ECLI:DE:BFH:2022:B.221122.XIB1.22.0
BFH XI. Senat
ZPO § 279 Abs 3, ZPO § 285 Abs 1, FGO § 94, FGO § 96 Abs 2, FGO § 155, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, GG Art 103 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 05. Februar 2020, Az: 5 K 5311/16
Leitsätze
NV: Erörtert das Finanzgericht im Anschluss an die Beweisaufnahme und vor Erlass seines Urteils nicht erneut den Sach- und Streitstand und, soweit bereits möglich, das Ergebnis der Beweisaufnahme mit den Beteiligten, verletzt es deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Folgeentscheidung zum EuGH-Urteil Finanzamt Wilmersdorf vom 14.04.2021 - C-108/20, EU:C:2021:266).
Tenor
Auf die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 16.11.2021 - 5 K 5311/16 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin), die in den Streitjahren (2009 und 2010) einen Getränkegroßhandel betrieb, der Vorsteuerabzug aus insbesondere Lieferungen der P-GmbH (P) zu versagen ist.
Die Klägerin betrieb den Getränkehandel, mit dem sie nach ihrer Einlassung auf einem "ethnischen Markt" tätig war, als Einzelkauffrau. Die Leitung ihres Unternehmens hatte sie ihrem Ehemann (MS) übertragen.
Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) nahm nach Durchführung einer Außenprüfung an, dass die Rechnungen Teil einer Umsatzsteuerhinterziehung seien und die Klägerin hiervon hätte Kenntnis haben müssen. Der Einspruch gegen die Änderungsbescheide blieb erfolglos.
MS wurde wegen der Vorgänge bei P vom zuständigen Landgericht (LG) wegen Umsatzsteuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Das Strafurteil ist nach Verwerfung der Revision und der Verfassungsbeschwerde des MS rechtskräftig.
Im Laufe des Klageverfahrens ersuchte das Finanzgericht (FG) den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um Vorabentscheidung folgender Rechtsfrage:
"Sind die Art. 167, 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem - MwStSystRL - dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsanwendung entgegen stehen, nach der ein Vorsteuerabzug auch dann zu versagen ist, wenn auf einer vorhergehenden Umsatzstufe eine Umsatzsteuerhinterziehung begangen wurde und der Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, er mit dem an ihn erbrachten Umsatz aber weder an der Steuerhinterziehung beteiligt noch in diese einbezogen war und die begangene Steuerhinterziehung auch nicht gefördert oder begünstigt hat?"
Der EuGH hat darauf mit Urteil Finanzamt Wilmersdorf vom 14.04.2021 - C-108/20 (EU:C:2021:266) geantwortet:
"Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der einem Steuerpflichtigen, der Waren erworben hat, die Gegenstand einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Lieferkette begangenen Umsatzsteuerhinterziehung waren, und der davon wusste oder hätte wissen müssen, das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, obwohl er an dieser Steuerhinterziehung nicht aktiv beteiligt war."
Im Anschluss an das Urteil des EuGH kam es in der mündlichen Verhandlung vor dem FG zu einer umfangreichen Beweisaufnahme durch Einvernahme mehrerer Zeugen. Hierzu ergibt sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 16.11.2021, dass der letzte Zeuge um 17:00 Uhr entlassen wurde. Danach wurden nur noch Sachanträge gestellt und der Vorsitzende schloss die mündliche Verhandlung mit der Verkündung des Beschlusses, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt wird.
Mit seinem Urteil gab das FG der Klage statt. Bei den Umsätzen, um die es im Strafurteil gegen MS gegangen sei, habe es sich nicht um die Lieferungen der P an die Klägerin, sondern um "die Lieferung unversteuerter Getränke durch unbekannte Hintermänner unter Mitwirkung des Ehemanns der Klägerin [MS] an die P [...]" gehandelt. Die Klägerin habe selbst keine Steuerhinterziehung begangen. Die P habe die Lieferungen an die Klägerin in ihrer Buchführung erfasst (und demgemäß auch versteuert). Es sei nicht feststellbar, dass die an die Klägerin ausgeführten Lieferungen Teil einer hinterziehungsbehafteten Lieferkette gewesen seien. Es sei bereits nicht feststellbar, dass die von der P an die Klägerin gelieferten Getränke mit denen identisch seien, die zuvor in eine Hinterziehung einbezogen gewesen seien. Die Eingangsrechnungen der P seien nicht mehr auffindbar. Es sei denkbar, dass die Klägerin von P mit Ware beliefert worden sei, die die P "legal" erworben habe.
Zudem sei nicht feststellbar, dass MS von Steuerhinterziehungen bei P Kenntnis hätte haben müssen. Der Zeuge Y habe bestätigt, dass MS in den "illegalen" Getränkeeinkauf bei P nicht einbezogen gewesen sei. Der Zeuge D habe ausgesagt, dass die "illegalen Getränkelieferungen" durch den Bruder und den Schwager des MS erfolgt seien. Da MS "Familienoberhaupt" gewesen sei, sei er davon ausgegangen, dass MS davon Kenntnis hatte. Demgegenüber ging das FG bei seiner Entscheidung davon aus, dass die Klägerin keine eigene Kenntnis von der Steuerhinterziehung bei der P hätte haben müssen. Im Hinblick auf die Einwendungen der Klägerin gegen die strafgerichtlichen Feststellungen bestehe keine Bindung an diese.
Gegen das Urteil des FG richtet sich die Beschwerde des FA wegen Nichtzulassung der Revision, die auf Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützt wird.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO). Das angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, da das FG den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat, indem es das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit ihnen erörtert hat.
1. Gemäß § 155 FGO i.V.m. § 285 Abs. 1, § 279 Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) hat im Anschluss an die Beweisaufnahme das Gericht erneut den Sach- und Streitstand und, soweit bereits möglich, das Ergebnis der Beweisaufnahme mit den Beteiligten zu erörtern. Über das Ergebnis der Beweisaufnahme haben die Beteiligten unter Darlegung des Streitverhältnisses zu verhandeln.
2. Dies ist vorliegend, wie sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung ergibt, seitens des FG nicht geschehen.
a) Findet sich ‑‑wie hier‑‑ im Protokoll kein Hinweis darauf, dass die Parteien zum Beweisergebnis verhandelt haben, steht wegen der Beweiskraft des Protokolls (§ 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2, § 165 ZPO) ein Verstoß gegen § 285 Abs. 1, § 279 Abs. 3 ZPO fest (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs ‑‑BGH‑‑ vom 20.12.2005 - VI ZR 307/04, BGHReport 2006, 529, Rz 3; s. zu § 160 Abs. 2, § 165 ZPO auch Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 18.08.2015 - III B 112/14, BFH/NV 2015, 1595, Rz 10).
b) Die durch das Protokoll nachgewiesene Verletzung von § 285 Abs. 1 ZPO enthält regelmäßig zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (vgl. BGH-Urteile vom 09.10.1974 - VIII ZR 215/73, BGHZ 63, 94; vom 26.04.1989 - I ZR 220/87, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 1990, 121; vom 24.01.2001 - IV ZR 264/99, Neue Zeitschrift für Versicherung und Recht 2001, 175; BGH-Beschlüsse vom 02.12.2004 - IX ZR 56/04, BeckRS 2005, 01420; in BGHReport 2006, 529; vom 25.09.2007 - VI ZR 162/06, Zeitschrift für das gesamte Medizinrecht 2007, 141; vom 28.07.2011 - VII ZR 184/09, NJW 2011, 3040, 3041; vom 23.11.2011 - IV ZR 49/11, Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge 2012, 100, 102; vom 23.05.2012 - IV ZR 224/10, NJW 2012, 2354, und vom 28.07.2016 - III ZB 127/15, NJW 2016, 2890); denn die Beteiligten sollen nach § 285 Abs. 1 ZPO Gelegenheit erhalten, nach Abschluss der Beweisaufnahme zu deren Ergebnis vorzutragen und Stellung zu beziehen. Diese Gelegenheit wurde ihnen im Streitfall verwehrt.
c) Das FA hat mit der Rüge, es liege eine Überraschungsentscheidung vor, ausdrücklich auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör als verfahrensfehlerhaft i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO gerügt. Soweit es der BGH bei diesem Verfahrensfehler zudem für erforderlich hält, dass der Beschwerdeführer darlegt, was bei Gewährung des rechtlichen Gehörs vorgetragen worden wäre und dass nicht auszuschließen ist, dass dieser Vortrag zu einer anderen Entscheidung geführt hätte (vgl. BGH-Beschluss in NJW 2016, 2890, Rz 11), hat das FA dies im Rahmen seines Beschwerdevorbringens (S. 3 ff.) in ausreichender Weise getan. Denn aus seinem Beschwerdevorbringen wird deutlich, was das FA bei Gewährung rechtlichen Gehörs im Rahmen des finanzgerichtlichen Verfahrens noch vorgetragen hätte.
aa) Das FA hat erstens in Bezug auf die zwischen den Beteiligten streitige Warenherkunft vorgebracht, dass die Zeugen Y und D zwar ausgesagt hätten, dass es sich nicht auseinander halten lasse, welche Getränkelieferungen an die Klägerin in eine Steuerhinterziehung einbezogen gewesen seien und welche nicht. Das FA hat dazu mit seiner Beschwerde ausgeführt, das LG habe indes in seinem Urteil festgestellt, dass es sich um Scheinrechnungen gehandelt habe. Aus dem steuerlichen Bericht über die bei der P durchgeführte Prüfung gehe außerdem hervor, dass selbst wenn P alle legal erworbenen Waren nur an die Klägerin geliefert hätte, was sehr unwahrscheinlich sei, die Klägerin auch illegal erworbene Waren erhalten haben müsse, die Teil einer Lieferkette waren, innerhalb derer eine Steuerhinterziehung stattgefunden habe.
bb) Weiter hat das FA zum "Wissenmüssen" der Klägerin im Beschwerdeverfahren vorgetragen, dass S, der von der Klägerin bevollmächtigt gewesen sei, wegen Steuerhinterziehung vom LG zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt worden sei. Die Revision und die Verfassungsbeschwerde des S seien erfolglos geblieben. Darüber hinaus hat sich das FA umfangreich zu der aus seiner Sicht unzutreffenden Würdigung der Aussagen des D und MS geäußert sowie auf die vom LG erhobenen weiteren Beweise zum Wissenmüssen des MS oder der Klägerin, die das FG überhaupt nicht gewürdigt habe, hingewiesen.
3. Aufgrund dieses Verfahrensfehlers erscheint es sachgerecht, gemäß § 116 Abs. 6 FGO das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, da beim derzeitigen Verfahrensstand von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. dazu allgemein BFH-Beschluss vom 27.10.2020 - XI B 33/20, BFH/NV 2021, 459, Rz 25, m.w.N.).
4. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin.
a) MS hat in der mündlichen Verhandlung vor dem FG ausgesagt, dass er einen Schwager habe, der nach seiner Entlassung aus dem Unternehmen der Klägerin bei der P gearbeitet habe. Ebenso habe er erfahren, dass sein 22 Jahre jüngerer Halbbruder ES bei der P gearbeitet habe. In Übereinstimmung hiermit hatte Y als Zeuge bekundet, dass der Schwager von MS für die P tätig war. Der Zeuge D sagte aus, dass die P über den Halbbruder des MS, ES, "illegal Spirituosen bezogen" habe, was im Zusammenhang mit dessen Schwager "gelaufen" sei, der für die P im Lager beschäftigt gewesen sei. ES habe die Schlüssel für ein Lager gehabt.
b) Bei dieser Sachlage, bei der mehrere Familienmitglieder der Klägerin im Zusammenhang mit der P standen und dabei auch für die P tätig waren, erscheint es fernliegend, dass die Klägerin nichts von den Vorgängen bei der P gewusst hat und davon auch nichts hätte wissen müssen. Die vorstehenden Umstände und die Beziehungen der Klägerin zu allen Familienmitgliedern hat das FG in einem zweiten Rechtsgang weitergehend aufzuklären und zu würdigen. Dabei können die Tätigkeiten des Bruders und des Schwagers des Ehemanns der Klägerin geeignet sein, die für sich genommen nachvollziehbare Beweiswürdigung des LG in dem Strafurteil zur Verurteilung des MS wegen Steuerhinterziehung zu bestätigen oder ein anderweitiges Wissenmüssen der Klägerin zu begründen.
5. Der Beschluss ergeht nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ohne weitere Begründung.
6. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.