ECLI:DE:BFH:2023:B.140623.IXB75.22.0
BFH IX. Senat
FGO § 155 S 1, ZPO § 227 Abs 1, ZPO § 227 Abs 2, GG Art 103 Abs 1, FGO § 96 Abs 2, FGO § 119 Nr 3
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht , 22. August 2022, Az: 4 K 77/18
Leitsätze
NV: Zu den erheblichen Gründen i.S. des § 227 Abs. 1 ZPO gehört auch die Verpflichtung zur Absonderung in häuslicher Quarantäne aufgrund der Corona-Pandemie. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Kläger nicht zumutbar auf eine anderweitige Vertretung verwiesen werden kann (Anschluss an BSG, Beschlüsse vom 20.04.2021 - B 5 R 18/21 B, juris und vom 02.08.2022 - B 7 AS 10/22 B, juris).
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts vom 22.08.2022 - 4 K 77/18 aufgehoben.
Die Sache wird an das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
Die Beschwerde ist begründet. Das Finanzgericht (FG) hat in Abwesenheit des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) verhandelt und entschieden, obwohl es den Termin zur mündlichen Verhandlung hätte verlegen müssen. Es hat damit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Das angefochtene Urteil konnte deshalb keinen Bestand haben. Der Senat macht von der Möglichkeit der Zurückverweisung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gebrauch.
1. a) Einem Verfahrensbeteiligten wird rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, §§ 96 Abs. 2, 119 Nr. 3 FGO) versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl er einen Antrag auf Terminsverlegung gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat. Das FG ist in einem solchen Fall verpflichtet, den anberaumten Verhandlungstermin zu verlegen (z.B. Senatsbeschluss vom 22.10.2021 - IX B 15/21, BFH/NV 2022, 29).
b) Nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann das Gericht einen Termin aus erheblichen Gründen vor seiner Durchführung aufheben oder (unter Bestimmung eines neuen Termins) verlegen. Welche Gründe als erheblich anzusehen sind, richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls. Zu den erheblichen Gründen i.S. des § 227 ZPO gehört auch die Verpflichtung zur Absonderung in häuslicher Quarantäne aufgrund der Corona-Pandemie. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Kläger nicht zumutbar auf eine anderweitige Vertretung verwiesen werden kann (Bundessozialgericht -BSG-, Beschlüsse vom 20.04.2021 - B 5 R 18/21 B, juris und vom 02.08.2022 - B 7 AS 10/22 B, juris). Der Senat schließt sich der Auffassung des BSG an.
c) Auf Verlangen des Vorsitzenden sind die erheblichen Gründe glaubhaft zu machen (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO). Die Glaubhaftmachung erfordert nicht den vollen Beweis, wohl aber die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Umstände, aus denen der erhebliche Grund abgeleitet wird, tatsächlich vorliegen. Die erhöhten Anforderungen an die Darlegung eines "in letzter Minute" geltend gemachten erheblichen Grundes, insbesondere bei kurzfristiger Erkrankung eines Beteiligten oder seines Prozessvertreters (vgl. Senatsbeschluss vom 10.03.2005 - IX B 171/03, BFH/NV 2005, 1578), sind auf den Fall einer rechtlichen Unmöglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wegen einer infektionsschutzrechtlichen Pflicht zur Absonderung nicht anwendbar (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.07.2022 - A 9 S 696/22, juris, Rz 7).
2. Nach diesen Grundsätzen hätte das FG den auf Montag, den 22.08.2022 um 11:00 Uhr anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung aufheben müssen, denn der Kläger war aus rechtlichen Gründen (Absonderungspflicht) daran gehindert, den Termin wahrzunehmen.
a) Mit Fax-Schreiben von Sonntag, den 21.08.2022, hat der im finanzgerichtlichen Verfahren nicht vertretene Kläger um Aufhebung und Verlegung des Termins gebeten und zur Begründung ausgeführt, es hätten sich bei ihm am Vortag (Samstag, 20.08.2022) Symptome einer Grippe (Husten, Fieber und Halsschmerzen) eingestellt. Er habe deshalb am Sonntag einen Corona-Selbsttest durchgeführt, der positiv ausgefallen sei. Er sei danach verpflichtet, sich in den nächsten fünf Tagen zu isolieren und könne deshalb an der Verhandlung nicht teilnehmen.
b) Der Einzelrichter des FG hat den Kläger am Verhandlungstag schriftlich aufgefordert, "die Gründe für die Verlegung entsprechend durch einen personifizierten Covid-Test glaubhaft zu machen". Das Schreiben ist dem Kläger am Verhandlungstag um kurz nach 8:00 Uhr per Fax übermittelt worden. Bei Eröffnung der mündlichen Verhandlung um 11:00 Uhr erschien für den Kläger niemand. Das Gericht wartete sodann bis 11:20 Uhr ab, ob noch eine Äußerung des Klägers eingehen würde und trat dann nach erneutem Aufruf in die mündliche Verhandlung ein. Der Kläger war mit der Ladung gemäß § 91 Abs. 2 FGO darauf hingewiesen worden, dass auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden könne. Die Sitzung endete mit dem Beschluss, dass eine Entscheidung zugestellt werden solle. Am 23.08.2022 übergab der Einzelrichter das von ihm um 11:15 Uhr elektronisch unterzeichnete Urteil der Geschäftsstelle.
c) Der Kläger war aus Rechtsgründen gehindert, seine häusliche Umgebung zu verlassen und an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Rechtsgrundlage ist die Allgemeinverfügung des Kreises Schleswig-Flensburg über die Anordnung zur Absonderung (Isolation) vom 26.07.2022 (gültig ab 01.08.2022, abrufbar unter: www.schleswig-flensburg.de/Aktuelles/Bekanntmachungen/Archiv/). Die anordnende Wirkung trat u.a. für Personen ein, bei denen ein selbst vorgenommener SARS-CoV-2 Antigenschnelltest ("Selbsttest") auf das Vorhandensein von SARS-CoV-2-Viren ein positives Ergebnis aufweist. Weitere Voraussetzungen waren nicht erforderlich. Insbesondere verlangte die anordnende Behörde keinerlei Nachweis oder Glaubhaftmachung.
Personen, die der Absonderungspflicht unterlagen, waren verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnisnahme auf direktem Weg in ihre Häuslichkeit zu begeben und sich dort für fünf Tage oder bis zum Vorliegen eines negativen PCR-Tests aufzuhalten. Sie durften ihre Häuslichkeit innerhalb dieser Frist nur einmal verlassen, um das Testergebnis durch eine molekularbiologische Untersuchung in einem Testzentrum, einer Teststation oder bei einer Ärztin oder einem Arzt bestätigen zu lassen.
d) Die Allgemeinverfügung des Kreises Schleswig-Flensburg entfaltet Tatbestandswirkung. Das bedeutet, dass ihre rechtliche Richtigkeit von anderen (sachlich für den Infektionsschutz nicht zuständigen) Behörden und Gerichten nicht überprüft oder infrage gestellt werden darf. An den Nachweis der rechtlichen Verhinderung wegen einer Absonderungspflicht dürfen andere Behörden auch keine strengeren Anforderungen stellen als die anordnende Behörde. Die rechtliche Verhinderung des Klägers bedurfte deshalb keiner weiteren Glaubhaftmachung.
e) Das Verlangen des FG, einen personifizierten Covid-Test beizubringen, wäre allenfalls im Hinblick auf eine krankheitsbedingte Verhinderung des Klägers von Belang gewesen. Darum ging es jedoch nicht. Der Kläger hat nicht geltend gemacht, wegen einer akuten Erkrankung an der Verhandlung nicht teilnehmen zu können, sondern aus Rechtsgründen an der Teilnahme gehindert zu sein. Im Übrigen war das Verlangen auch unerfüllbar. Soweit dem FG ein personifizierter Schnelltest genügt hätte, war das Verlangen aus rechtlichen Gründen unerfüllbar, denn der Kläger durfte nach positivem Selbsttest die eigene Häuslichkeit während der Quarantäne nur einmalig und nur für die Kontrolltestung verlassen. Dazu war aber eine molekularbiologische Untersuchung (z.B. PCR-Test) erforderlich, und ein PCR-Test-Ergebnis war innerhalb von drei Stunden aus tatsächlichen Gründen nicht erreichbar. Das ist allgemein bekannt und bedarf keiner tatsächlichen Feststellungen. Nicht zuletzt hätte der Kläger, der in der Nähe von Flensburg wohnt, die mündliche Verhandlung in Kiel nach Durchführung eines PCR-Tests ohnehin aus Zeitgründen nicht mehr erreichen können. Eine Vertretung des Klägers in der mündlichen Verhandlung konnte ebenfalls nicht erwartet werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.