ECLI:DE:BFH:2023:B.120123.IXB81.21.0
BFH IX. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 96 Abs 2, FGO § 76 Abs 1 S 1, GG Art 103 Abs 1, ZPO § 283, ZPO § 295
vorgehend FG Düsseldorf, 28. Oktober 2021, Az: 8 K 178/21 E
Leitsätze
1. NV: Ein qualifizierter Rechtsanwendungsfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO liegt bei einem offensichtlichen materiellen oder formellen Rechtsfehler von erheblichem Gewicht vor, der die Entscheidung der Vorinstanz als willkürlich oder greifbar gesetzwidrig erscheinen lässt.
2. NV: Der Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 FGO verpflichtet das Gericht u.a., die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen.
3. NV: Als Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO kommen nur Verfahrensfehler des Gerichts, nicht aber Verfahrensfehler des FA in Betracht.
Tenor
Die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 28.10.2021 - 8 K 178/21 E wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die Revision ist weder wegen eines qualifizierten Rechtsanwendungsfehlers (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑, dazu unter 1.) noch wegen eines Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, dazu unter 2.), zuzulassen.
1. Ein qualifizierter Rechtsanwendungsfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO) liegt nicht vor.
a) Nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO ist die Revision zur Sicherung der Rechtseinheit auch dann zuzulassen, wenn die angefochtene Entscheidung des Finanzgerichts (FG) in einem solchen Maß fehlerhaft ist, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur wiederhergestellt werden könnte. Diese Voraussetzung ist erfüllt bei einem offensichtlichen materiellen oder formellen Rechtsfehler von erheblichem Gewicht, der die Entscheidung der Vorinstanz als willkürlich oder greifbar gesetzwidrig erscheinen lässt. Vorliegen kann dies etwa, wenn das FG eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Vorschrift übersehen hat, das Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt oder auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht. Ferner kann ein gravierender Rechtsanwendungsfehler auch dann vorliegen, wenn das FG bei der Auslegung einer Willenserklärung anerkannte Auslegungsgrundsätze in einem Maße außer Acht lässt, dass seine Entscheidung nicht mehr nachvollziehbar erscheint. Unterhalb dieser Schwelle liegende Rechtsfehler reichen nicht, um eine greifbare Gesetzwidrigkeit oder gar Willkür der angefochtenen Entscheidung zu begründen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 18.11.2019 - IX B 72/19, BFH/NV 2020, 356, Rz 8, und Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 19.05.2020 - VIII B 126/19, BFH/NV 2020, 1264, Rz 18, jeweils m.w.N.).
b) Danach liegt ein qualifizierter Rechtsanwendungsfehler nicht vor. Das FG hat seine Entscheidung schlüssig und nachvollziehbar begründet und sich dabei auf die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften gestützt. Eine greifbar gesetzwidrige oder willkürliche Entscheidung liegt mithin nicht vor. Mit ihrem Beschwerdevorbringen legen die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) nur ihre abweichende tatsächliche und rechtliche Würdigung des streitigen Sachverhalts dar. Damit kann die Zulassung der Revision wegen eines qualifizierten Rechtsanwendungsfehlers nicht erreicht werden.
2. Die von den Klägern gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) sind nicht ersichtlich.
a) Die von den Klägern gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nicht gegeben.
aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes und § 96 Abs. 2 FGO verpflichtet das Gericht u.a., die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen. Darüber hinaus gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör, für die Prozessbeteiligten überraschende Entscheidungen zu unterlassen. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (z.B. Senatsbeschlüsse vom 23.02.2017 - IX B 2/17, BFH/NV 2017, 746, Rz 15, und vom 20.07.2022 - IX B 9/21, BFH/NV 2022, 1061, Rz 14).
bb) Danach ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht erkennbar.
Soweit die Kläger sich darauf berufen, das FG habe in dem angefochtenen Urteil den Umzug von X-Stadt nach Y-Stadt überraschend und ohne Hinweis als entscheidungserheblich erachtet, liegt eine Überraschungsentscheidung nicht vor. Diese Tatsache war sowohl in der im erstinstanzlichen Verfahren angefochtenen Einspruchsentscheidung vom 23.12.2020 enthalten als auch von den Klägern mit Schriftsatz vom 13.07.2021 in das Verfahren eingeführt worden.
cc) Die Ablehnung der im Protokoll der mündlichen Verhandlung beantragten zweiwöchigen Schriftsatzfrist im Hinblick auf die Vorläufigkeitsvermerke in den Zinsbescheiden begründet ebenfalls keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Im Streitfall lagen die Voraussetzungen für das Nachreichen eines Schriftsatzes gemäß § 283 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 155 FGO nicht vor. § 283 ZPO setzt voraus, dass sich eine Partei in der mündlichen Verhandlung auf ein Vorbringen des Gegners nicht erklären kann, weil es ihr nicht rechtzeitig vor dem Termin mitgeteilt worden ist. Die Kläger haben nicht vorgetragen, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) im Termin zur mündlichen Verhandlung neue Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorgebracht hat (vgl. Senatsbeschluss vom 15.05.2019 - IX B 105/18, BFH/NV 2019, 922, Rz 9, m.w.N.). Dass die Kläger nach Gewährung einer weiteren Schriftsatzfrist ihren Sachvortrag hätten vertiefen und das FG von der Richtigkeit seiner Rechtsauffassung überzeugen können, genügt nicht zur Darlegung einer Gehörsverletzung.
b) Soweit die Kläger einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) rügen, liegt dieser nicht vor.
aa) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO ist das FG verpflichtet, von Amts wegen den Sachverhalt zu erforschen und ihn unter allen ernstlich in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Diese Pflicht beinhaltet zwar nicht, jeder fernliegenden Erwägung nachgehen zu müssen. Wohl aber muss das FG die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Aufklärungsmaßnahmen treffen.
Die Rüge mangelnder Sachaufklärung des FG durch Nichterhebung angebotener Beweise gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO setzt voraus, dass die Kläger die ermittlungsbedürftigen Tatsachen (Beweisthemen), die angebotenen Beweismittel, die genauen Fundstellen (Schriftsatz oder Terminsprotokoll, in denen die Beweismittel benannt worden sind, die das FG nicht erhoben hat), das voraussichtliche Ergebnis der Beweisaufnahme, inwieweit das Urteil des FG aufgrund dessen sachlich-rechtlicher Auffassung auf der unterbliebenen Beweisaufnahme beruhen kann, darlegen und ausführen, dass ‑‑sofern die Voraussetzungen des § 295 ZPO gegeben sind‑‑ bei nächster sich bietender Gelegenheit die Nichterhebung der Beweise gerügt worden ist oder dass die Absicht des FG, die angebotenen Beweise nicht zu erheben, nicht rechtzeitig erkennbar war, um dies noch vor dem FG rügen zu können (BFH-Beschluss vom 05.03.2020 - VIII B 30/19, BFH/NV 2020, 778, Rz 9).
bb) Danach ist ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht nicht zu erkennen.
Die Kläger rügen eine unterlassene Aufklärung des Sachverhalts durch das FA. Als Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO kommen hingegen nur Verfahrensfehler des FG, nicht Verfahrensfehler des FA, in Betracht. Fehler, die dem FA im Besteuerungsverfahren unterlaufen sein sollen, können die Zulassung der Revision aufgrund eines Verfahrensmangels nicht rechtfertigen (vgl. Senatsbeschluss vom 21.08.2013 - IX B 81/13, BFH/NV 2013, 1799, Rz 2; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz 222).
Entgegen dem Vorbringen der Kläger hat das FG ihren Tatsachen- und Rechtsvortrag insbesondere zu den Beweisangeboten zur Kenntnis genommen und in seine Würdigung einbezogen. Der von den Klägern erwähnte Zeitungsartikel ist vom FG ausweislich des Tatbestands der angefochtenen Entscheidung berücksichtigt und in den Entscheidungsgründen gewürdigt worden. Soweit die Kläger vorbringen, bei zutreffender Würdigung des Zeitungsartikels und ihres übrigen Vorbringens habe das FG zur Annahme der Vermietungsabsicht kommen und anders entscheiden können, wenden sie sich gegen die tatsächliche und rechtliche Würdigung des FG und damit gegen die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung. Damit kann die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensfehlers nicht erreicht werden.
Soweit die Kläger eine unvollständige Ermittlung des Sachverhalts rügen, legen sie nicht dar, dass sie in der mündlichen Verhandlung Beweiserhebungen beantragt haben, denen das FG nicht nachgekommen ist. Entsprechende Anträge haben sie in der mündlichen Verhandlung ausweislich des Sitzungsprotokolls auch nicht gestellt.
Eine unzulässige Vorwegnahme des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist seitens des FG nicht erfolgt. Eine gegen die Sachaufklärungspflicht verstoßende vorweggenommene Beweiswürdigung liegt vor, wenn eine Beweiserhebung vom FG mit der Begründung unterlassen oder abgelehnt wird, ihr zu erwartendes Ergebnis könne die Überzeugung des Gerichts nicht ändern (vgl. Senatsbeschluss vom 08.04.2022 - IX B 10/21, BFH/NV 2022, 733, Rz 5). Eine solche Aussage hat die angefochtene Entscheidung nicht getätigt. Diese liegt auch nicht in den Bezugnahmen auf die Entscheidung im Aussetzungsverfahren. Denn bei diesen Bezugnahmen handelt es sich nur um ergänzende Ausführungen, die für sich gesehen für die Entscheidung des FG nicht alleine tragend waren. Vielmehr wird das vom FG gefundene Ergebnis der fehlenden Vermietungsabsicht ausführlich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet und aufgrund von eigenen Feststellungen und damit unabhängig von den Feststellungen im Aussetzungsverfahren hergeleitet.
3. Von einer weiter gehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.