ECLI:DE:BFH:2024:U.100724.IIIR2.23.0
BFH III. Senat
EStG § 63 Abs 1 S 1, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 3, EStG § 33 Abs 2 S 1, EStG § 33 Abs 2a, EStG § 33b Abs 1, EStG § 33b Abs 2, EStG § 33b Abs 3, AO § 162 Abs 1, DA-KG 2021 Abschn 19.4 Abs 5 S 7, EStG VZ 2018
vorgehend Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern , 17. Juni 2022, Az: 3 K 152/20
Leitsätze
1. Werden im Rahmen der Prüfung der behinderungsbedingten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, sondern wird der Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 1 bis 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) angesetzt, können daneben nicht zusätzlich Aufwendungen angesetzt werden, die entweder bereits durch den Pauschbetrag für den Grundbedarf oder den Behinderten-Pauschbetrag abgegolten werden.
2. Unter bestimmten Voraussetzungen können behinderungsbedingte Fahrtaufwendungen neben dem Behinderten-Pauschbetrag geltend gemacht werden, soweit sie nachgewiesen oder glaubhaft gemacht worden und angemessen sind.
3. Die durch das Gesetz zur Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträge und zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen vom 09.12.2020 eingefügte Pauschalierungsregelung des § 33 Abs. 2a EStG ist erstmals für den Veranlagungszeitraum 2021 anzuwenden.
4. Aus A 19.4 Abs. 5 Satz 7 und dem Vorwort der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz vom 17.09.2021 kann nicht abgeleitet werden, dass die Verwaltung sich selbst binden wollte, die Pauschalierungsregelung des § 33 Abs. 2a EStG bereits für die Veranlagungszeiträume 2017 bis 2020 als Schätzungsregelung anzuwenden.
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 17.06.2022 - 3 K 152/20 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist der Kindergeldanspruch für ein behindertes Kind für den Zeitraum Juli 2018 bis November 2018.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter einer 1959 geborenen Tochter (T). T lebte im Jahr 2018 in einer eigenen Wohnung. Für sie war im Jahr 2018 ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 festgestellt. Seit mindestens 2008 wurde der Klägerin für T fortlaufend Kindergeld bewilligt.
T bezog seit dem 01.07.2018 eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 1.065,61 € brutto/948,39 € netto.
Mit Bescheid vom 20.03.2019 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Juli 2018 bis einschließlich November 2018 auf und forderte das überzahlte Kindergeld in Höhe von 970 € von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass T in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.
In dem dagegen geführten Einspruchsverfahren reichte die Klägerin eine Aufstellung der von T durchgeführten Fahrten ein, aus der sich unter anderem folgende regelmäßige Fahrten ergaben:
Zur Selbsthilfegruppe 2 x monatlich
11,0 km
22,0 km
Zum Facharzt 1 x monatlich
1,5 km
1,5 km
Zur Fachambulanz 1 x monatlich
6,5 km
6,5 km
Zur Physiotherapie 2 x monatlich
2,6 km
5,2 km
Summe
35,2 km
Die Familienkasse wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 23.03.2020 als unbegründet zurück und ging weiter davon aus, dass die T zur Verfügung stehenden Mittel ausreichten, damit T sich selbst unterhalten konnte.
Dabei ging die Familienkasse für den Gesamtzeitraum Juli 2018 bis November 2018 von folgender Berechnung aus:
Bedarf
Einnahmen
Allgemeiner Lebensbedarf
3.750 €
Rente netto
4.742 €
Behinderten-Pauschbetrag
442 €
./. Werbungskosten
- 43 €
Nicht erstattete Krankheitskosten
225 €
./. Kostenpauschale
- 75 €
Tatsächlich glaubhaft gemachte Fahrtkosten
53 €
4.470 €
4.624 €
Hinsichtlich der geltend gemachten behinderungsbedingten Fahrtkosten lehnte die Familienkasse einen pauschalen Ansatz ab und verlangte einen Nachweis oder eine Glaubhaftmachung der Durchführung der Fahrten. Insoweit erkannte sie die Fahrten zur Apotheke und zum Psychotherapeuten mangels Angaben zur Häufigkeit nicht an. Die Fahrten zur Mutter, zu Beerdigungen und zu Rechtsberatungen sah die Familienkasse als nicht behinderungsbedingt an. Ebenso wenig erkannte sie die geltend gemachten Kosten für die Nahverkehrskarte an.
Mit der hiergegen gerichteten Klage machte die Klägerin geltend, dass anstelle der tatsächlich glaubhaft gemachten Fahrtkosten ein Pauschbetrag in Höhe von 75 € pro Monat (entspricht 3 000 km pro Jahr zu je 0,30 €) zu berücksichtigen sei.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid auf. Dabei ging es von folgender, eine Unterdeckung ergebenden Monatsberechnung aus:
Bedarf
Einnahmen
Allgemeiner Lebensbedarf
750,00 €
Rente netto
948,40 €
Behinderten-Pauschbetrag
88,40 €
./. Werbungskosten
8,60 €
Krankheitskosten
45,00 €
./. Kostenpauschale
15,00 €
Fahrtkosten
75,00 €
958,40 €
924,80 €
Zur Begründung des Ansatzes für die Fahrtkosten verwies das FG darauf, dass sich aus A 19.4 Abs. 5 Satz 7 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG 2021) vom 17.09.2021 (BStBl I 2021, 1598) unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung die Pflicht ergebe, pauschale monatliche Fahrtkosten in Höhe von 75 € anzuerkennen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2024, 1115 veröffentlicht.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG ist auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass T im Streitzeitraum als behindertes Kind kindergeldrechtlich zu berücksichtigen ist.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Weitere Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, sofern nicht aufgrund der Übergangsregelung des § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19.07.2006 (BGBl I 2006, 1652), inzwischen § 52 Abs. 32 Satz 1 EStG, weiterhin die vorher geltende Altersgrenze (Vollendung des 27. Lebensjahres) maßgeblich geblieben ist.
a) Das FG hat festgestellt, dass für T im Jahr 2018 ein GdB von 80 festgestellt war. Feststellungen dazu, welcher Art diese Behinderung ist und dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres ‑‑beziehungsweise im Falle des Eingreifens der Übergangsregelung vor Vollendung des 27. Lebensjahres‑‑ eingetreten ist, hat das FG nicht getroffen. Solche Feststellungen sind insbesondere auch nicht deshalb entbehrlich, weil das FG festgestellt hat, dass die Klägerin für T seit mindestens 2008 Kindergeld bezogen hat.
b) Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann (Senatsurteil vom 15.12.2021 - III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 14, m.w.N.).
aa) Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (Senatsurteile vom 20.04.2023 - III R 7/21, BFHE 280, 223, BStBl II 2023, 911, Rz 15, m.w.N. und vom 15.12.2021 - III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 15, m.w.N.). Diese Prüfung hat für jeden Monat gesondert zu erfolgen (Senatsurteil vom 20.04.2023 - III R 7/21, BFHE 280, 223, BStBl II 2023, 911, Rz 15, m.w.N.).
bb) Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, insbesondere solche für Hilfen bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, ebenso zum Beispiel auch Wäsche, Erholung und typische Erschwernisaufwendungen (Senatsurteile vom 20.04.2023 - III R 7/21, BFHE 280, 223, BStBl II 2023, 911, Rz 16, m.w.N. und vom 31.08.2006 - III R 71/05, BFHE 214, 544, BStBl II 2010, 1054, unter II.2.). Diese können einzeln nachgewiesen oder mit dem maßgeblichen Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) angesetzt werden (Senatsurteil vom 20.04.2023 - III R 7/21, BFHE 280, 223, BStBl II 2023, 911, Rz 16, m.w.N.).
cc) Werden die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, sondern der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag angesetzt, können daneben nicht zusätzlich Aufwendungen angesetzt werden, die entweder bereits durch den Pauschbetrag für den Grundbedarf (BFH-Urteil vom 12.12.2012 - VI R 101/10, BFHE 240, 50, BStBl II 2015, 651, unter II.2.b aa zu Besuchsfahrten zur Familie) oder den Behinderten-Pauschbetrag (Senatsurteil vom 31.08.2006 - III R 71/05, BFHE 214, 544, BStBl II 2010, 1054, unter II.2.) abgegolten werden.
Angesetzt werden kann dagegen ein nicht vom Behinderten-Pauschbetrag erfasster behinderungsbedingter Sonderbedarf. Für diesen gilt allerdings ‑‑vorbehaltlich des Bestehens weiterer gesetzlicher Pauschalen‑‑ das allgemeine Erfordernis, dass die Aufwendungen dem Grunde und der Höhe nach substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen sind (vgl. BFH-Urteil vom 12.12.2012 - VI R 101/10, BFHE 240, 50, BStBl II 2015, 651, unter II.2.b bb). Steht ein behinderungsbedingter Mehrbedarf dem Grunde nach zur Überzeugung des Gerichts fest, ist er bei fehlendem Nachweis der Höhe nach gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO) zu schätzen (BFH-Urteil vom 12.12.2012 - VI R 101/10, BFHE 240, 50, BStBl II 2015, 651, unter II.2.b bb).
dd) Nach § 33b Abs. 1 EStG wird der Behinderten-Pauschbetrag wegen der Aufwendungen für die Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, für die Pflege sowie für einen erhöhten Wäschebedarf gewährt. Für die genannten Kategorien von Aufwendungen kann das Wahlrecht zwischen Einzelnachweis und Pauschbetrag im jeweiligen Veranlagungszeitraum nur einheitlich ausgeübt werden (§ 33b Abs. 1 Satz 2 EStG). Dies gilt entsprechend für die im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG anzustellende Berechnung.
ee) (1) Nicht unter die in § 33b Abs. 1 EStG genannten drei Kategorien von Aufwendungen fallen und daher nicht vom Behinderten-Pauschbetrag abgedeckt werden Operationskosten sowie Heilbehandlungen, Kuren, Arznei- und Arztkosten (Senatsurteile vom 21.06.2001 - III R 58/98, BFH/NV 2001, 1261, unter II.1.e und vom 04.11.2004 - III R 38/02, BFHE 208, 155, BStBl II 2005, 271, unter II.1.a; ebenso die Verwaltung, s. dazu R 33b Abs. 1 Satz 4 der Einkommensteuer-Richtlinien 2012). Sie können daher neben dem Behinderten-Pauschbetrag berücksichtigt werden.
(2) Auch der Ansatz von Fahrtkosten kommt neben dem Behinderten-Pauschbetrag in Betracht. So hat die Rechtsprechung bei Personen mit schwerer Körperbehinderung, die in ihrer Geh- und Stehfähigkeit so erheblich beschränkt sind, dass sie sich außerhalb des Hauses nur mit Hilfe eines Fahrzeugs fortbewegen können, grundsätzlich alle Kraftfahrzeug-Aufwendungen für Privatfahrten neben dem Behinderten-Pauschbetrag anerkannt, soweit sie einen angemessenen Umfang nicht überschreiten (z.B. Senatsurteil vom 02.10.1992 - III R 63/91, BFHE 169, 427, BStBl II 1993, 286, unter 2., m.w.N., betreffend den Abzug von Fahrtkosten als außergewöhnliche Belastung). In diesem Fall wurde die Angemessenheitsgrenze des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG auf 15 000 km pro Jahr festgelegt (Senatsurteil vom 02.10.1992 - III R 63/91, BFHE 169, 427, BStBl II 1993, 286, unter 3.; vgl. auch BFH-Urteil vom 21.11.2018 - VI R 28/16, BFH/NV 2019, 265, Rz 13 und BFH-Beschluss vom 15.06.2010 - VI B 11/10, BFH/NV 2010, 1631, Rz 4 ff.).
Auf Basis dieser Rechtsprechung hat die Verwaltung auch für Personen, die zwar nicht außergewöhnlich gehbehindert (Merkzeichen aG), blind (Merkzeichen Bl) oder hilflos (Merkzeichen H), aber geh- und stehbehindert (GdB von mindestens 80 oder GdB von mindestens 70 und Merkzeichen G) sind, eine Angemessenheitsgrenze bezüglich Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten, soweit sie nachgewiesen oder glaubhaft gemacht worden sind, vorgesehen und diese auf 3 000 km im Jahr festgelegt (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen ‑‑BMF‑‑vom 11.04.1994, BStBl I 1994, 256; abgelöst durch das u.a. für den hier streitigen Veranlagungszeitraum 2018 gültige BMF-Schreiben vom 29.04.1996, BStBl I 1996, 446).
Ebenso hat die Rechtsprechung bei den vorgenannten Gruppen von behinderten Personen ohne Merkzeichen aG, Bl oder H die zusätzlich zum Behinderten-Pauschbetrag erfolgende Berücksichtigung von Kosten für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten als außergewöhnliche Belastung anerkannt, soweit sie nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden und angemessen sind, wobei Aufwendungen für Fahrten bis zu 3 000 km im Jahr als angemessen angesehen wurden (Senatsbeschluss vom 21.05.2004 - III B 171/03, BFH/NV 2004, 1404, unter 1.; BFH-Urteil vom 17.11.2004 - VIII R 18/02, BFH/NV 2005, 691, unter II.1.b).
(3) Hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Aufwendungen hat der Senat bereits entschieden, dass einzeln nachgewiesene Kraftfahrzeug-Kosten nur insoweit im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG angemessen sind, als sie die in den Einkommen- und Lohnsteuerrichtlinien für die Berücksichtigung von Kraftfahrzeug-Kosten als Werbungskosten und Betriebsausgaben festgesetzten Pauschbeträge nicht übersteigen (Senatsurteil vom 18.12.2003 - III R 31/03, BFHE 205, 74, BStBl II 2004, 453, unter II.2.). Wer auf ein eigenes Fahrzeug verzichtet, zum Beispiel weil die tatsächlichen Kosten eines Kraftfahrzeugs wegen der geringen Fahrleistung bei Ansatz der Pauschbeträge nicht zu finanzieren sind, kann stattdessen die tatsächlich angefallenen Kosten eines ‑‑behinderungsgerechten‑‑ öffentlichen Verkehrsmittels, gegebenenfalls auch eines Taxis, als außergewöhnliche Belastung geltend machen (Senatsurteil vom 18.12.2003 - III R 31/03, BFHE 205, 74, BStBl II 2004, 453, unter II.2., mit Anmerkung Jäger, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2004, 450).
c) Durch das Gesetz zur Erhöhung der Behinderten-Pauschbeträge und zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen vom 09.12.2020 (BGBl I 2020, 2770, BStBl I 2020, 1355) wurde § 33 Abs. 2a EStG eingefügt, der eine behinderungsbedingte Fahrtkostenpauschale regelt. Diese erhalten unter anderem Menschen mit einem GdB von mindestens 80 (§ 33 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 EStG). Die Pauschale beträgt in diesem Fall 900 € (§ 33 Abs. 2a Satz 3 EStG). Die Regelung ist gemäß § 52 Abs. 33c EStG i.d.F. des vorgenannten Gesetzes erstmals für den Veranlagungszeitraum 2021 anzuwenden. Ziel dieser Neuregelung war es, die betroffenen Steuerpflichtigen von den bestehenden Nachweispflichten und die Finanzämter von Prüfungstätigkeiten zu entlasten. Anstelle des bisherigen individuellen und aufwändigen Einzelnachweises der behinderungsbedingt entstandenen Fahrtkosten sollte eine Pauschbetragsregelung in Höhe der bisher geltenden Maximalbeträge eingeführt werden. Damit sollten die durch die Behinderung veranlassten Aufwendungen für unvermeidbare Fahrten abgegolten werden (BTDrucks 19/21985, S. 15 f.).
2. Bei Anwendung der vorgenannten Rechtsgrundsätze ist das FG auf Basis seiner bisherigen tatsächlichen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass T außerstande war, sich selbst zu unterhalten.
a) Zu Recht hat das FG beim monatlichen Bedarf der T den Grundbedarf in Höhe von 1/12 des im Veranlagungszeitraum 2018 anzusetzenden Grundfreibetrags von 9.000 €, mithin 750 €, berücksichtigt. Des Weiteren hat es zu Recht den Behinderten-Pauschbetrag, der bei einem GdB von 80 im Veranlagungszeitraum 2018 1.060 € betrug, zeitanteilig berücksichtigt, woraus sich weitere 88,33 € pro Monat ergeben. Auch medizinische Aufwendungen, die das FG in Höhe von 45 € festgestellt hat, können neben dem Behinderten-Pauschbetrag als behinderungsbedingter Sonderbedarf angesetzt werden.
b) Zu Unrecht hat das FG hingegen eine Fahrtkostenpauschale in Höhe von 75 € pro Monat angesetzt.
aa) Der Abzug der Fahrtkostenpauschale des § 33 Abs. 2a EStG scheitert daran, dass diese für den Veranlagungszeitraum noch keine Anwendung findet.
bb) Da nach den bisherigen Feststellungen des FG nicht davon ausgegangen werden kann, dass bei T eines der Merkzeichen aG, Bl oder H vorlag, kann sie nicht dem Kreis der behinderten Menschen zugerechnet werden, bei dem alle Fahrtkosten in angemessenem Umfang anerkannt werden können.
cc) Soweit das FG eine Schätzung von Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 Abs. 1 AO ‑‑im Streitfall: das Vorliegen von durch die Behinderung veranlassten unvermeidbaren Fahrten‑‑ für möglich hält, da es den steuererheblichen Sachverhalt nicht mit letzter Sicherheit ermitteln könnte, ist ihm nicht beizupflichten. Denn nach der Rechtsprechung des BFH erlaubt § 162 Abs. 1 AO nur die Schätzung quantitativer Größen, nicht aber die Schätzung rein qualitativer Besteuerungsmerkmale im Sinne der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Besteuerung (BFH-Urteil vom 03.11.2010 - I R 4/10, BFH/NV 2011, 800, Rz 18). Zudem fehlt es auch an der vom FG angenommenen Unaufklärbarkeit.
T hat im Einspruchsverfahren mit dem vom FG in Bezug genommenen Schreiben vom 04.03.2020 die von ihr durchgeführten Fahrten detailliert dargelegt. Insoweit konnte das FG im Einzelnen prüfen, ob es sich um durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten handelte oder ob diese bereits ‑‑wie von der Familienkasse bezüglich der Fahrten zur Mutter, zu Beerdigungen und zu Rechtsberatungen angenommen‑‑ durch den angesetzten Grundbedarf abgegolten waren. Soweit T die Anzahl der Fahrten zur Apotheke und zum Psychotherapeuten nicht bezifferte, hätte das FG versuchen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären, oder im Falle der Nichtaufklärbarkeit nach Beweislastgrundsätzen entscheiden müssen.
Überdies widerspricht die pauschale Schätzung des FG auch dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, der sich nach den Gesetzesmaterialien dahin konkretisieren lässt, dass die Pauschbetragsregelung erst ab dem Veranlagungszeitraum 2021 an die Stelle "des bisherigen individuellen und aufwändigen Einzelnachweises der behinderungsbedingt entstandenen Fahrtkosten" treten sollte (vgl. BTDrucks 19/21985, S. 15 f.).
dd) Ein Ansatz von Fahrtkosten in Höhe von 75 € pro Monat war auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung gerechtfertigt.
(1) Verwaltungsvorschriften können die Finanzverwaltung unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes binden und einen auch von den Finanzgerichten zu beachtenden Rechtsanspruch der Steuerpflichtigen begründen, nach Maßgabe der Ermessensrichtlinie behandelt zu werden, soweit sie eine ausreichende Rechtsgrundlage haben, der Gesetzeslage nicht widersprechen und Ermessenserwägungen der Finanzbehörden festschreiben (Senatsurteil vom 09.09.2020 - III R 37/19, BFH/NV 2021, 449, Rz 22, m.w.N.). Die Finanzgerichte und der BFH können jedoch nur unterbinden, dass die Finanzverwaltung in Einzelfällen, die offensichtlich von der Verwaltungsanweisung gedeckt werden, von dieser ohne zwingende Sachgründe in willkürlicher Weise abweicht (BFH-Urteil vom 04.07.2023 - VIII R 29/20, BFHE 281, 1, BStBl II 2023, 1005, Rz 18, m.w.N.). Die Finanzgerichte und der BFH dürfen die Verwaltungsanweisung bei der Prüfung eines Verstoßes gegen die Selbstbindung der Verwaltung zudem nicht selbst auslegen, sondern nur überprüfen, ob deren Auslegung durch die Behörde möglich ist. Maßgeblich ist nicht, wie das FG oder der BFH die Verwaltungsanweisung verstehen, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen will (BFH-Urteil vom 04.07.2023 - VIII R 29/20, BFHE 281, 1, BStBl II 2023, 1005, Rz 22, m.w.N.).
(2) A 19.4 Abs. 5 Satz 7 DA-KG 2021 bestimmt in Übereinstimmung mit dem Gesetzestext des § 33 Abs. 2a EStG, dass für Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste Fahrten eine jährliche Pauschale von 900 € berücksichtigt wird, wenn ein GdB von mindestens 80 oder ein GdB von mindestens 70 und das Merkzeichen G vorliegt. Bereits aus A 19.4 Abs. 5 Satz 9 DA-KG 2021, der bestimmt, dass "Abweichend von § 33 Abs. 2a EStG…" unter bestimmten Voraussetzungen auch Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste Fahrten ohne Vorliegen eines GdB anzuerkennen sein können, ergibt sich, dass die vorangehenden Sätze 7 und 8 nur die für 2021 geltende Rechtslage wiedergeben und mit ihnen keine Ermessensentscheidungen gelenkt werden sollen. Zudem ergibt sich aus der vom FG zitierten Passage aus dem Vorwort der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz ("Die DA-KG 2021 gibt auch die Rechtslage der Jahre 2017 bis 2020 wieder. Sie ist in allen noch nicht bestandskräftig festgesetzten Kindergeldfällen anzuwenden, soweit die zeitliche Anwendbarkeit nicht beispielsweise durch Gesetz oder innerhalb der Dienstanweisung selbst ausdrücklich eingeschränkt wird."), dass die Verwaltung die unterschiedlichen Rechtsstände in der Verwaltungsvorschrift abbilden wollte. Insoweit weist die Familienkasse zu Recht darauf hin, dass die Einschränkung der zeitlichen Anwendbarkeit des § 33 Abs. 2a EStG aus der diesbezüglichen Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 33c EStG und damit aus dem Gesetz selbst folgt. Nur dieses Verständnis der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz entspricht dem Verständnis der Verwaltung. Soweit das Bundeszentralamt für Steuern davon abgesehen hat, die unterschiedlichen Rechtsstände für die Jahre 2017 bis 2021 vollständig darzustellen, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass die Verwaltung ihre Gesetzesbindung missachten wollte.
3. Die Sache ist nicht spruchreif.
Dem FG wird hiermit die Gelegenheit gegeben, im zweiten Rechtsgang die erforderlichen, bisher jedoch fehlenden tatsächlichen Feststellungen nachzuholen, welche insbesondere die Beurteilung ermöglichen, ob und in welchem Umfang im Streitzeitraum Aufwendungen für durch die Behinderung veranlasste unvermeidbare Fahrten (zum Beispiel mit dem Kraftfahrzeug der Klägerin, mit dem öffentlichen Personennahverkehr oder mit einem Taxi) vorlagen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.