ECLI:DE:BFH:2022:U.220922.IIIR37.21.0
BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 1, SGB 3 § 38 Abs 3 S 2, SGB 3 § 38 Abs 4, EStG VZ 2018
vorgehend Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern , 18. Juni 2021, Az: 2 K 106/19
Leitsätze
1. Hat die Agentur für Arbeit das arbeitsuchende Kind aus der Vermittlung abgemeldet, fehlt es aber an einer wirksamen Bekanntgabe der Einstellungsverfügung oder an einer einvernehmlichen Beendigung der Arbeitsuchendmeldung, hängt der Fortbestand der Arbeitsuchendmeldung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG davon ab, ob das arbeitsuchende Kind eine Pflichtverletzung begangen hat, welche die Agentur für Arbeit nach § 38 Abs. 3 Satz 2 SGB III (in der Fassung vom 20.12.2011) zur Einstellung der Vermittlung berechtigt hat (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung).
2. Weder die Löschung der Registrierung noch die einvernehmliche Beendigung eines Berufsberatungstermins führen zum Wegfall der Arbeitsuchendmeldung.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 18.06.2021 - 2 K 106/19 insoweit aufgehoben, als die Klage abgewiesen wurde.
Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung des Bescheids vom 10.12.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 01.03.2019, Kindergeld für die im Dezember 1998 geborene Tochter der Klägerin für die Monate November 2018 und Dezember 2018 festzusetzen.
Unter Aufhebung der Kostenentscheidung des Finanzgerichts werden die Kosten des gesamten Verfahrens der Beklagten auferlegt.
Tatbestand
I.
Streitig ist im Revisionsverfahren noch das Kindergeld für die im Dezember 1998 geborene Tochter (T) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für die Monate November und Dezember 2018.
T beendete im Juli 2017 die Schulausbildung. In der Zeit vom ...09.2017 bis zum ...10.2018 absolvierte sie ein Au-pair-Jahr im Ausland.
Am 11.10.2018 beantragte die Klägerin bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) Kindergeld ab Oktober 2018. Zur Begründung führte die Klägerin aus, T befände sich seit dem ...10.2018 wieder zu Hause und sei auf der Suche nach einer Ausbildung oder gleich nach einem Studienplatz. T habe sich zudem am ...10.2018 bei der Agentur für Arbeit D als arbeitsuchend gemeldet.
Die Familienkasse forderte die Klägerin mit Schreiben vom 15.11.2018 auf, Nachweise über eigene Bemühungen des Kindes um eine Ausbildung ab Oktober 2018 vorzulegen. Die Klägerin teilte daraufhin mit, dass sich das Kind noch in der beruflichen Orientierungsphase befinde. T solle Zeit bis Februar 2019 eingeräumt werden, um sich an einer Universität einzuschreiben.
Mit Bescheid vom 10.12.2018 lehnte die Familienkasse den Antrag mit der Begründung ab, die besonderen Anspruchsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) lägen nicht vor. Nach den Daten der für die Arbeitsvermittlung zuständigen Stelle sei das Kind nicht als arbeitsuchend gemeldet gewesen.
Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 01.03.2019 als unbegründet zurück.
Mit der sich anschließenden Klage begehrte die Klägerin Kindergeld für die Monate Oktober bis Dezember 2018. Die Klage hatte nur für den Monat Oktober 2018 Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gelangte nach Vernehmung der T als Zeugin und schriftlichen Stellungnahmen einer Mitarbeiterin der Agentur für Arbeit D (Frau A) sowie von Frau B (Beratungsfachkraft Berufsberatung) zu der Überzeugung, dass sich das Kind zwar am ...10.2018 bei der Agentur für Arbeit als arbeitsuchend gemeldet hat, aber spätestens nach dem Beratungstermin am ...10.2018 davon hätte ausgehen müssen, nicht mehr als arbeitsuchend gemeldet zu sein. Insoweit wies das FG die Klage für die Monate November und Dezember 2018 ab.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG Mecklenburg-Vorpommern aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen wurde, und Kindergeld für die Monate November und Dezember 2018 für das Kind T, geboren am ...12.1998, festzusetzen.Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit die Klage abgewiesen wurde, und zur Klagestattgabe (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Klägerin für die Monate November bis Dezember 2018 kein Kindergeld zusteht. T ist als arbeitsuchend gemeldetes Kind i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG zu berücksichtigen.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG besteht für ein über 18 Jahre altes Kind, das, wie T, das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, Anspruch auf Kindergeld, wenn es nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht und bei einer Agentur für Arbeit im Inland als Arbeitsuchender gemeldet ist.
a) Bei einer Agentur für Arbeit als Arbeitsuchender gemeldet ist, wer gegenüber der zuständigen Agentur für Arbeit persönlich die Tatsache einer künftigen oder gegenwärtigen Arbeitslosigkeit anzeigt (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 18.06.2015 - VI R 10/14, BFHE 250, 145, BStBl II 2015, 940; Senatsurteil vom 07.07.2016 - III R 19/15, BFHE 254, 562, BStBl II 2017, 124; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32 EStG Rz 90). Der Registrierung des arbeitsuchenden Kindes und einer etwaigen daran anknüpfenden Bescheinigung kommt keine (echte) Tatbestandswirkung für den Kindergeldanspruch zu. Entscheidend ist, ob sich das Kind im konkreten Fall tatsächlich bei der Arbeitsvermittlung als Arbeitsuchender gemeldet hat (Senatsurteil in BFHE 254, 562, BStBl II 2017, 124, Rz 12).
b) Diese Voraussetzungen lagen bei T zunächst vor, denn T hat sich nach den tatsächlichen, den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG im Oktober 2018 bei der Arbeitsagentur als arbeitsuchend gemeldet.
2. Streitig ist allein, ob der von T im Monat Oktober 2018 begründete Status als Arbeitsuchende durchgehend im Streitzeitraum bestanden hat.
a) Da keine ausdrückliche steuerrechtliche Regelung besteht, wann der durch eine Meldung als Arbeitsuchender begründete Status wieder entfällt, sind für das Kindergeldrecht insoweit die Vorschriften des Sozialrechts, hier insbesondere § 38 des Sozialgesetzbuches (SGB) III in der Fassung vom 20.12.2011, heranzuziehen (vgl. Senatsurteile vom 19.06.2008 - III R 68/05, BFHE 222, 349, BStBl II 2009, 1008, unter II.2.b, und vom 10.04.2014 - III R 19/12, BFHE 245, 200, BStBl II 2015, 29; BFH-Urteile vom 26.08.2014 - XI R 1/13, BFH/NV 2015, 15, Rz 19, und in BFHE 250, 145, BStBl II 2015, 940, Rz 22).
b) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH setzt zwar der Wegfall der Wirkung einer Meldung als Arbeitsuchender nicht konstitutiv die wirksame Bekanntgabe einer Einstellungsverfügung voraus (vgl. BFH-Urteil vom 20.05.2015 - XI R 46/14, BFH/NV 2015, 1242, Rz 17; Senatsurteil in BFHE 245, 200, BStBl II 2015, 29, Rz 14). Der Fortbestand der Meldung als Arbeitsuchender hängt dann davon ab, ob das arbeitsuchende Kind eine Pflichtverletzung begangen hat, welche die Arbeitsagentur nach § 38 Abs. 3 Satz 2 SGB III zur Einstellung der Vermittlung berechtigt (BFH-Urteile in BFH/NV 2015, 1242, und in BFH/NV 2015, 15; Senatsurteile in BFHE 245, 200, BStBl II 2015, 29, und vom 10.04.2014 - III R 37/12, BFH/NV 2014, 1726; Senatsbeschluss vom 19.03.2014 - III S 22/13, BFH/NV 2014, 856). Liegt hingegen eine die Arbeitsagentur zur Einstellung berechtigende Pflichtverletzung nicht vor, entfällt die Wirkung einer Meldung als Arbeitsuchender nur, wenn das Kind von sich aus die Beendigung der Arbeitsuchendmeldung verlangt (§ 38 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III analog) oder die wirksame Bekanntgabe einer Einstellungsverfügung (Verwaltungsakt) vorliegt. Ist die Vermittlung mangels einer beachtlichen Pflichtverletzung des arbeitsuchenden Kindes zu Unrecht eingestellt worden und fehlt es auch an einer wirksamen Einstellungsverfügung oder eines Antrags des Kindes auf Beendigung der Arbeitssuche, besteht die Arbeitsuchendmeldung für Zwecke des Kindergeldrechts grundsätzlich zeitlich unbefristet ‑‑ggf. bis zum Erreichen des 21. Lebensjahres‑‑ fort (Senatsurteil in BFHE 245, 200, BStBl II 2015, 29, Rz 27).
c) Nach Maßgabe dieser Grundsätze besteht die am ...10.2018 erfolgte Arbeitsuchendmeldung auch für die Monate November 2018 und Dezember 2018 fort.
aa) Es liegt keine wirksam bekanntgegebene Einstellungsverfügung vor. Das FG hat zwar festgestellt, dass dem Kind beim Berufsberatungstermin am ...10.2018 klar gewesen sei, dass es dabei nicht als arbeitsuchend aufgenommen worden sei. Eine (mündliche, § 33 Abs. 2 SGB X) Bekanntgabe einer Einstellungsverfügung hat das FG damit jedoch nicht festgestellt. Denn es hat nicht festgestellt, dass die Berufsberaterin, bei der T am ...10.2018 einen Termin hatte, als Vertreterin oder Botin der für die Einstellung der Vermittlung und die Beendigung der Arbeitssuche zuständigen Stelle der Agentur für Arbeit D eine Einstellungsverfügung ausgesprochen hat. Selbst wenn die Registrierung der T als Arbeitsuchende vor oder nach dem Berufsberatungstermin gelöscht worden sein sollte, handelte es sich allenfalls um einen Realakt (vgl. Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 05.06.2014 - L 9 AL 288/12, juris, Rz 28), dem selbst keine Tatbestandswirkung beizumessen ist (Senatsurteil in BFHE 245, 200, BStBl II 2015, 29, Rz 22). Ob T einen derartigen Realakt ‑‑seine Existenz unterstellt‑‑ kannte oder kennen musste, ist ohne Belang.
bb) Ebenfalls lässt sich keine Pflichtverletzung i.S. von § 38 SGB III feststellen. Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür noch hat das FG entsprechende Feststellungen getroffen, dass T die ihr entweder nach § 38 Abs. 2 SGB III oder einer Eingliederungsvereinbarung oder einem Verwaltungsakt nach § 37 Abs. 3 Satz 4 SGB III obliegenden Pflichten nicht erfüllt hat.
cc) T hat auch nicht von sich aus die Abmeldung/Beendigung der Vermittlung verlangt (§ 38 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III analog). Aus der E-Mail vom ...09.2020, in der der Beratungstermin geschildert wurde, ergibt sich nur, dass der "Beratungsprozess" "einvernehmlich beendet" wurde, nicht aber, dass ein Bezug zur Arbeitsvermittlungsstelle und zur Abmeldung von dieser hergestellt wurde.
3. Die Kostentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Aufgrund des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung hatte der Senat über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden.