ECLI:DE:BFH:2023:B.050423.IB98.21.0
BFH I. Senat
AO § 110 Abs 2 S 1, AO § 110 Abs 2 S 2
vorgehend FG München, 22. November 2021, Az: 7 K 1778/20
Leitsätze
NV: Innerhalb der Frist zur Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (hier: gemäß § 110 AO) müssen grundsätzlich auch die Umstände dargelegt werden, aus denen sich ergibt, dass der Antragsteller die Wiedereinsetzung rechtzeitig nach Behebung des Hindernisses beantragt hat (Bestätigung der Rechtsprechung).
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 22.11.2021 - 7 K 1778/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine zum A-Konzern gehörende GmbH, ist nach einer im Jahr 2004 vollzogenen Verschmelzung Rechtsnachfolgerin der B-GmbH.
Nach Abschluss einer Außenprüfung hinsichtlich der B-GmbH erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) unter dem 15.12.2009 unter Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung einen geänderten Bescheid über Körperschaftsteuer für das Jahr 2003 (Streitjahr), durch den die Körperschaftsteuer auf … € festgesetzt wurde. Der Bescheid ist der von der Klägerin bevollmächtigten Steuerberatungsgesellschaft am 18.12.2009 zugegangen.
Mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 27.04.2010, beim FA eingegangen am 28.04.2010, erhob die Klägerin Einspruch gegen den Körperschaftsteuerbescheid und beantragte wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 der Abgabenordnung (AO). Zur Begründung führte sie aus, die Versäumung der Frist habe auf einem Büroversehen in der Kanzlei ihrer Bevollmächtigten beruht. Die für die Versendung des Einspruchsschreibens zuständige und ansonsten zuverlässige Sekretärin habe das Einspruchsschreiben vor Einholung der Zweitunterschrift nicht versandt, sondern versehentlich in der Gesellschaftsakte abgelegt. In der Sache wandte sich die Klägerin mit dem Einspruch gegen die Versagung des pauschalen Betriebsausgabenabzugs für sog. Drittstaatendividenden und bezog sich dabei auf das Senatsurteil vom 26.11.2008 - I R 7/08 (BFHE 224, 50) und die seinerzeit beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängige Verfassungsbeschwerde der Finanzverwaltung gegen jenes Urteil (Aktenzeichen 2 BvR 862/09). Sie beantragte das Ruhen des Verfahrens bis zum Ergehen der BVerfG-Entscheidung.
Nach einer Sachstandsanfrage der Steuerabteilung der Konzernobergesellschaft der Klägerin (A-AG) teilte das FA dieser mit Schreiben vom 14.05.2019 mit, dass die Bearbeitung des Einspruchs der Klägerin ebenso wie die Bearbeitung der Einsprüche weiterer Firmen des A-Konzerns bis zur Klärung der Anwendbarkeit des Senatsurteils vom 24.07.2018 - I R 75/16 (BFHE 262, 502, BStBl II 2019, 806) zurückgestellt sei. Mit Schreiben vom 31.07.2019 teilte das FA der A-AG mit, dass die endgültige Regelung zur steuerrechtlichen Behandlung des Falles abzuwarten sei. In der Rechtsbehelfsakte des FA befinden sich interne Vermerke von Sachbearbeitern, die die Voraussetzungen für die Gewährung der Wiedereinsetzung als gegeben ansehen.
Mit Schreiben vom 10.01.2020 teilte das FA der Klägerin mit, dass die den Wiedereinsetzungsgrund stützenden Tatsachen nicht glaubhaft gemacht worden seien und dass dem Antrag daher nicht entsprochen werde könne. Die Klägerin ergänzte daraufhin ihren Vortrag und legte u.a. das Original des Einspruchsschreibens vom 13.01.2010 vor.
Mit Einspruchsentscheidung vom 07.07.2020 verwarf das FA den Einspruch der Klägerin wegen verspäteter Einlegung als unzulässig; dem Wiedereinsetzungsantrag sei nicht stattzugeben. Die dagegen erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) München mit Urteil vom 22.11.2021 - 7 K 1778/20 als unbegründet abgewiesen.
Die Klägerin beantragt mit ihrer Beschwerde, die Revision gegen das FG-Urteil zuzulassen.
Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen ‑‑soweit sie den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entsprechend dargetan worden sind‑‑ nicht vor.
1. Das FG hat seine Entscheidung auf drei Gründe gestützt: Es sieht die Monatsfrist für die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags (§ 110 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO) als nicht gewahrt an, weil die Klägerin innerhalb dieser Frist nicht dargetan habe, wann vorliegend der für die Berechnung der Antragsfrist maßgebliche Zeitpunkt des "Wegfall(s) des Hindernisses" i.S. von § 110 Abs. 2 Satz 1 AO gewesen sei. Des Weiteren hält das FG die Ausführungen der Klägerin (einschließlich der im Klageverfahren vorgelegten eidesstattlichen Versicherung) aus mehreren Gründen für nicht geeignet, auszuschließen, dass ein Organisationsverschulden der Bevollmächtigten der Klägerin ursächlich für die Versäumung der Einspruchsfrist gewesen ist. Und schließlich sieht das FG die von der Klägerin aus dem Verhalten des FA abgeleitete stillschweigende Gewährung der Wiedereinsetzung durch schlüssiges Verhalten als nicht gegeben an.
2. Die zur Versäumung der Begründungsfrist des § 110 Abs. 2 Satz 1 AO von der Klägerin geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und der Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Variante 1 FGO) liegen nicht vor.
Die von der Klägerin insoweit zur Klärung gestellte Rechtsfrage, ob zum Vortrag der wesentlichen Tatsachen i.S. des § 110 Abs. 2 AO hinsichtlich der Beschreibung des Hindernisses auch die Bezeichnung des Datums gehöre, zu dem das Hindernis weggefallen sei, ist nicht klärungsbedürftig, weil der BFH und andere oberste Bundesgerichte diese Frage ‑‑zu entsprechenden Regelungen über die Wiedereinsetzung in anderen Verfahrensordnungen‑‑ bereits entschieden haben. Danach muss ‑‑entsprechend der Rechtsauffassung des FG im angefochtenen Urteil‑‑ innerhalb der Antragsfrist für die Wiedereinsetzung auch dargelegt werden, dass die Antragsfrist gewahrt ist, und müssen daher auch die Umstände dargelegt werden, aus denen sich ergibt, dass der Antragsteller die Wiedereinsetzung rechtzeitig nach Behebung des Hindernisses beantragt hat (zu § 56 FGO: BFH-Urteil vom 08.03.2007 - IV R 41/05, BFH/NV 2007, 1813; BFH-Beschlüsse vom 05.12.1990 - II B 66/90, BFH/NV 1991, 335; vom 13.10.1993 - II B 130/93, BFH/NV 1994, 254; vom 27.08.1997 - XI B 118, 119, 149/96, XI S 43, 44, 50/96, BFH/NV 1998, 617; zu § 60 der Verwaltungsgerichtsordnung: Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.10.1984 - 9 B 10668.83, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Nr. 143 zu § 60 VwGO; zu § 236 der Zivilprozessordnung: Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20.09.1989 - IVb ZB 91/89, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1991, 238; s.a. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 110 AO Rz 495; Klein/Rätke, AO, 16. Aufl., § 110 Rz 102, Brandis in Tipke/Kruse, § 56 FGO Rz 18; Bruns in Gosch, FGO § 56 Rz 42). Etwas anderes gilt nur, sofern es sich um allgemein- oder gerichtskundige, insbesondere aktenkundige Tatsachen handelt (vgl. BVerfG-Beschluss vom 30.03.1995 - 2 BvR 2119/94, Neue Juristische Wochenschrift 1995, 2544). Gründe dafür, die Rechtslage im Rahmen von § 110 Abs. 2 AO abweichend von den Wiedereinsetzungsvorschriften der genannten Verfahrensordnungen zu beurteilen, trägt die Klägerin nicht vor und sind auch sonst nicht erkennbar.
3. Soweit die Nichtzulassungsbeschwerde die vom FG verneinte stillschweigende Gewährung der Wiedereinsetzung durch das Verhalten des FA betrifft, hat die Klägerin den gemachten Zulassungsgrund (Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) nicht entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO schlüssig dargetan.
a) Die Klägerin rügt in diesem Zusammenhang die Aktenwidrigkeit (Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) des vom FG gefundenen Ergebnisses, dem zufolge dem Verhalten des FA kein nach außen gerichteter Wille zu entnehmen gewesen sei, dem Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben. Die Klägerin hält dem in der Beschwerdebegründung entgegen, die aus den internen Vermerken der Finanzamtsmitarbeiter ersichtliche Auffassung, der Wiedereinsetzungsantrag sei begründet, komme in der Korrespondenz des FA mit der A-AG zum Ausdruck. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Schreiben des FA an die A-AG vom 14.05.2019 und vom 31.07.2019. Auch seien Sachbearbeiter des FA in dem Vermerk vom 08.01.2020 selbst davon ausgegangen, man habe bisher gegenüber der Klägerin den Eindruck erweckt, dem Wiedereinsetzungsantrag werde nicht widersprochen.
b) Aus dem Vortrag der Klägerin ergibt sich indessen nicht, woraus konkret geschlossen werden könnte, dass das FG die Korrespondenz des FA mit der A-AG und den internen Vermerk vom 08.01.2020 bei seiner Überzeugungsbildung nicht gebührend zur Kenntnis genommen und berücksichtigt hat, zumal das FG die Schreiben vom 14.05.2019 und vom 31.07.2019 sowohl im Tatbestand (Urteilsumdruck S. 6) als auch in den Entscheidungsgründen (Urteilsumdruck S. 19) ausdrücklich erwähnt hat. Im Kern bezieht sich das Vorbringen der Klägerin auch nicht auf ein Übergehen der Dokumente durch das FG. Sie präsentiert vielmehr eine von der Würdigung des FG abweichende Würdigung deren Inhalts. Während das FG in dem Umstand, dass das FA gegenüber der Klägerin bereits die materiellen Tatsachen- und Rechtsfragen des Rechtsbehelfs angesprochen hat, ohne nochmals die Wiedereinsetzungsproblematik zu erwähnen, keinen erkennbaren Erklärungswillen in Bezug auf die Gewährung der Wiedereinsetzung ableitet, möchte die Klägerin das Verhalten des FA im gegenteiligen Sinne gewertet wissen. Eine aus Sicht der Klägerin unzutreffende Auslegung bzw. Tatsachenwürdigung durch das FG vermag jedoch einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO regelmäßig nicht zu begründen. Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen und deshalb der Prüfung des BFH im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde entzogen (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 12.03.2014 - I B 37/13, BFH/NV 2014, 1059, m.w.N.).
Im Übrigen befasst sich die Klägerin im Rahmen der Darlegung der Kausalität des geltend gemachten Verfahrensmangels für das vom FG gefundene Ergebnis nicht mit dem Umstand, dass nach ständiger Rechtsprechung die Entscheidung der Finanzbehörde über den Wiedereinsetzungsantrag von den Gerichten ohne Einschränkungen nachprüfbar ist (z.B. BFH-Urteil vom 26.10.1989 - IV R 82/88, BFHE 159, 103, BStBl II 1990, 277; BFH-Beschluss vom 27.04.2011 - III B 207/10, BFH/NV 2011, 1184; Brandis in Tipke/Kruse, § 110 AO Rz 39, m.w.N.) und folglich das FG die Klage wegen verspäteter Einlegung des Einspruchs abweisen kann, obwohl die Behörde (ggf. auch stillschweigend) Wiedereinsetzung gewährt hatte.
4. Liegen sonach die Voraussetzungen einer Revisionszulassung weder in Bezug auf die Versäumung der Begründungsfrist für den Wiedereinsetzungsantrag noch hinsichtlich der Verneinung einer stillschweigenden Gewährung der Wiedereinsetzung durch das FA vor, ist die Frage der unverschuldeten Versäumung der Einspruchsfrist durch die Klägerin bzw. deren Bevollmächtigte nicht mehr zulassungsrelevant und es bedarf keiner Befassung des Senats mit den in diesem Zusammenhang von der Klägerin geltend gemachten weiteren Zulassungsgründen. Nach ständiger Rechtsprechung (z.B. Senatsbeschluss vom 09.06.2021 - I B 58/20, BFH/NV 2022, 26) muss dann, wenn ein FG-Urteil kumulativ auf mehrere Gründe gestützt ist, von denen jeder für sich das Entscheidungsergebnis trägt, hinsichtlich jedes Grundes ein Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 FGO geltend gemacht werden und vorliegen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.