ECLI:DE:BFH:2022:U.140722.IIIR40.20.0
BFH III. Senat
EStG § 62ff, EStG § 62, EStG § 74 Abs 2, SGB 2 § 19, SGB 10 § 102ff, SGB 10 § 102, SGB 10 § 104, SGB 10 § 107, FGO § 60 Abs 3, FGO § 118, FGO § 136, FGO § 139 Abs 4, AO § 37 Abs 2 S 1, AO § 47, EStG § 31 S 3, EStG VZ 2017
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 28. Mai 2020, Az: 13 K 2747/17
Leitsätze
1. NV: Das Jobcenter hat keinen Erstattungsanspruch gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X, wenn die Familienkasse das Kindergeld im jeweiligen Monat für den jeweiligen Monat fristgerecht ausgezahlt hat. Dies gilt auch dann, wenn das Jobcenter wegen Nichtanrechnung des Kindergelds erhöhte Leistungen erbracht hat.
2. NV: Die Kindergeldansprüche des Berechtigten gelten dann nicht gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X als erfüllt und gemäß § 47 AO als erloschen, da § 107 SGB X an das Bestehen eines Erstattungsanspruchs gemäß §§ 102 ff. SGB X anknüpft.
3. NV: Ob das Jobcenter von der Festsetzung und Zahlung des Kindergelds wusste oder sie hätte verhindern können, ist von Rechts wegen unerheblich; § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X, an den § 107 SGB X anknüpft, stellt allein auf die rechtzeitige Erfüllung der Leistungsverpflichtung ab.
Tenor
Der Gerichtsbescheid des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 28.05.2020 - 13 K 2747/17 und der Abrechnungsbescheid der Familienkasse vom 28.07.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.09.2017 werden dahingehend geändert, dass bei Auszahlung des Kindergelds für das am ...08.2016 geborene Kind in den Monaten Januar bis Juni 2017 jeweils nicht erfüllte Kindergeldansprüche in gleicher Höhe bestanden haben und die Rückzahlungsverpflichtung gegenüber der Familienkasse somit um 1.152 € von 2.102 € auf 950 € vermindert wird.
Die Kosten des Klageverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Jobcenters tragen die Klägerin zu 45 % und die Familienkasse zu 55 %.
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Familienkasse.
Tatbestand
I.
In der Sache ist noch streitig, ob die Kindergeldansprüche der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für die Zeit von Januar bis Juni 2017 wegen der Leistungen des Beigeladenen (Jobcenter) und dessen Erstattungsansprüchen gegen die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gemäß § 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 107 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) als erfüllt gelten und erloschen sind sowie ob die Klägerin das Kindergeld für diese Monate zurückzahlen muss.
Die Klägerin bezog für sich und ihr mit ihr eine Bedarfsgemeinschaft bildendes erstes Kind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, d.h. Arbeitslosengeld II gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 des Zweites Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) und Sozialgeld gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Das Kindergeld für dieses (erste) Kind wurde bedarfs- und leistungsmindernd bei der Bemessung der Leistungen nach dem SGB II berücksichtigt.
Am ...08.2016 gebar die Klägerin ein zweites Kind.
Mit Bescheid vom 16.09.2016 erhöhte das Jobcenter deshalb die Leistungen nach dem SGB II rückwirkend ab August 2016. Als einzusetzendes Einkommen der nun aus der Klägerin und zwei Kindern bestehenden Bedarfsgemeinschaft berücksichtigte es bedarfs- und leistungsmindernd nur das tatsächlich gezahlte Kindergeld für das erste Kind, mangels Zuflusses aber nicht den Kindergeldanspruch für das zweite Kind.
Am 16.09.2016, also noch am selben Tag, teilte das Jobcenter der Familienkasse mit, dass es der Klägerin "seit dem 01.08.2016" Leistungen nach dem SGB II zahle, dass es davon ausgehe, dass diese für das am ...08.2016 geborene Kind einen Kindergeldanspruch habe, und dass es einen Erstattungsanspruch gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. §§ 102 ff. SGB X geltend machen wolle.
Das Schreiben des Jobcenters, in dem der Name der Klägerin richtig geschrieben war, ging bei der Familienkasse zeitnah ein. Es wurde jedoch der für die Klägerin ‑‑infolge eines Buchstabendrehers unter einem geringfügig abweichenden Namen‑‑ geführten Akte nicht zugeordnet, sondern in einer unter dem richtigen Namen neu angelegten Akte abgelegt.
Auf Antrag der Klägerin vom 21.11.2016 setzte die Familienkasse durch Bescheid vom 25.11.2016 Kindergeld ab August 2016 (bis August 2034) für das am ...08.2016 geborene Kind fest und zahlte das Kindergeld für die Zeit ab August 2016 aus. In den Monaten Januar bis Juni 2017 wurde das damals 192 € je Monat und Kind betragende Kindergeld im jeweiligen Monat für den jeweiligen Monat gezahlt. Das Schreiben des Jobcenters vom 16.09.2016 wurde dabei übersehen.
Das Jobcenter erfuhr von der Kindergeldfestsetzung und -auszahlung zunächst nichts und zahlte deshalb weiterhin Leistungen nach dem SGB II ohne bedarfs- und leistungsmindernde Anrechnung des Kindergelds für das zweite Kind.
Erst Ende Juni 2017 erfuhr das Jobcenter von der Kindergeldfestsetzung und -zahlung für das zweite Kind. In der Folge bezifferte es seinen Erstattungsanspruch gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. §§ 102 ff. SGB X mit Schreiben vom 20.07.2017 auf 950 € für den Zeitraum August bis Dezember 2016 sowie auf 1.152 € für den Zeitraum Januar bis Juni 2017, also insgesamt auf 2.102 € und setzte mit Bescheid vom 03.08.2017 seine Leistungen nach dem SGB II ab Juli 2017 neu fest, wobei es nun auch das Kindergeld für das zweite Kind einkommens- und leistungsmindernd berücksichtigte.
Die Familienkasse erstattete dem Jobcenter diese Beträge und erließ am 28.07.2017 gegenüber der Klägerin einen Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO), in dem sie entschied, die Kindergeldansprüche der Klägerin für das am ...08.2016 geborene zweite Kind für die Zeit von August 2016 bis Juni 2017 gälten infolge der erhöhten Leistungen nach dem SGB II und die hieran anknüpfenden Erstattungsansprüche des Jobcenters gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X als erfüllt und seien damit gemäß § 47 AO erloschen. Die Auszahlung des Kindergelds sei somit insoweit ohne Rechtsgrund erfolgt, weshalb die Klägerin gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 AO zur Erstattung verpflichtet sei.
Die Klägerin legte erfolglos Einspruch ein (Einspruchsentscheidung vom 25.09.2017) und erhob dann Klage.
Das Finanzgericht (FG) lud das Jobcenter gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit Beschluss vom 03.06.2019 zum Verfahren bei, wies die Klage ab und ließ die Revision hinsichtlich der "Erstattungszeiträume Januar 2017 bis Juni 2017" zu.
Die Vorentscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2021, 614 veröffentlicht.
Die Klägerin wendet sich gegen dieses Urteil mit der Revision, soweit diese vom FG zugelassen worden ist, d.h. sinngemäß beschränkt auf den Teil des Abrechnungsbescheids, der die Kindergeld- und Rückzahlungsansprüche für die Monate Januar bis Juni 2017 betrifft.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Vorentscheidung und den Abrechnungsbescheid der Familienkasse vom 28.07.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.09.2017 dahingehend zu ändern, dass bei Auszahlung des Kindergelds für das am ...08.2016 geborene Kind in den Monaten Januar bis Juni 2017 jeweils nicht erfüllte Kindergeldansprüche in gleicher Höhe bestanden haben und die Rückzahlungsverpflichtung gegenüber der Familienkasse somit um 1.152 € von 2.102 € auf 950 € vermindert wird.Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Das beigeladene Jobcenter hat keinen Sachantrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung verstößt gegen Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO), soweit das FG entschieden hat, dass der Abrechnungsbescheid (auch) hinsichtlich der Kindergeldzahlungen und Rückforderungsansprüche für die Monate Januar bis Juni 2017 rechtmäßig war. Die an das Bestehen eines Erstattungsanspruchs anknüpfende Erfüllungsfiktion des § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 SGB X greift in den Monaten, in denen das Kindergeld rechtzeitig gezahlt wurde, nicht. Die Zahlung in den Monaten Januar bis Juni 2017 erfolgte somit mit Rechtsgrund. Die Rückzahlungsverpflichtung der Klägerin (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO) ist um 1.152 € (192 €/Monat x 6 Monate) von 2.102 € auf 950 € zu verringern.
1. Ein Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 1 und Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO, der von einem Erlöschen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 18.02.2020 - VII R 39/18, BFHE 268, 391, BFH/NV 2020, 1183, Rz 22) des Kindergeldanspruchs gemäß § 47 AO i.V.m. § 74 Abs. 2 EStG, § 107 Abs. 1 SGB X, einem hieran anknüpfenden Leistungsverweigerungsrecht der Familienkasse sowie ‑‑bei dennoch erfolgter rechtsgrundloser Zahlung des Kindergelds‑‑ einem Rückzahlungsanspruch der Familienkasse (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO) gegen den Kindergeldberechtigten ausgeht, ist nur dann rechtmäßig, wenn das Jobcenter wegen seiner Leistungen gegenüber der Familienkasse einen Erstattungsanspruch gemäß §§ 102 ff. SGB X hat.
a) Im Streitfall kommt als Anknüpfungstatbestand für die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X nur ein Erstattungsanspruch gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 und 2 SGB X in Betracht (vgl. z.B. Senatsurteil vom 14.04.2021 - III R 1/20, BFHE 273, 41, BStBl II 2021, 700, Rz 17 f.; BFH-Beschluss vom 05.06.2014 - VI R 15/12, BFHE 246, 298, BStBl II 2015, 145, Rz 20; Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 74 EStG Rz 39; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach ‑‑HHR‑‑, § 74 EStG Rz 17).
b) Ein Erstattungsanspruch gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Sätze 1 und 2, Abs. 2 SGB X setzt voraus, dass ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Leistungen erbracht hat, die er bei rechtzeitiger Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers nicht erbringen hätte müssen. Dabei darf der vorrangig verpflichtete Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet haben, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 104 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB X).
aa) Das Gesetz zielt u.a. darauf ab, Doppelzahlungen zu verhindern und setzt deshalb die Kongruenz, also die Gleichartigkeit der Leistungen und die Übereinstimmung der Leistungszeiträume voraus (vgl. etwa HHR/Wendl, § 74 EStG Rz 17, m.w.N.). § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 SGB X erweitert den Erstattungsanspruch auch auf Fälle, in denen von einem nachrangig verpflichteten Leistungsträger für einen Angehörigen Sozialleistungen erbracht worden sind, wenn ein anderer mit Rücksicht auf diesen Angehörigen einen Kindergeldanspruch nach dem EStG hat oder hatte (vgl. Senatsurteil vom 26.07.2012 - III R 28/10, BFHE 238, 315, BStBl II 2013, 26, Rz 11).
bb) Außerdem ist der nachrangige Leistungsträger nur dann zur Leistung verpflichtet, wenn der vorrangig verpflichtete Leistungsträger die ihm obliegende Leistung nicht oder nicht rechtzeitig erbracht hat oder erbringt (vgl. z.B. Urteile des Bundessozialgerichts ‑‑BSG‑‑ vom 28.08.1997 - 14/10 RKg 11/96, BSGE 81, 30, Rz 15; vom 30.06.1997 - 8 RKn 28/95, Sozialrecht 3-2600 § 93 Nr 4, Rz 27 und 30; vom 25.01.1994 - 7 RAr 42/93, BSGE 74, 36, Leitsatz 1 und unter II.6., und vom 19.03.1992 - 7 RAr 26/91, BSGE 70, 186, Rz 37 ff.; Landessozialgericht ‑‑LSG‑‑ Mecklenburg-Vorpommern ‑‑MV‑‑, Urteil vom 17.06.2021 - L 14 AS 255/17, Neue Justiz ‑‑NJ‑‑ 2021, 421, Rz 55; Böttiger in Diering/Timme/Stähler, SGB X, 5. Aufl. 2019, Vor § 102 Rz 24 f., und § 104 Rz 12; Roos in Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 104 Rz 6).
Eine rechtzeitige Erfüllung i.S. des § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X durch die Familienkasse liegt vor, wenn sie das Kindergeld im jeweiligen Monat für den jeweiligen Monat zahlt. Mangels eines in § 66 Abs. 2 EStG gesetzlich geregelten Auszahlungstermins im einzelnen Anspruchszeitraum ist es auch nicht erforderlich, dass die Familienkasse die nur durch eine Verwaltungsanweisung geregelten, nach Kindergeldendziffern gestaffelten kassenmäßigen Auszahlungstermine einhält (a.A. LSG MV in NJ 2021, 421, Rz 55; vgl. auch BSG-Urteil in BSGE 81, 30, Rz 16, m.w.N.; Roos, a.a.O., § 104 Rz 6). Gemäß § 31 Satz 3 EStG wird Kindergeld laufend monatlich als Steuervergütung gezahlt; auch sonst wird das Kindergeldrecht vom Monatsprinzip geprägt (vgl. § 66 Abs. 2 EStG).
2. Nach diesen Grundsätzen kann im Streitfall das Jobcenter wegen seiner Leistungen für die Monate Januar bis Juni 2017 keine Erstattung in Höhe des Kindergelds verlangen. Kindergeld und Sozialgeld für das zweite Kind sind zwar gleichartige Leistungen, die für den selben Zeitraum gewährt wurden. Die Familienkasse hat aber in den noch streitgegenständlichen Monaten jeweils rechtzeitig gezahlt. Ob das Jobcenter davon wusste oder die Doppelzahlung hätte verhindern können, ist von Rechts wegen unerheblich; § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X, an den § 107 SGB X anknüpft, stellt allein auf die rechtzeitige Erfüllung der Leistungsverpflichtung ab.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Für das Klageverfahren entspricht sie dem jeweiligen Anteil des Unterliegens oder Obsiegens. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind von der insoweit vollständig unterliegenden Familienkasse allein zu tragen.
Es entspricht der Billigkeit, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Jobcenters im Klageverfahren nach § 139 Abs. 4 FGO zu 45 % aufzuerlegen, weil dieses die in diesem Umfang obsiegende Familienkasse im Klageverfahren unterstützt hat (BFH-Urteil vom 04.05.2000 - IV R 10/99, BFHE 191, 529, BStBl II 2002, 850; Senatsurteil vom 09.02.2009 - III R 36/07, juris, unter II.5.).
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Familienkasse allein. Das Jobcenter hat sich im Revisionsverfahren in der Sache nicht geäußert und keine Anträge gestellt (vgl. BFH-Urteil vom 09.02.2009 - III R 39/07, juris, unter II.4.). Der Umstand, dass es auf mündliche Verhandlung verzichtet und damit dem Senat eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ermöglicht hat, rechtfertigt es nicht, es an den von der Familienkasse zu tragenden Kosten zu beteiligen.