ECLI:DE:BFH:2022:BA.200922.IIB3.22.0
BFH II. Senat
FGO § 69 Abs 3, AO § 233a, AO § 238 Abs 1 S 1, AO § 240, GG Art 3 Abs 1, GG Art 100 Abs 1, VVG § 193 Abs 6 S 2
vorgehend FG Münster, 16. Dezember 2021, Az: 12 V 2684/21 AO
Leitsätze
1. NV: Bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm setzt die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung voraus, dass ein besonderes Aussetzungs- bzw. Aufhebungsinteresse des Antragstellers besteht.
2. NV: Fehlt das besondere Interesse an der Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung eines Abrechnungsbescheides über die Entstehung von Säumniszuschlägen, kann offenbleiben, ob ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Säumniszuschlägen bestehen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Finanzgerichts Münster vom 16.12.2021 - 12 V 2684/21 AO aufgehoben.
Der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 10.03.2021 über die Entstehung von Säumniszuschlägen zur Grunderwerbsteuer wird abgelehnt.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Antragstellerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin), eine GmbH, erwarb mit notariell beurkundetem Vertrag vom xx.05.2019 ein Grundstück zu einem Kaufpreis von 3.100.000 €. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt ‑‑FA‑‑) setzte daraufhin Grunderwerbsteuer in Höhe von 201.500 € fest, welche am 05.09.2019 fällig wurde. Die Antragstellerin entrichtete die Steuer am 19.11.2019. Die in der Zwischenzeit entstandenen Säumniszuschläge in Höhe von 6.045 € zahlte die Antragstellerin am 09.01.2020.
Antragsgemäß erließ das FA am 10.03.2021 einen entsprechenden Abrechnungsbescheid und lehnte zugleich einen von der Antragstellerin bereits zuvor gestellten Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides ab. Gegen den Abrechnungsbescheid und die Ablehnung der Aufhebung der Vollziehung legte die Antragstellerin Einsprüche ein, über die noch nicht entschieden wurde.
Das Finanzgericht (FG) hob mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 225 veröffentlichten Beschluss die Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 10.03.2021 über die Entstehung von Säumniszuschlägen zur Grunderwerbsteuer in voller Höhe auf. Es bestünden ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge.
Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde macht das FA geltend, dass der Antragstellerin bereits das für einen Antrag, der mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm begründet werde, erforderliche besondere Aussetzungsinteresse fehle. Im Übrigen bestünden auch keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 240 der Abgabenordnung (AO).
Das FA beantragt sinngemäß,
die Vorentscheidung aufzuheben und den Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 10.03.2021 abzulehnen.Die Antragstellerin hat keinen Antrag gestellt und sich zur Sache auch nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides. Der Antragstellerin fehlt jedenfalls ein berechtigtes Interesse an der Anordnung der Aufhebung der Vollziehung.
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll das Gericht der Hauptsache auf Antrag die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, kann das Gericht nach § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 05.07.2018 - II B 122/17, BFHE 262, 163, BStBl II 2018, 660, Rz 10, m.w.N.). Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 25.04.2018 - IX B 21/18, BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415, Rz 13, m.w.N.).
a) Bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm setzt die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich voraus, dass ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an. Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes ist der Vorrang einzuräumen, wenn die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führen würde, die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und der Eingriff keine dauerhaften nachteiligen Wirkungen hat (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 19.02.2018 - II B 75/16, BFH/NV 2018, 706, Rz 33, m.w.N.).
Der BFH hat in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auf verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm beruhen, in verschiedenen Fallgruppen dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen Interessen eingeräumt, und zwar wenn dem Steuerpflichtigen durch den sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen, wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt, wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hatte, wenn der BFH die vom Steuerpflichtigen als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hatte, wenn ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des bisher zulässigen Abzugs von laufenden erwerbsbedingten Aufwendungen als Werbungskosten bestehen oder wenn es um das aus verfassungsrechtlichen Gründen schutzwürdige Vertrauen auf die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage oder um ausgelaufenes Recht geht (z.B. BFH-Beschluss vom 01.04.2010 - II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558, Rz 10, m.w.N.).
b) Bei Anwendung dieser Grundsätze kann dahinstehen, ob überhaupt Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der in § 240 Abs. 1 Satz 1 AO angeordneten Höhe der Säumniszuschläge bestehen (so insbesondere BFH-Beschlüsse vom 23.05.2022 - V B 4/22 (AdV), BFHE 276, 535, BFH/NV 2022, 1030, Rz 45 f., und vom 31.08.2021 - VII B 69/21 (AdV), nicht veröffentlicht). Jedenfalls lässt sich weder dem Vorbringen der Antragstellerin noch dem sonstigen Akteninhalt ein (besonderes) berechtigtes Interesse der Antragstellerin an der Gewährung einer Aufhebung der Vollziehung des angegriffenen Abrechnungsbescheides entnehmen.
aa) Es ist nicht ersichtlich, dass die (vorläufige) Pflicht zur Begleichung der hier streitigen Säumniszuschläge in Höhe von 6.045 €, welcher die Antragstellerin überdies bereits nachgekommen ist, sie in bedeutendem Maße in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit beeinträchtigen würde. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsachen, dass die Antragstellerin zuvor ein Grundstück für 3.100.000 € erwarb und die daraus resultierende Grunderwerbsteuer in Höhe von 201.500 € beglich. Dass Letzteres erst nach knapp drei Monaten Säumnis erfolgte, ändert hieran nichts, da die Gründe für diese Säumnis völlig unklar sind. Der aufseiten der Antragstellerin erfolgte Eingriff ist daher als eher gering und ohne dauerhaft nachteilige Wirkungen einzustufen. Im Ergebnis besteht das Interesse der Antragstellerin allein darin, die Säumniszuschläge nicht zahlen zu müssen.
bb) Demgegenüber besteht am Vollzug des § 240 AO wegen der Sicherung einer geordneten Haushaltsführung ein öffentliches Interesse. Eine Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides hinsichtlich der vollen Höhe der Säumniszuschläge würde zu einer faktischen Außerkraftsetzung des § 240 AO und damit bei den Steuergläubigern zu erheblichen Einnahmeausfällen führen. Eine exakte Bestimmung dieser Einnahmeausfälle ist bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung nicht erforderlich (vgl. BFH-Beschluss vom 15.06.2016 - II B 91/15, BFHE 253, 319, BStBl II 2016, 846, Rz 18 am Ende, m.w.N.).
cc) Es liegt schließlich auch keine der oben genannten Fallgruppen vor, in welchen der BFH dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen Interessen eingeräumt hat. Soweit das FG Münster, das in dem hier angegriffenen Beschluss das besondere Aussetzungsinteresse der Antragstellerin noch nicht eigenständig geprüft hat, in zuletzt ergangenen Beschlüssen nunmehr ein solches Interesse mit der Begründung bejaht hat, dass das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt habe (vgl. Beschlüsse des FG Münster jeweils vom 25.04.2022 - 12 V 570/22 AO, EFG 2022, 1083; 12 V 571/22 AO, juris; 12 V 572/22 AO, juris, und vom 04.04.2022 - 11 V 2680/21 AO, EFG 2022, 1081), kann der Senat dem nicht folgen.
aaa) Zwar hat das BVerfG für die Höhe der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen (nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für jeden Monat einhalb Prozent) entschieden, dass sie für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist (wobei das bisherige Recht für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar bleibt; vgl. BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282). Allerdings hat es das BVerfG ausdrücklich abgelehnt, diese Unvereinbarkeitserklärung auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der AO zulasten der Steuerpflichtigen, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO zu erstrecken, weil die Verwirklichung dieser Tatbestände anders als § 233a AO von einem Verhalten des Steuerpflichtigen abhänge (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 158, 282, Rz 242 f.). Des Weiteren hat das BVerfG ausgeführt, dass Nachzahlungszinsen weder Sanktion noch Druckmittel seien, sondern ein Ausgleich für die Kapitalnutzung; sie hätten keine Lenkungsfunktion dahingehend, die Steuerpflichtigen dazu anzuhalten, ihre Steuererklärungen frühzeitig abzugeben oder etwaige Vorauszahlungen angemessen anzusetzen (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 158, 282, Rz 126).
Demgegenüber hat das BVerfG in einem Beschluss, mit welchem es eine Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit der Höhe der Säumniszuschläge nach § 193 Abs. 6 Satz 2 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) für unzulässig erklärt hat, ausgeführt, dass es das Ziel dieser Säumniszuschläge sei, den Bürger zur zeitnahen Erfüllung seiner Zahlungsverpflichtungen anzuhalten und die Verletzung eben jener Verpflichtungen zu sanktionieren. Die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen sei damit nicht Haupt-, sondern allenfalls Nebenzweck der Regelung. Gerade anders als im Falle des § 233a AO sei der Säumniszuschlag die Folge einer dem Versicherungsnehmer zurechenbaren Pflichtverletzung, der Nichtzahlung der Prämien trotz Fälligkeit und Einredefreiheit (vgl. BVerfG-Beschluss vom 04.05.2022 - 2 BvL 1/22, juris, Rz 31).
bbb) Es ist kein Grund ersichtlich, diese Rechtsprechung des BVerfG zu § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG nicht auf Säumniszuschläge nach § 240 AO zu übertragen. Auch Letztere (die im Übrigen in der Höhe den Säumniszuschlägen nach § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG entsprechen) sind ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Dass darüber hinaus vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern erlangt werden soll, ist daneben nur weiterer, aber nicht alleiniger Zweck des § 240 AO (vgl. BFH-Beschluss vom 02.03.2017 - II B 33/16, BFHE 257, 27, BStBl II 2017, 646, Rz 32, m.w.N.).
Aus der Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich demnach hinreichend, dass sich ein Gleichlauf der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Höhe von Zinsen nach § 233a AO und von Säumniszuschlägen nach § 240 AO aufgrund der jeweiligen Besonderheiten verbietet (so auch die Begründung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung, BRDrucks 157/22, S. 6 f., mit dem die Zinshöhe für Zinsen nach § 233a AO neu geregelt wurde; soweit demgegenüber der BFH-Beschluss in BFH/NV 2022, 1030, Rz 44 bis 46, davon ausgeht, dass die verfassungsrechtliche Beurteilung von Zinsen und Säumniszuschlägen parallel laufe, ist darauf hinzuweisen, dass dort der BVerfG-Beschluss vom 04.05.2022 - 2 BvL 1/22 offenbar noch nicht berücksichtigt werden konnte). Es liegt somit kein ein besonderes Aussetzungsinteresse der Antragstellerin begründender Fall vor, in welchem das BVerfG eine ähnliche Vorschrift wie die streitbefangene für nichtig erklärt hätte.
2. Eine Aufhebung der Vollziehung kommt auch nicht nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO wegen einer unbilligen Härte in Betracht. Anhaltspunkte hierfür sind weder von der Antragstellerin vorgetragen worden noch sonst aus den Akten ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.