ECLI:DE:BFH:2022:B.141122.XIB106.21.0
BFH XI. Senat
FGO § 41 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 03. November 2021, Az: 2 K 2042/18
Leitsätze
NV: Das Feststellungsinteresse für eine Klage auf Feststellung der Nichtbekanntgabe eines Verwaltungsaktes ist zu verneinen, wenn der Antragsteller auch ohne eine gerichtliche Feststellung keine Gefährdung seiner Rechte besorgen muss.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 03.11.2021 - 2 K 2042/18 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) auf Feststellung der Nichtbekanntgabe des Umsatzsteuerbescheids für das Jahr 1992 als unzulässig, hilfsweise als unbegründet ab und ließ die Revision nicht zu. Es ging zur Zulässigkeit davon aus, es fehle an dem erforderlichen Feststellungsinteresse. Zur Begründetheit nahm es an, dass der Bescheid wirksam bekanntgegeben worden sei.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist unbegründet. Ist das Urteil des FG ‑‑wie hier‑‑ kumulativ auf mehrere Begründungen gestützt, von denen jede für sich das Entscheidungsergebnis trägt, muss für jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) schlüssig dargelegt werden (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 15.04.2016 - XI B 109/15, BFH/NV 2016, 1306, Rz 17) und vorliegen (vgl. BFH-Beschluss vom 24.05.2016 - V B 83/15, BFH/NV 2016, 1309, Rz 5). Dies ist in Bezug auf die Abweisung der Klage als unzulässig nicht der Fall, so dass es nicht darauf ankommt, ob die geltend gemachten Zulassungsgründe in Bezug auf die vom FG zudem angenommene Unbegründetheit vorliegen.
1. Ohne Erfolg rügt die Klägerin als Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, das FG habe gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO verstoßen, indem es ihr Klagebegehren missachtet und nicht über ihren Antrag, die Nichtbekanntgabe des Umsatzsteuerbescheids festzustellen, entschieden habe. Dieser Vorwurf trifft nicht zu.
a) Das FG hat auf S. 8 seines Urteils den Antrag der Klägerin wiedergegeben, der dem in der mündlichen Verhandlung vom 03.11.2021 protokollierten Antrag entspricht. Danach hat die Klägerin beantragt, die Unwirksamkeit/Nichtbekanntgabe des in der Einspruchsentscheidung bezeichneten Umsatzsteuerbescheids für 1992 vom 16.11.1998 festzustellen. Die Klägerin hat diesbezüglich weder Protokollberichtigung noch Tatbestandsberichtigung beantragt.
b) Über diesen Antrag hat das FG entschieden; denn es hat auf S. 9 des Urteils im ersten Absatz ausgeführt, als Klageziel sei festzustellen, der Umsatzsteuerbescheid für 1992 sei der Klägerin gegenüber nicht in wirksamer Weise bekanntgegeben worden und somit ihr gegenüber nicht existent. Damit hat es das Klagebegehren zutreffend erfasst und folglich darüber entschieden. Im Folgeabsatz hat es angenommen, die Klägerin habe kein Feststellungsinteresse an der von ihr begehrten Feststellung der Nichtbekanntgabe des Umsatzsteuerbescheids für 1992. Das fehlende Feststellungsinteresse hat es sodann auf S. 10 f. des Urteils unter b) begründet. Ein rechtlich nicht existent gewordener Bescheid (Nichtakt) gleicht in seiner rechtlichen Unwirksamkeit einem nichtigen Verwaltungsakt (vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.11.1986 - 8 C 127/84, BStBl II 1987, 472, Rz 16).
2. Die Revision ist nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wegen der geltend gemachten Abweichungen des FG-Urteils von der von der Klägerin benannten vermeintlichen Divergenzentscheidung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen.
a) Die behauptete Abweichung der Vorentscheidung vom BFH-Beschluss vom 25.02.1999 - IV R 36/98 (BFH/NV 1999, 1117) liegt schon mangels vergleichbarer Sachverhalte nicht vor. Zur schlüssigen Darlegung einer Divergenz gehört neben der Gegenüberstellung tragender, abstrakter Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen andererseits des Weiteren auch eine Begründung, dass es sich im Streitfall und in der Divergenzentscheidung um vergleichbare Sachverhalte und eine jeweils identische Rechtsfrage handelt; durch den vom BFH aufgestellten Rechtssatz muss der Sachverhalt des FG als mitentschieden gelten (vgl. BFH-Beschluss vom 06.02.2019 - VIII B 103/18, BFH/NV 2019, 566, Rz 6).
b) Dies ist nicht der Fall. Nach dem BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 1117, Rz 15 unterscheidet sich der Fall der nicht ordnungsgemäßen Bekanntgabe eines Bescheids wesentlich von anderen Fällen, in denen es um das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses geht, während er sich unter Rechtsschutzgesichtspunkten nicht oder jedenfalls nicht wesentlich vom Fall der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes unterscheidet. Die Gleichartigkeit beider Fallgestaltungen zeige sich auch darin, dass das Feststellungsinteresse (§ 41 Abs. 1 FGO) bei der nicht ordnungsgemäßen Bekanntgabe des Verwaltungsaktes aufgrund des von diesem gleichwohl ausgehenden Rechtsscheins "grundsätzlich" ebenso ohne weiteres bejaht werden könne wie im Fall eines nichtigen Verwaltungsaktes, während es ansonsten besonderer Darlegungen bedürfe.
Hieraus folgt indes nicht, wie die Klägerin geltend macht, dass das Feststellungsinteresse immer zu bejahen ist oder vom FG nicht geprüft werden darf. Der BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 1117, Rz 15 spricht nur einen Grundsatz an, von dem es Ausnahmen geben kann. Das besondere Feststellungsinteresse ist bei einem Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes nur deshalb grundsätzlich gegeben, weil von einem nichtigen Verwaltungsakt der Rechtsschein der Wirksamkeit ausgehen kann und daher die Gefahr besteht, dass sich das Finanzamt (FA) bei unklarer Rechtslage eines nicht gegebenen Rechtsanspruchs berühmt (BFH-Urteil vom 24.01.2008 - V R 36/06, BFHE 220, 208, BStBl II 2008, 686, unter II.3.). Auf dieser Grundlage ist ein Feststellungsinteresse z.B. zu verneinen, wenn keine Gefahr der Vollstreckung aus dem nichtigen Steuerbescheid besteht und sich das FA auch entsprechend verhält (BFH-Urteil in BFHE 220, 208, BStBl II 2008, 686, unter II.3.). Dies entspricht auch der weiteren Rechtsprechung des BFH, nach der auch bei der Feststellung der Nichtbekanntgabe eines Verwaltungsaktes ein Feststellungsinteresse erforderlich ist (vgl. BFH-Beschluss vom 01.07.1987 - II B 204/86, BFH/NV 1988, 50, Rz 10; zur Nichtigkeitsfeststellungsklage BFH-Urteil vom 11.04.1991 - V R 86/85, BFHE 164, 219, BStBl II 1991, 729, Rz 19 ff.).
Mit seiner Entscheidung, dass im Streitfall ein Interesse an der Feststellung der Nichtbekanntgabe des Umsatzsteuerbescheids 1992 zu verneinen sei, weicht das FG nicht von dem BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 1117 ab. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang ausführt, das FG habe die Klage als unzulässig abgewiesen, weil die Klägerin ein Feststellungsinteresse nicht dargelegt habe, trifft dies nicht zu. Denn das FG hat die Klage nicht nur wegen fehlender Darlegungen abgewiesen (FG-Urteil S. 10, unter b, 1. Absatz), sondern insoweit sein Urteil weiter (kumulativ, s. oben unter II.1.) damit begründet, dass die Klägerin auch kein schutzwürdiges wirtschaftliches oder rechtliches Interesse an der Feststellung der Nichtbekanntgabe des Umsatzsteuerbescheids für 1992 habe (FG-Urteil S. 10, unter b, 2. Absatz), weil, wie es sodann weiter ausgeführt hat, für die Umsatzsteuer 1992 sowohl Festsetzungsverjährung als auch Zahlungsverjährung eingetreten sei und das ruhende Klageverfahren wegen Umsatzsteuer 1992 (5 K 5051/16) kein Feststellungsinteresse begründe. Damit hat das FG hinreichend dargelegt, weshalb es vorliegend aufgrund besonderer Umstände das ansonsten "grundsätzlich" im Sinne des BFH-Beschlusses in BFH/NV 1999, 1117 zu bejahende Feststellungsinteresse verneint hat. Diese Betrachtung entspricht im Übrigen dem BFH-Urteil in BFHE 220, 208, BStBl II 2008, 686, wobei der Senat zudem eine Divergenz zwischen den beiden Entscheidungen verneint.
Mit der Annahme, dass das FG den Rechtsstreit falsch entschieden habe, legt die Klägerin im Übrigen keinen Zulassungsgrund dar, sondern stellt die materielle Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung in Frage, was die Zulassung der Revision grundsätzlich nicht zu rechtfertigen vermag (vgl. BFH-Beschlüsse vom 12.10.2018 - XI B 65/18, BFH/NV 2019, 129, Rz 16; vom 13.03.2019 - XI B 97/18, BFH/NV 2019, 711, Rz 9; jeweils m.w.N.).
3. Das FG hat ‑‑entgegen der Auffassung der Klägerin‑‑ das rechtliche Gehör der Klägerin nicht verletzt, indem es auf den Umstand, dass auch die Klage wegen Feststellung der Nichtbekanntgabe eines Verwaltungsaktes ein Feststellungsinteresse voraussetzt, das zu verneinen sein kann, nicht hingewiesen hat. Sein Urteil ist insoweit auch kein Überraschungsurteil.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (vgl. u.a. BFH-Beschluss vom 04.03.2020 - XI B 30/19, BFH/NV 2020, 611, Rz 7). Darüber hinaus gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör, für die Prozessbeteiligten überraschende Entscheidungen zu unterlassen. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt stützt und dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen nicht rechnen musste (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 03.02.2016 - XI B 53/15, BFH/NV 2016, 954, Rz 23; vom 26.04.2018 - XI B 117/17, BFH/NV 2018, 953, Rz 16).
b) Hieran fehlt es im Streitfall. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich aus der unter II.2.b genannten Rechtsprechung, dass auch im Falle der Klage auf Feststellung der Nichtbekanntgabe eines Verwaltungsaktes ein Feststellungsinteresse erforderlich ist, das zu verneinen sein kann, wenn der Antragsteller auch ohne eine gerichtliche Feststellung keine Gefährdung seiner Rechte besorgen muss. Ein fachkundig vertretener Beteiligter ‑‑wie die Klägerin‑‑ hat von sich aus alle vertretbaren rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte in Erwägung zu ziehen; auf rechtliche Umstände, die er selbst hätte erkennen können und müssen, muss ein Beteiligter nicht hingewiesen werden (vgl. BFH-Beschluss vom 27.10.2020 - XI B 33/20, BFH/NV 2021, 459, Rz 18; BFH-Urteil vom 20.10.2021 - XI R 19/20, BFH/NV 2022, 429, Rz 46). Das FG war auch nicht verpflichtet, vor seiner Entscheidungsfindung seine Rechtsansicht mündlich oder schriftlich mitzuteilen bzw. die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte und Rechtsfragen im Voraus anzudeuten oder sogar umfassend zu erörtern (vgl. BFH-Beschlüsse vom 05.12.2013 - XI B 1/13, BFH/NV 2014, 547, Rz 4; vom 17.05.2021 - VIII B 88/20, BFH/NV 2021, 1353; Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.1997 - 1 BvR 1934/93, BVerfGE 96, 189).
c) Dass das FG der Auffassung der Klägerin zu dem Feststellungsinteresse nicht gefolgt ist, begründet keine Verletzung rechtlichen Gehörs. Ein Anspruch darauf, dass das Gericht einen Verfahrensbeteiligten "erhört", d.h. sich seinen rechtlichen Ansichten oder seiner Sachverhaltswürdigung anschließt, ergibt sich aus dem Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 20.02.2018 - XI B 129/17, BFH/NV 2018, 641, Rz 22; vom 29.07.2020 - XI S 8/20, BFH/NV 2021, 34, Rz 6).
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO).
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.