ECLI:DE:BFH:2023:B.260423.XB102.22.0
BFH X. Senat
GG Art 103 Abs 1, FGO § 76 Abs 2, FGO § 91a Abs 1, FGO § 96 Abs 2, FGO § 115 Abs 2, EStG § 3 Nr 63, EStG § 22 Nr 5, EStG VZ 2017
vorgehend FG München, 08. September 2022, Az: 11 K 1328/22
Leitsätze
1. NV: Das FG ist nicht grundsätzlich verpflichtet, einen Prozessbevollmächtigten oder einen selbst rechtskundigen Beteiligten, der auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verzichtet hat, darauf hinzuweisen, dass auch eine Teilnahme im Wege der Videokonferenz möglich ist (§ 91a FGO).
2. NV: Für die Steuerbarkeit der Leistungen aus einem Pensionsfonds gemäß § 22 Nr. 5 EStG kommt es nicht darauf an, ob die Steuerbefreiung der früheren Beitragszahlungen gemäß § 3 Nr. 63 EStG materiell-rechtlich zu Recht gewährt worden ist (vgl. Senatsurteil vom 20.09.2016 - X R 23/15, BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Rz 15).
Tenor
Die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 08.09.2022 - 11 K 1328/22 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Kapitalabfindung in Form einer Einmalauszahlung aus einer Pensionskasse nach § 22 Nr. 5 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerbar ist. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) hatte eine entsprechende Zahlung der X vom 09.11.2017 in Höhe von 32.725 € mit Einkommensteuerbescheid 2017 vom 06.05.2019 als sonstige Einkünfte erfasst und der Besteuerung unterworfen. Der dagegen gerichtete Einspruch der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), mit der sie geltend machen, die geleisteten Beiträge seien zu Unrecht gemäß § 3 Nr. 63 EStG gefördert worden, sodass es nicht zu einer nachgelagerten Besteuerung der Kapitalabfindung kommen dürfe, blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) bestimmte mit Schreiben vom 18.08.2022 einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 08.09.2022. Mit einem weiteren Schreiben vom 24.08.2022 teilte es den Beteiligten in Form eines richterlichen Hinweises nach § 79 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit, dass die streitige Einmalzahlung der Pensionskasse nach vorläufiger Beurteilung anhand der Aktenlage gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG steuerbar sei. Die Kläger würden daher gebeten, die Erfolgsaussichten ihrer Klage zu überdenken.
Das FA beantragte mit Schriftsatz vom 29.08.2022, an der mündlichen Verhandlung gemäß § 91a FGO per Videokonferenz teilnehmen zu dürfen.
Die Klägerin, die Steuerberaterin ist und sich selbst und auch den Kläger vertrat, teilte dem FG mit Schriftsatz vom 02.09.2022 mit, dass die Klage nicht zurückgenommen werde. Mit weiterem Schriftsatz vom 05.09.2022 bat die Klägerin das FG zudem, am 08.09.2022 ohne sie zu verhandeln, da von ihrer Seite alle Argumente vorgebracht worden seien.
Mit Beschluss (ebenfalls) vom 05.09.2022 gestattete das FG dem Vertreter des FA gemäß § 91a Abs. 1 FGO, sich während des Termins zur mündlichen Verhandlung am 08.09.2022 an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen.
Gemäß Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 08.09.2022 erschien ‑‑wie angekündigt‑‑ für die Kläger niemand. Der Vertreter des FA nahm per Videoübertragung an der mündlichen Verhandlung teil. Mit Urteil vom selben Tag wies das FG die Klage ab.
Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrer Beschwerde, mit der sie die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) und wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) sowie zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) begehren. Zur Begründung des Verfahrensmangels trägt die Klägerin u.a. vor, sie sei auf die Möglichkeit der Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz nicht hingewiesen worden. Das Schreiben des FG vom 05.09.2022, mit dem ihr zur Kenntnis gegeben worden sei, dass der Vertreter des FA von diesem Recht Gebrauch machen werde, sei ihr erst nach dem Verhandlungstermin vom 08.09.2022 zugegangen. Sie habe keine Möglichkeit mehr gehabt, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Ihre Anreise-Entfernung sei noch um 20 km länger gewesen. Auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung habe sie letztlich wegen permanenter zeitlicher Überlastung verzichtet. An einer Videokonferenz hätte sie jedoch auf jeden Fall teilgenommen. Das FG hätte dies auch von Amts wegen veranlassen können.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die von den Klägern geltend gemachten Revisionszulassungsgründe liegen, soweit sie überhaupt in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gebotenen Form geltend gemacht worden sind, nicht vor.
1. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen.
a) Das FG hat dadurch, dass es die Kläger nicht auf die Möglichkeit hingewiesen hat, an der mündlichen Verhandlung im Wege der Videokonferenz teilzunehmen, weder die gerichtliche Hinweis- und Fürsorgepflicht verletzt (§ 76 Abs. 2 FGO) noch gegen das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) verstoßen. Denn auf Umstände, die ein Beteiligter selbst hätte sehen können und müssen, muss ihn das Gericht nicht hinweisen (ständige Rechtsprechung, s. Senatsbeschlüsse vom 10.03.2016 - X B 198/15, BFH/NV 2016, 1042, Rz 13, und vom 21.02.2013 - X B 53/11, BFH/NV 2013, 972, Rz 27). Das gilt insbesondere dann, wenn der Beteiligte ‑‑wie hier‑‑ selbst rechtskundig ist (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13.05.2020 - VIII B 117/19, BFH/NV 2020, 1262, Rz 4, und vom 17.07.2019 - II B 35-37/18, BFHE 265, 14, BStBl II 2020, 394, Rz 10).
Die Regelungen in § 91a FGO über die Möglichkeit, an einer mündlichen Verhandlung im Wege der Videokonferenz teilzunehmen, sind mit Wirkung ab 01.01.2001 durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19.12.2000 (BGBl I 2000, 1757) geschaffen und mit Wirkung ab 01.11.2013 durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videotechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25.04.2013 (BGBl I 2013, 935) neu gefasst worden. Auf die Existenz dieser Regelungen musste das FG die Klägerin als Steuerberaterin nicht hinweisen. Es wäre vielmehr Aufgabe der Klägerin gewesen, sich bei dem FG zu erkundigen, ob dieses über die notwendigen technischen Einrichtungen verfügt, oder aber direkt einen entsprechenden Antrag nach § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO zu stellen.
b) Das FG hätte der Klägerin auch nicht von Amts wegen eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung im Wege der Videokonferenz gestatten müssen.
Die Klägerin hatte mit Schriftsatz vom 05.09.2022 auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verzichtet und dies damit begründet, dass aus ihrer Sicht alle Argumente vorgebracht worden seien. Dass sie, wie sie in der Beschwerdebegründung schreibt, nur wegen zeitlicher Überlastung und wegen der langen Anfahrt auf die Teilnahme verzichtet habe, ging aus dem Schriftsatz vom 05.09.2022 nicht hervor. Für das FG war somit überhaupt nicht ersichtlich, dass hier ein Anlass bestanden hätte, von Amts wegen tätig zu werden. Damit, dass die Klägerin die Regelung des § 91a FGO möglicherweise nicht kannte, musste das FG nicht rechnen.
2. Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.
a) Grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO kommt einer Rechtssache zu, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Außerdem muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärungsfähig sein (ständige Rechtsprechung, s. Senatsbeschluss vom 30.04.2022 - X B 130/21, BFH/NV 2022, 1070, Rz 14, m.w.N.).
Diese Voraussetzungen müssen gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO in der Begründung der Beschwerde dargelegt werden, und zwar mit einem Mindestmaß an Klarheit, Geordnetheit und Verständlichkeit. Zunächst muss der Beschwerdeführer eine bestimmte, für die Entscheidung des Streitfalls erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellen. Dafür ist erforderlich, dass er die entscheidungserhebliche Rechtsfrage hinreichend konkretisiert; nicht ausreichend ist eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Des Weiteren muss die Beschwerdebegründung schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung mit den zu der aufgeworfenen Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen darlegen, weshalb die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist. Dazu wiederum muss ausgeführt werden, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchem Grunde die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig ist (Senatsbeschluss vom 28.09.2022 - X B 168/21, BFH/NV 2023, 43, Rz 47, m.w.N.).
b) Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen ist die vorliegende Beschwerde unzulässig.
Der Beschwerdebegründung lässt sich schon keine allgemein klärungsbedürftige abstrakte Rechtsfrage entnehmen. Mit dem Hinweis auf das Senatsurteil vom 20.09.2016 - X R 23/15 (BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347) und mit den (sehr) knappen Ausführungen zu § 3 Nr. 63 EStG machen die Kläger letztlich nur geltend, dass das FG nach ihrer Auffassung falsch entschieden habe. Die schlichte Rüge einer fehlerhaften Rechtsanwendung ist jedoch grundsätzlich nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu begründen (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsbeschluss vom 21.07.2017 - X B 167/16, BFH/NV 2017, 1447, Rz 19, m.w.N.).
Im Übrigen geht auch der Senat in seinem Urteil in BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Rz 15 ausdrücklich davon aus, dass es nicht darauf ankommt, ob die Steuerbefreiung der Beiträge nach § 3 Nr. 63 EStG materiell-rechtlich zu Recht gewährt worden ist.
3. Dies gilt gleichermaßen für die Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO, da es sich hierbei um einen Unterfall der grundsätzlichen Bedeutung handelt (ebenfalls ständige Rechtsprechung, s. BFH-Beschlüsse vom 29.03.2022 - IX B 18/21, BFH/NV 2022, 720, Rz 3, und vom 31.03.2022 - VI B 88/21, BFH/NV 2022, 722, Rz 15). Auch insoweit entspricht die Beschwerdebegründung nicht den Darlegungserfordernissen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO.
4. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.