ECLI:DE:BFH:2022:VE.031122.XIR6.21.0
BFH XI. Senat
AO § 163, AO § 227, EGRL 9/2008 , AEUV Art 267 Abs 3, EGRL 112/2006 Art 167, EGRL 112/2006 Art 168, EGRL 112/2006 Art 178, EGRL 112/2006 Art 203, UStG § 14 Abs 4, UStG § 14c Abs 1, UStG § 15 Abs 1, UStG VZ 2007 , UStG VZ 2008 , UStG VZ 2010 , UStG VZ 2012
vorgehend FG Düsseldorf, 04. Dezember 2020, Az: 1 K 1510/18 AO
Leitsätze
Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung zur Auslegung der MwStSystRL vorgelegt:
1. Steht einem Leistungsempfänger mit Ansässigkeit im Inland ein sog. Direktanspruch gegen die inländische Finanzverwaltung entsprechend dem EuGH-Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken vom 15.03.2007 - C-35/05 (EU:C:2007:167) zu, wenn
(a) dem Leistungsempfänger von einem Leistenden, der gleichfalls im Inland ansässig ist, eine Rechnung mit inländischem Steuerausweis erteilt wird, die der Leistungsempfänger bezahlt, wobei der Leistende die in der Rechnung ausgewiesene Steuer ordnungsgemäß versteuert,
(b) es sich bei der in Rechnung gestellten Leistung aber um eine in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Leistung handelt,
(c) dem Leistungsempfänger daher der Vorsteuerabzug im Inland versagt wird, da es an einer im Inland gesetzlich geschuldeten Steuer fehlt,
(d) der Leistende die Rechnung daraufhin dahingehend berichtigt, dass der inländische Steuerausweis entfällt und sich der Rechnungsbetrag daher in Höhe des Steuerausweises mindert,
(e) der Leistungsempfänger aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Leistenden Zahlungsansprüche gegen den Leistenden nicht durchsetzen kann und
(f) für den im anderen Mitgliedstaat bislang nicht registrierten Leistenden die Möglichkeit besteht, sich in diesem Mitgliedstaat mehrwertsteuerrechtlich registrieren zu lassen, so dass er danach unter Angabe einer Steuernummer dieses Mitgliedstaats dem Leistungsempfänger eine Rechnung unter Ausweis der Steuer dieses Mitgliedstaats erteilen könnte, die den Leistungsempfänger in diesem Mitgliedstaat zum Vorsteuerabzug im besonderen Verfahren nach der Richtlinie 2008/9/EG zum Vorsteuerabzug berechtigen würde?
2. Kommt es für die Beantwortung dieser Frage darauf an, dass die inländische Finanzverwaltung dem Leistenden aufgrund der bloßen Rechnungsberichtigung die Steuerzahlung erstattet hat, obwohl der Leistende aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen nichts an den Leistungsempfänger zurückgezahlt hat?
Tenor
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Steht einem Leistungsempfänger mit Ansässigkeit im Inland ein sogenannter Direktanspruch gegen die inländische Finanzverwaltung entsprechend dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Reemtsma Cigarettenfabriken vom 15.03.2007 - C-35/05 (EU:C:2007:167) zu, wenn
(a) dem Leistungsempfänger von einem Leistenden, der gleichfalls im Inland ansässig ist, eine Rechnung mit inländischem Steuerausweis erteilt wird, die der Leistungsempfänger bezahlt, wobei der Leistende die in der Rechnung ausgewiesene Steuer ordnungsgemäß versteuert,
(b) es sich bei der in Rechnung gestellten Leistung aber um eine in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Leistung handelt,
(c) dem Leistungsempfänger daher der Vorsteuerabzug im Inland versagt wird, da es an einer im Inland gesetzlich geschuldeten Steuer fehlt,
(d) der Leistende die Rechnung daraufhin dahingehend berichtigt, dass der inländische Steuerausweis entfällt und sich der Rechnungsbetrag daher in Höhe des Steuerausweises mindert,
(e) der Leistungsempfänger aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Leistenden Zahlungsansprüche gegen den Leistenden nicht durchsetzen kann und
(f) für den im anderen Mitgliedstaat bislang nicht registrierten Leistenden die Möglichkeit besteht, sich in diesem Mitgliedstaat mehrwertsteuerrechtlich registrieren zu lassen, so dass er danach unter Angabe einer Steuernummer dieses Mitgliedstaats dem Leistungsempfänger eine Rechnung unter Ausweis der Steuer dieses Mitgliedstaats erteilen könnte, die den Leistungsempfänger in diesem Mitgliedstaat zum Vorsteuerabzug im besonderen Verfahren nach der Richtlinie 2008/9/EG vom 12.02.2008 zum Vorsteuerabzug berechtigen würde?
2. Kommt es für die Beantwortung dieser Frage darauf an, dass die inländische Finanzverwaltung dem Leistenden aufgrund der bloßen Rechnungsberichtigung die Steuerzahlung erstattet hat, obwohl der Leistende aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen nichts an den Leistungsempfänger zurückgezahlt hat?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
Tatbestand
A.
Die Beteiligten streiten über einen Vorsteuerabzug im Wege einer Billigkeitsentscheidung nach §§ 163, 227 der Abgabenordnung (AO).
Geschäftsgegenstand der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) und einer Kommanditgesellschaft (KG), deren Rechtsnachfolgerin die Klägerin ist, war das Mobilienleasing für andere Unternehmen unter anderem durch sogenannte (sog.) Sale-and-lease-back Geschäfte. Im Streitfall geht es um insgesamt sechs Sale-and-lease-back Geschäfte, die die KG mit der ebenfalls im Inland ansässigen … GmbH (E-GmbH; später umfirmiert in D-GmbH) in den Streitjahren 2007, 2008, 2010 und 2012 getätigt hat.
Dabei erwarb die E-GmbH zunächst jeweils ein neues Motorboot von der in Italien ansässigen E-sr. Die Rechnungen hierfür wurden ohne Ausweis von Mehrwertsteuer mit dem Hinweis auf eine innergemeinschaftliche Lieferung ("prestazione intracomunitaria") ausgestellt. Ausweislich der Rechnungen wurde der Kaufpreis in voller Höhe von der E-GmbH entrichtet.
Jeweils einige Tage später schlossen die E-GmbH und die KG einen "Kauf- und Übereignungsvertrag" ab. Darin verkaufte die E-GmbH das jeweilige Boot an die KG zum identischen Nettokaufpreis zuzüglich inländischer (deutscher) Mehrwertsteuer (Umsatzsteuer). Die KG zahlte den Kaufpreis an die E-GmbH. Die Übergabe des Bootes wurde nach dem Kaufvertrag jeweils durch die Vereinbarung des Abschlusses eines Leasingvertrages mit Nutzungsüberlassung ersetzt. Im Kaufvertrag wurden die Parteien bereits als "Leasinggeber" und "Leasingnehmer" bezeichnet. Die E-GmbH erteilte der KG anschließend Rechnungen über den Verkauf des jeweiligen Bootes mit offen ausgewiesener Umsatzsteuer, meldete die inländische Umsatzsteuer in ihren Steuererklärungen an und führte sie an das für sie zuständige Finanzamt (FA X) ab. Die Rechnungen enthielten keine Angaben zum Ort, an dem sich die Boote befanden. Die KG zog die in der Rechnung ausgewiesene inländische (deutsche) Umsatzsteuer in ihren Umsatzsteuererklärungen als Vorsteuer ab. Einige Tage danach schlossen die E-GmbH und die KG einen Mobilienleasingvertrag über das jeweilige Boot mit einer Laufzeit von 36 Monaten und einer monatlichen Leasingrate.
Im Rahmen einer bei der E-GmbH durchgeführten Außenprüfung für den Besteuerungszeitraum 2008 wurde festgestellt, dass sich die Boote im Zeitpunkt des Verkaufs von der E-GmbH an die KG nicht im Inland (in der Bundesrepublik Deutschland ‑‑Deutschland‑‑), sondern in Italien am Y-See befanden. Mit zwei Schreiben vom 26.10.2012 teilte die E-GmbH der KG daraufhin mit, dass sie in zwei Rechnungen vom 30.04.2008 und 31.10.2008 zu Unrecht inländische (deutsche) Umsatzsteuer ausgewiesen habe (94.455,46 € und 94.551,98 €). Die Rechnungen würden wie folgt berichtigt:
"Der Rechnungsbetrag beträgt absprachegemäß pauschal EUR 591.589,46 € [592.193,98 €]. In dem Rechnungsbetrag ist entgegen der ursprünglichen Rechnung 23217 [25059] vom 30.04.2008 [31.10.2008] keine deutsche Umsatzsteuer enthalten. Den Rechnungsbetrag haben wir bereits vollständig von Ihnen enthalten."
Nach einer Umsatzsteuersonderprüfung bei der KG vertrat der Prüfer die Auffassung, die Lieferung der Boote sei in Deutschland nicht steuerbar gewesen, da es sich um Lieferungen ohne Beförderung gehandelt habe, die nach Artikel (Art.) 31 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL), § 3 Abs. 7 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) am Belegenheitsort der Boote, das heißt in Italien, steuerbar seien. Die von der E-GmbH der KG in Rechnung gestellte inländische Umsatzsteuer werde von dieser nach Art. 203 MwStSystRL und § 14c UStG geschuldet und sei daher von der Klägerin nicht als Vorsteuer abziehbar.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) schloss sich den Feststellungen an und erließ am 25.01.2013 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO einen Änderungsbescheid über Umsatzsteuer für 2008, in dem er die Vorsteuern entsprechend dem Prüfungsbericht kürzte. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 19.06.2013 als unbegründet zurück.
Die Klägerin hatte zuvor dem FA mitgeteilt, dass vier weiteren Rechnungen der E-GmbH aus den Jahren 2006, 2010 und 2012 derselbe Sachverhalt zugrunde liege. Das FA erließ daraufhin am 08.04.2013 Änderungsbescheide über Umsatzsteuer für 2007 und 2010, in dem es die Umsatzsteuer aufgrund der Versagung des zuvor aus den Rechnungen in Anspruch genommenen Vorsteuerabzugs entsprechend erhöhte. Die hiergegen eingelegten Einsprüche wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 09.10.2013 als unbegründet zurück. Die KG zahlte alle Vorsteuern an das FA zurück. In der Umsatzsteuerjahreserklärung 2012 wurde kein diesbezüglicher Vorsteuerabzug geltend gemacht.
Über das Vermögen der E-GmbH wurde am 29.04.2014 das Insolvenzverfahren eröffnet. Mit Schreiben vom 10.12.2014 widerrief der Insolvenzverwalter der E-GmbH den Umsatzsteuerausweis in Höhe von insgesamt 539.605 € aus den sechs Rechnungen über die Lieferung der Boote. Als Rechnungsbetrag wurde nur noch jeweils der ursprünglich vereinbarte Nettokaufpreis ausgewiesen. Das für die E-GmbH zuständige FA X teilte mit, dass durch den Insolvenzverwalter berichtigte Rechnungen vom 10.12.2014 vorgelegt und am 08.01.2015 ein Berichtigungsantrag nach § 17 UStG für den Voranmeldungszeitraum Dezember 2014 gestellt worden sei. Dem Antrag sei stattgegeben und die abgeführte Umsatzsteuer an die Masse erstattet worden. Der steuerliche Vertreter des Insolvenzverwalters sei darüber informiert worden, dass er verpflichtet sei, die Umsätze in Italien zu versteuern. Nach Angaben der Klägerin weigert sich der Insolvenzverwalter, ihr eine Rechnung mit italienischer Umsatzsteuer auszustellen. Eine Klage auf Erteilung einer Rechnung mit offen ausgewiesener italienischer Umsatzsteuer hat die Klägerin gegen die E-GmbH nicht erhoben.
Die KG beantragte eine abweichende Festsetzung der Umsatzsteuer 2007, 2008, 2010 und 2012 sowie der darauf entfallenden Nebenleistungen aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO, hilfsweise einen Erlass nach § 227 AO. Mit Bescheid vom 27.10.2017 lehnte das FA diesen Antrag ab. Mit Einspruchsentscheidung vom 30.04.2018 wies das FA den Einspruch der KG als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) Düsseldorf wies die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2021, 1969 veröffentlichten Urteil ab. Das FG sah das FA aufgrund der bereits in die Insolvenzmasse erfolgten Rückzahlung als nicht gegenüber der Klägerin erstattungsverpflichtet an. Zudem habe der Klägerin kein zivilrechtlicher Anspruch gegen die E-GmbH auf Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten inländischen Umsatzsteuer zugestanden. Der Klägerin stehe lediglich ein Anspruch auf Erteilung einer Rechnung mit offen ausgewiesener italienischer Umsatzsteuer zu. Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Sie habe einen Anspruch auf Herabsetzung der Steuern aus § 163 AO.
Entscheidungsgründe
B.
Der Senat setzt das Verfahren aus und legt dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die im Tenor genannten Fragen gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Vorabentscheidung vor.
1. Rechtlicher Rahmen
a) Unionsrecht
Art. 167 MwStSystRL
Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
Art. 168 MwStSystRL
Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a. die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden; ...
Art. 178 MwStSystRL
Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a. für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen; ...
Art. 203 MwStSystRL
Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.
b) Nationales Recht
§ 14 Abs. 4 UStG
Eine Rechnung muss folgende Angaben enthalten: (...)
8. den anzuwendenden Steuersatz sowie den auf das Entgelt entfallenden Steuerbetrag oder im Fall einer Steuerbefreiung einen Hinweis darauf, dass für die Lieferung oder sonstige Leistung eine Steuerbefreiung gilt, (...).
§ 14c Abs. 1 UStG
Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag, als er nach diesem Gesetz für den Umsatz schuldet, gesondert ausgewiesen (unrichtiger Steuerausweis), schuldet er auch den Mehrbetrag. Berichtigt er den Steuerbetrag gegenüber dem Leistungsempfänger, ist § 17 Abs. 1 entsprechend anzuwenden.
§ 15 Abs. 1 UStG
Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:
1. die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a ausgestellte Rechnung besitzt. ...
§ 163 Abs. 1 AO
Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. ...
§ 227 AO
Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.
2. Zur ersten Vorlagefrage
a) EuGH-Rechtsprechung
Zum sog. Direktanspruch, wie er sich seit dem EuGH-Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken vom 15.03.2007 - C-35/05 (EU:C:2007:167) aus der ständigen EuGH-Rechtsprechung ergibt, hat der EuGH zuletzt in seinem Urteil HUMDA vom 13.10.2022 - C-397/21 (EU:C:2022:790, Randziffer ‑‑Rz‑‑ 21 bis 24) entschieden, dass
-
ein nationales System, in dem zum einen der Dienstleistungserbringer, der die Mehrwertsteuer irrtümlich an die Steuerbehörden abgeführt hat, deren Erstattung verlangen kann und zum anderen der Dienstleistungsempfänger gegen diesen Dienstleistungserbringer eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung erheben kann, die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität beachtet, da es dem Dienstleistungsempfänger, der mit der irrtümlich in Rechnung gestellten Steuer belastet war, ermöglicht, die rechtsgrundlos gezahlten Beträge erstattet zu bekommen,
-
die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität es gebieten, wenn die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig schwierig wird, insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel vorsehen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte und bezahlte Steuer erstattet zu bekommen, insbesondere indem er seinen Erstattungsantrag unmittelbar an die Steuerbehörden richtet,
-
daraus abzuleiten ist, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen müssen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen, damit der Grundsatz der Effektivität gewahrt wird, und
-
diese Rechtsprechung auch in einer Situation anwendbar ist, bei der aufgrund eines Irrtums über den zutreffenden Leistungsort die Steuer im falschen Mitgliedstaat entrichtet wurde, wenn weder Missbrauch noch Betrug vorliegen, der Dienstleistungsempfänger und der Dienstleistungserbringer gutgläubig sind, keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht und es für den Dienstleistungsempfänger unmöglich oder übermäßig schwierig ist, vom Dienstleistungserbringer die rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen, da über diesen zwischenzeitlich ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde.
Der Bundesfinanzhof (BFH) folgt der EuGH-Rechtsprechung zum sog. Direktanspruch (vergleiche ‑‑vgl.‑‑ BFH-Urteile vom 30.06.2015 - VII R 30/14, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ‑‑BFHE‑‑ 250, 34, Bundessteuerblatt ‑‑BStBl‑‑ II 2022, 246, Rz 27; vom 22.08.2019 - V R 50/16, BFHE 266, 395, BStBl II 2022, 290, Rz 16; vom 24.04.2013 - XI R 9/11, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs 2013, 1457, Rz 36). Dies trifft nunmehr auch auf die Finanzverwaltung zu (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 12.04.2022, BStBl I 2022, 652).
b) Übertragung auf den Streitfall
Auf dieser Grundlage könnte der sog. Direktanspruch der grundsätzlich zum Vorsteuerabzug berechtigten Klägerin gegen das FA zu bejahen sein, da die Umstände des Streitfalls weitgehend denen der Rechtssache HUMDA entsprechen.
So wurde in der Rechtssache HUMDA eine Rechnung mit ungarischem Steuerausweis zwischen zwei in Ungarn ansässigen Steuerpflichtigen erteilt, obwohl sich die Rechnung auf eine in Italien ausgeführte Leistung bezog. Im Streitfall geht es um eine Rechnung mit einem inländischen (deutschen) Steuerausweis, die ein im Inland ansässiger Steuerpflichtiger einem gleichfalls im Inland ansässigen Steuerpflichtigen erteilt hat, obwohl sich die Rechnung auf eine in Italien erbrachte Leistung bezieht.
Sowohl in der Rechtssache HUMDA als auch im Streitfall hatte der Rechnungsaussteller die in Rechnung gestellte Umsatzsteuer vereinnahmt und an die Finanzverwaltung abgeführt. In beiden Rechtssachen erweist sich eine Rückforderung der zu Unrecht ausgewiesenen Steuer durch den Rechnungsempfänger vom Leistungsempfänger als im Wesentlichen unmöglich. Im Streitfall ergibt sich dies aus der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Rechnungsausstellers. Da es sich bei dem Rückforderungsanspruch gegen den Rechnungsaussteller um eine sog. Insolvenzforderung handelt, ist hier regelmäßig von einer Anspruchsdurchsetzungsmöglichkeit von weniger als 5 % auszugehen.
c) Zweifel an der Übertragbarkeit
Der Senat hat gleichwohl Zweifel, ob nach den Verhältnissen des Streitfalls ein sog. Direktanspruch zu bejahen ist. Diese Zweifel gründen sich auf Besonderheiten, zu denen sich der EuGH im Zusammenhang mit dem Direktanspruch bislang noch nicht geäußert hat und die daher als klärungsbedürftig anzusehen sind.
aa) Dabei geht es zum einen um die Annahme des EuGH, dass in einem Fall wie dem in der Rechtssache HUMDA überhaupt ein zivilrechtlicher Rückforderungsanspruch besteht.
(1) Zwar hat der EuGH in diesem Urteil ausdrücklich entschieden (Rz 21 f.), dass ein nationales System, in dem zum einen der Dienstleistungserbringer, der die Mehrwertsteuer irrtümlich an die Steuerbehörden abgeführt hat, deren Erstattung verlangen kann und zum anderen der Dienstleistungsempfänger gegen diesen Dienstleistungserbringer eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung erheben kann, die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität beachtet, wobei im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers ein sog. Direktanspruch gegen das FA besteht.
(2) Dies könnte im Sinne eines Rückforderungsanspruchs zu verstehen sein, der sich auf die konkret im Streitfall inländische Steuer bezieht, die in der Rechnung ausgewiesen wurde. Allerdings könnte in dem Fall, in dem an die Stelle einer Rechnung mit einem inländischen Steuerausweis (19 %) eine Rechnung mit einem höheren ausländischen (hier italienischen) Steuerausweis treten müsste, ein Rückforderungsanspruch zu verneinen sein. Bei einer nur auf den jeweiligen Mitgliedstaat bezogenen Sichtweise, wie sie wohl dem EuGH-Urteil HUMDA (EU:C:2022:790) zugrunde liegt, ist das Bestehen eines derartigen Rückforderungsanspruchs zu bejahen.
Bei einer unionsweiten Betrachtung unter Einschluss des Mitgliedstaats, in dem die Leistung tatsächlich erbracht wurde (im Streitfall gleichermaßen Italien wie in der Rechtssache HUMDA) könnte demgegenüber an die Stelle eines Rückforderungsanspruchs ein bloßer Anspruch auf Erteilung einer Rechnung mit italienischer Steuer treten, wovon das FG ausgegangen ist. Der EuGH hat sich im Urteil HUMDA (EU:C:2022:790) mit dieser Fragestellung nicht ausdrücklich beschäftigt.
(3) Für die zuletzt genannte Sichtweise könnte sprechen, dass der Leistende im Streitfall die Möglichkeit hat, sich in Italien mehrwertsteuerrechtlich registrieren zu lassen, so dass er danach unter Angabe einer Steuernummer dieses Mitgliedstaats dem Leistungsempfänger eine Rechnung unter Ausweis der Steuer dieses Mitgliedstaats erteilen könnte. Diese würde dann die Klägerin in Italien zum Vorsteuerabzug in dem besonderen Verfahren nach Art. 170 MwStSystRL in Verbindung mit (i.V.m.) der Richtlinie 2008/9/EG berechtigen. Bei einer erfolgreichen Durchführung dieses Verfahrens entstünde kein Steuerschaden bei der Klägerin. Der Vergütungsanspruch wäre aufgrund der bisher fehlenden Erteilung einer Rechnung mit offen ausgewiesener italienischer Umsatzsteuer auch nicht endgültig ausgeschlossen (vgl. EuGH-Urteile Volkswagen vom 21.03.2018 - C-533/16, EU:C:2018:204; Wilo Salmson France vom 21.10.2021 - C-80/20, EU:C:2021:870).
(4) Zu berücksichtigen könnte zudem sein, dass der Leistende im Streitfall nicht bereit war und ist, in Italien die in Rede stehenden Umsätze zu erklären und dementsprechend dem Leistungsempfänger eine Rechnung auszustellen. Der Klägerin wäre es daher nur möglich gewesen, in einem zivilgerichtlichen Klageverfahren ihren Anspruch auf Erteilung dieser Rechnung geltend zu machen. Dies hat sie nicht getan. Es erscheint dem Senat unionsrechtlich zweifelhaft, ob ihr dieses Unterlassen zum Nachteil gereicht. Der EuGH hat im Urteil HUMDA (EU:C:2022:790) in einem ähnlichen Fall eine solche Klage nicht verlangt.
(5) Einer Berücksichtigung des gesonderten Verfahrens nach Art. 170 MwStSystRL i.V.m. der Richtlinie 2008/9/EG könnte jedoch entgegenstehen, dass dem Direktanspruch auf Erstattung der Umsatzsteuer nicht allgemein "die Umsatzsteuer" nach dem MwStSystRL zugrunde liegt, sondern ‑‑soweit eine Harmonisierung des Mehrwertsteuersystems in der Europäischen Union nicht vollumfänglich durchgeführt wurde‑‑ sich der "innerstaatliche Erstattungsanspruch" nur auf die abgeführte nationale Umsatzsteuer bezieht. Der so verstandene Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers ist ein ausschließlich auf die vom jeweiligen Mitgliedstaat vom Leistenden erhaltene und darauf bezogene zu erstattende Umsatzsteuer, wenn der EuGH dieser Sichtweise folgt.
bb) Fraglich ist schließlich, welche Bedeutung die Bekämpfung von Betrügereien (Art. 325 AEUV) für den sog. Direktanspruch haben könnte.
Ohne dass hierzu eine eindeutige Bestimmung der MwStSystRL vorliegt, versagt der EuGH im Zusammenhang mit sog. Betrug generell alle Rechte, unabhängig davon, welches Recht aus dem Bereich der Mehrwertsteuer von der betrügerischen Handlung betroffen ist (vgl. zum Beispiel EuGH-Urteil Schoenimport "Italmoda" Mariano Previti vom 18.12.2014 - C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rz 46). Dies gilt auch für den Direktanspruch (vgl. EuGH-Urteil HUMDA, EU:C:2022:790, Rz 28, mit Bezugnahme auf das EuGH-Urteil Astone vom 28.07.2016 - C-332/15, EU:C:2016:614, Rz 50).
Im Streitfall könnte danach in Betracht kommen, der Klägerin den sog. Direktanspruch zu versagen, da sie mehrere Jahre nach Durchführung der Lieferung, aber vor Geltendmachung des Direktanspruchs erfahren hat, dass sich der Insolvenzverwalter der E-GmbH nicht in Italien registrieren lassen wird, die Erteilung einer Rechnung mit italienischer Umsatzsteuer faktisch verweigert, woraus der Schluss zu ziehen sein dürfte, dass der Insolvenzverwalter die gesetzlich geschuldete italienische Umsatzsteuer in Italien nicht anmelden wird, was nach dem italienischen Recht dort wohl zu einer Mehrwertsteuerhinterziehung führen dürfte.
Dem könnte allerdings entgegenstehen, dass diese Kenntnis erst nach Leistungsbezug erlangt worden ist.
Dass die Klägerin bereits bei Leistungsbezug wusste oder hätte wissen müssen, dass die Boote in Italien liegen und daher eine Lieferung ohne Beförderung (Art. 31 MwStSystRL) in Italien vorliegt, hat das FA weder vorgetragen noch nachgewiesen.
3. Zur zweiten Vorlagefrage
a) Problemstellung
Unabhängig von der grenzüberschreitenden Fragestellung ist zweifelhaft, an wen die Finanzverwaltung die zu Unrecht gezahlte Umsatzsteuer in Insolvenzfällen zu erstatten hat.
Der Senat versteht die Rechtsprechung zum Direktanspruch in der Weise, dass eine rechtsgrundlos in der Kette Rechnungsempfänger-Rechnungsaussteller-FA gezahlte Steuer grundsätzlich ebenso entlang dieser Kette zurückzuzahlen ist und dass ein Direktanspruch des Rechnungsempfängers gegen das FA nur besteht, wenn diese Rückabwicklung in der Kette aufgrund einer Zahlungsunfähigkeit oder Insolvenz des Rechnungsausstellers nicht über diesen erfolgen kann.
Dabei hat sich der EuGH noch nicht mit der Frage eines eventuellen Vorrangs der konkurrierenden Rückzahlungsansprüche des Rechnungsempfängers und des Rechnungsausstellers gegen das FA beschäftigt.
Berichtigt der Rechnungsaussteller den Steuerausweis in der Rechnung, steht ihm dem Grunde nach ein Rückforderungsanspruch gegen das FA in Bezug auf die bis zur Berichtigung nach Art. 203 MwStSystRL geschuldete Steuer zu (vgl. allgemein EuGH-Urteil Schmeink & Cofreth und Strobel vom 19.09.2000 - C-454/98, EU:C:2000:469, Rz 70). Ist der Rechnungsaussteller zahlungsunfähig oder insolvent, besteht zudem der sich aus der EuGH-Rechtsprechung ergebende Direktanspruch des Rechnungsempfängers gegen das FA. Das FA kann aber aus Sicht des vorlegenden Senats im Hinblick auf eine nur einmal rechtsgrundlos erlangte Steuer nur einmal rückzahlungsverpflichtet sein. Damit stellt sich die Frage, ob dem Rückzahlungsanspruch des Rechnungsausstellers aufgrund der Rechnungsberichtigung gegen das FA oder dem Direktanspruch des Rechnungsempfängers gegen das FA Vorrang zukommt.
Damit unterscheidet sich der Streitfall von der derzeit beim EuGH anhängigen Rechtssache Schütte C-453/22 (Vorlage durch FG Münster vom 27.06.2022 - 15 K 2327/20 AO, EFG 2022, 1577).
b) Lösungsmöglichkeiten
Bei der Beantwortung dieser Frage könnte zu berücksichtigen sein, dass der Direktanspruch des Rechnungsempfängers entsteht, wenn die Rückzahlungskette aufgrund der Zahlungsunfähigkeit oder Insolvenz des Rechnungsausstellers gestört ist. Dies könnte dafür sprechen, dem Direktanspruch Vorrang einzuräumen.
Zu beachten sind zudem zeitliche Besonderheiten, wie sie auch im Streitfall bestehen. So hat vorliegend zuerst der Insolvenzverwalter aufgrund einer Rechnungsberichtigung den Steuerberichtigungsanspruch gegen das FA geltend gemacht und infolgedessen eine Zahlung in die Insolvenzmasse erhalten, während die Klägerin den Direktanspruch gegen das FA erst später geltend gemacht hat.
Jedenfalls dann, wenn das FA bei der Rückzahlung aufgrund der Rechnungsberichtigung noch keine Kenntnis von einem konkreten Direktanspruch hatte (und hiervon auch keine Kenntnis haben konnte), kann es nicht zu einer zweiten Zahlung verpflichtet sein.
Hatte das FA hingegen zu diesem Zeitpunkt bereits Kenntnis von einem konkreten Direktanspruch, könnte davon auszugehen sein, dass das FA die Umsatzsteuer erst dann an den Leistenden erstatten darf, wenn feststeht, dass es zu keinem Direktanspruch des Leistungsempfängers gegen das FA kommen wird, so dass das FA bei Verletzung dieser Obliegenheit den bereits an den Leistenden erstatteten Betrag nochmals an den Leistungsempfänger auszuzahlen hat.
Zum anderen könnte unionsrechtlich der sich aus einer Rechnungsberichtigung ergebende Steuerberichtigungsanspruch des Rechnungsausstellers gegen das FA davon abhängig zu machen sein, dass er den sich aus der Rechnungsberichtigung ergebenden zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruch des Rechnungsempfängers erfüllt hat. Zu einer Rechnungsberichtigung durch den Insolvenzverwalter käme es dann wohl nicht mehr, da er zur Erlangung einer Rückzahlung vom FA zuvor an den Rechnungsempfänger erstatten müsste. Von einem derartigen Erfordernis ist der Senat bereits in einem anderen Fall des Art. 203 MwStSystRL ausgegangen, ohne jedoch über die sich hieraus für den Direktanspruch ergebenden Auswirkungen zu entscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 16.05.2018 - XI R 28/16, BFHE 261, 451, BStBl II 2022, 570).
4. Nebenleistungen
Aufgrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache HUMDA ist nicht mehr klärungsbedürftig, dass die Steuerverwaltung verpflichtet ist, Zinsen auf den fraglichen Betrag zu zahlen, wenn sie diese Erstattung nicht innerhalb angemessener Frist nach entsprechender Aufforderung vorgenommen hat (EuGH-Urteil HUMDA, EU:C:2022:790, Rz 45).
5. Entscheidungserheblichkeit
Die Entscheidung im Streitfall hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab. Sollte der Klägerin ein Direktanspruch zustehen, wäre der Klage stattzugeben. Sollte er zu verneinen sein, wäre die Klage abzuweisen.
6. Rechtsgrundlage der Anrufung und Nebenentscheidung
Rechtsgrundlage für die Anrufung des EuGH ist Art. 267 Abs. 3 AEUV. Die Aussetzung des Revisionsverfahrens beruht auf § 121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung.