakt ‑‑hier den im Verfahren 9 K 174/13 erfolglos angefochtenen Einkommensteuerbescheid für 2002‑‑ an.
b) Ob der "innere tatsächliche Zusammenhang zwischen den Steuerjahren 2001 und 2002" gegebenenfalls in einem Billigkeitsverfahren über den Zinsverzicht zu berücksichtigen ist, bleibt diesem Verfahren vorbehalten. Die Frage konnte daher im finanzgerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 69 FGO, wie das FG ebenfalls zu Recht ausgeführt hat, dahinstehen. Entsprechendes gilt im vorliegenden Beschwerdeverfahren.
c) Schließlich ist auch die Würdigung des FG, nach der die Beteiligten im Erörterungstermin weder einen Verzicht auf die streitgegenständlichen Aussetzungszinsen nach § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO noch einen dahingehenden (synallagmatischen) "Vertrag" vereinbart haben, nicht zu beanstanden. Gleiches gilt, soweit das FG darauf erkannt hat, dass das FA keine entsprechende Billigkeitsmaßnahme zugesagt oder sich zu einer solchen auf andere Art und Weise (zum Beispiel nach Treu und Glauben) verpflichtet hat oder die Beteiligten eine anderweitige Regelung über die streitgegenständlichen Aussetzungszinsen getroffen haben.
4. Gleichwohl ist die Vollziehung des Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 27.06.2023 ‑‑wenn auch nur‑‑ in dem tenorierten Umfang auszusetzen.
a) Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit ‑‑zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten‑‑ Beschluss vom 08.05.2024 - VIII R 9/23 die Frage zur Entscheidung vorgelegt hat, ob § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO seit dem 01.01.2019 bis zum 15.04.2021 insoweit mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist, als der Zinsberechnung für die Zinsen bei AdV ein Zinssatz von einhalb Prozent pro Monat zugrunde gelegt wird.
Allerdings rechtfertigt dieser Beschluss die AdV des angefochtenen Zinsbescheids nur in dem vorgenannten (tenorierten) Umfang. Denn die vom VIII. Senat des BFH angeführten Argumente im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe (Niedrigzinsphase/Ungleichbehandlung im Vergleich zu den Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO in Höhe von nur noch 0,15 Prozent pro Monat) greifen letztlich nur im Hinblick auf die gesetzliche Spreizung der Zinssätze bei AdV-Zinsen und Nachzahlungszinsen und damit in Höhe von 0,35 Prozent für jeden Monat. Zugleich zielen sie zeitlich jedoch über die Zinsfestsetzung bis zum 15.04.2021 hinaus, so dass die AdV jedenfalls vorliegend ‑‑unabhängig von der Frage, zu welchem Zeitpunkt genau die Niedrigzinsphase geendet hat‑‑ vom 01.01.2019 bis zum Ende des streitigen Zinszeitraums ‑‑hier 27.03.2023‑‑ zu gewähren ist.
b) Ob AdV bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes grundsätzlich nur gewährt werden kann, wenn der Antragsteller hieran ein besonderes berechtigtes (Aussetzungs-)Interesse hat (z.B. BFH-Beschlüsse vom 10.02.1984 - III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454; vom 01.04.2010 - II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558; vom 09.03.2012 - VII B 171/11, BFHE 236, 206, BStBl II 2012, 418 sowie vom 15.04.2014 - II B 71/13), bedarf im Streitfall keiner Entscheidung. Denn das Vorliegen eines solchen wird insbesondere bejaht, wenn ‑‑wie vorliegend‑‑ der BFH die vom Antragsteller als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hat (z.B. BFH-Beschluss vom 01.04.2010 - II B 168/09; BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558, Rz 10, m.w.N.).
c) Danach ermittelt sich der auszusetzende Betrag wie folgt:
Steuerart
zu verzinsender Betrag
Zinszeitraum / volle Monate
Differenzzins 0,35 %
Einkommensteuer 2002
199.750 €
01.01.2019 bis 27.03.2023 / 50 Monate
34.956,25 €
Solidaritätszuschlag 2002
10.950 €
01.01.2019 bis 27.03.2023 / 50 Monate
1.916,25 €
5. Im Übrigen ist die Beschwerde des Antragstellers ‑‑wie oben ausgeführt‑‑ unbegründet und deshalb zurückzuweisen. Einwände gegen den Zinslauf hat der Antragsteller nicht erhoben. Dahingehende Rechtsfehler zu seinen Lasten sind auch nicht ersichtlich.
Dass die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge haben könnte, ist ebenfalls weder vorgetragen noch ersichtlich. Vielmehr hat der Antragsteller mit Schreiben vom 22.08.2023 vorsorglich den Aufschub jeglicher Vollstreckungsmaßnahmen beantragt, da es angesichts seiner "guten Einkommens- und Vermögensverhältnisse" keiner Zwangsmaßnahmen bedürfe.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.