ECLI:DE:BFH:2022:U.120522.VR19.20.0
BFH V. Senat
UStG § 1 Abs 1, UStG § 2 Abs 1, UStG § 10 Abs 1, UStG § 11, UStG § 12 Abs 1, UStG § 25 Abs 3, UStG § 25a, EGRL 112/2006 Art 9 Abs 1, AO § 162, UStG VZ 2009 , UStG VZ 2010 , UStG VZ 2011 , UStG VZ 2012 , UStG VZ 2013
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 19. Juli 2018, Az: 2 K 1835/16
Leitsätze
1. Die Gegenleistung ist in Entgelt und Steuerbetrag aufzuteilen.
2. Veräußert ein Verkäufer auf jährlich mehreren hundert Auktionen Waren über die Internetplattform "ebay", liegt eine nachhaltige und damit umsatzsteuerrechtlich unternehmerische Tätigkeit i.S. des § 2 Abs. 1 UStG vor.
3. Die Aufzeichnungspflichten gemäß § 25a Abs. 6 Satz 1 UStG gehören nicht zu den materiellen Voraussetzungen der Differenzbesteuerung. Ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflichten führt deshalb nicht grundsätzlich zur Versagung der Differenzbesteuerung.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 19.07.2018 - 2 K 1835/16 aufgehoben.
Die Sache wird an den zuständigen Vollsenat des Hessischen Finanzgerichts zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) kaufte in den Streitjahren (2009 bis 2013) Gegenstände aus Haushaltsauflösungen an und bot sie auf der Internet-Auktions-Plattform "ebay" (ebay) in Form von Versteigerungen zum Verkauf an. Dazu legte sie vier Konten auf ebay an und eröffnete zwei Girokonten. Die Klägerin verkaufte 2009 auf 577 Auktionen, 2010 auf 1 057 Auktionen, 2011 auf 628 Auktionen, 2012 auf 554 Auktionen und 2013 auf 260 Auktionen Waren über ebay. Steuererklärungen gab sie nicht ab. Eine Steuerfahndungsprüfung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ‑‑FA‑‑) ergab folgende Einnahmen:
Auktionen
Einnahmen
2009
577
40.000 €
2010
1 057
70.000 €
2011
628
90.000 €
2012
554
90.000 €
2013
260
80.000 €
Das FA erließ entsprechende Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheide, in denen es die Betriebsausgaben und Vorsteuern in Höhe von 30 % der Einnahmen schätzte. In den Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre jeweils vom 20.05.2016 setzte das FA Umsatzsteuer in Höhe von 19 % auf die festgestellten Einnahmen fest. Vorsteuerbeträge erkannte das FA nicht an.
Die Klägerin erhob nach erfolglosem Vorverfahren Klage. Die Klage hatte teilweise Erfolg (Hessisches Finanzgericht ‑‑FG‑‑, Urteil vom 19.07.2018 - 2 K 1835/16, Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2019, 777). Das FG entschied, die Einnahmen seien zu Recht dem Grunde nach der Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer unterworfen worden. Die Klägerin habe nicht nur privates Vermögen veräußert, sondern sei nach Würdigung der gesamten Umstände wie eine typische Einzelhändlerin aufgetreten. Dafür spreche u.a. die Anzahl der über viele Jahre getätigten Verkäufe und der Aufwand. Sie habe An- und Verkäufe mit auf Güterumschlag gerichteter Absicht getätigt und sei dauerhaft am Markt als Anbieter verschiedener Güter aufgetreten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen (FG Köln, Urteil vom 04.03.2015 - 14 K 188/13, EFG 2015, 1103, und Niedersächsisches FG, Beschluss vom 26.05.2010 - 4 V 210/09, juris) den Ansatz von Betriebsausgaben mit Werten von 40 % bzw. 80 % des Nettoumsatzes für angemessen befunden habe, sei eine Schätzung der Betriebsausgaben bei der Einkommensteuer- und Gewerbesteuerfestsetzung von 60 % des Nettoumsatzes gerechtfertigt. Im Übrigen wies das FG die Klage ab.
In dem vor dem X. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) geführten Revisionsverfahren X R 26/18 hat der X. Senat das Verfahren wegen Umsatzsteuer 2009 bis 2013 mit Beschluss vom 17.06.2020 abgetrennt und zuständigkeitshalber an den V. Senat abgegeben. Mit Urteil vom selben Tag hat der X. Senat das Urteil des FG aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen (BFH-Urteil vom 17.06.2020 - X R 26/18, BFH/NV 2021, 314).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin insbesondere die Verletzung materiellen Rechts. Sie sei nicht als Händlerin anzusehen, da sie weder ein Konzept noch eine Organisation noch Vorkenntnisse im Handel habe. Sie kaufe gelegentlich aus Haushaltsauflösungen und verkaufe die Gegenstände wieder über ebay für ein Mindestgebot von 1 €. Es sei wie bei einer Lotterie unsicher, ob Gewinne entstünden. Zahlreiche Gegenstände verkaufe sie deutlich unter Einkaufswert, andere werfe sie einfach weg. Sie habe auch nichts dafür getan, die Gegenstände gewinnbringend zu veräußern (z.B. Mindestpreise, Werbung, besondere Darstellung der Gegenstände, Auswahl gutgehender Gegenstände) und jedenfalls per Saldo keinen Gewinn erzielt. Ihr Ziel sei der Nervenkitzel bzw. die Spannung gewesen, zu welchem Preis die Gegenstände gekauft würden. Für sie sei es Zeitvertreib bzw. Hobby bzw. Liebhaberei gewesen. Bei ebay sei sie nur private Kundin gewesen. Das FG habe auch nicht dargelegt, wann die Gewerblichkeit begonnen und geendet habe. Es müsse zunächst das Bestehen eines Gewerbebetriebs festgestellt werden, bevor mangels ordnungsgemäßer Buchführung zur Schätzung übergegangen werden könne. Zudem habe das FG keine anerkannte Schätzungsmethode gewählt. Eine Betriebsausgabenquote von 60 % des Nettoumsatzes sei willkürlich. Der Schätzungsbescheid sei nichtig.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil, die Einspruchsentscheidung vom 12.09.2016 sowie die Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2009 bis 2013 vom 20.05.2016 aufzuheben,
hilfsweise die Zurückverweisung an einen anderen Senat des FG.Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG-Urteil ist aufzuheben, weil es § 10 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) verletzt, indem es zu Unrecht die Festsetzung von Umsatzsteuer auf die (Brutto-)Einnahmen bestätigt hat. Die Sache ist insbesondere im Hinblick auf die Differenzbesteuerung nach § 25a UStG nicht spruchreif.
1. Gemäß § 12 Abs. 1 UStG beträgt die Steuer für jeden steuerpflichtigen Umsatz 19 % der Bemessungsgrundlage (§§ 10, 11, 25 Abs. 3 und 25a Abs. 3 und 4 UStG).
a) Bemessungsgrundlage ist gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 UStG das Entgelt. Entgelt war gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG nach der in den Streitjahren geltenden Fassung dieser Vorschrift alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, abzüglich der Umsatzsteuer. Deshalb hätte die festzusetzende Umsatzsteuer in den angefochtenen Bescheiden aus den sog. (Brutto-)Einnahmen herausgerechnet werden müssen. Das wird das FG bei seiner erneuten Entscheidung berücksichtigen müssen.
Dass die Klägerin mit ihrer Revision nicht die Verletzung dieser Vorschrift rügt, ist ohne Bedeutung. Denn stützt ein Revisionskläger ‑‑wie im vorliegenden Fall‑‑ sein Rechtsmittel in zulässiger Weise auf die Verletzung materiellen Rechts, prüft der BFH nach dem Grundsatz der Vollrevision das angefochtene Urteil in vollem Umfang auf die Verletzung revisiblen Rechts, ohne dabei an die vorgebrachten Revisionsgründe gebunden zu sein (§ 118 Abs. 3 Satz 2 FGO; vgl. BFH-Urteile vom 27.01.2016 - X R 2/14, BFHE 253, 89, BStBl II 2016, 534; vom 19.10.2011 - X R 65/09, BFHE 235, 304, BStBl II 2012, 345, und vom 23.10.2019 - V R 46/17, BFHE 267, 140).
b) Diese Beurteilung entspricht auch der unionsrechtlichen Grundlage in Art. 73 und Art. 78 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Danach ist die Besteuerungsgrundlage die vom Steuerpflichtigen tatsächlich erhaltene Gegenleistung, wobei die Mehrwertsteuer nicht in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen ist. Die Gegenleistung beinhaltet somit im Gegensatz zur Bemessungsgrundlage den Steuerbetrag. Denn wird z.B. ein Kaufvertrag ohne Hinweis auf die Mehrwertsteuer abgeschlossen und kann der Lieferer die später von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer vom Erwerber nicht wiedererlangen, hätte die Berücksichtigung des Gesamtpreises ohne Abzug der Mehrwertsteuer als Grundlage für die Erhebung der Mehrwertsteuer zur Folge, dass die Mehrwertsteuer diesen Lieferer belasten würde, und verstieße somit gegen den Grundsatz, dass es sich bei der Mehrwertsteuer um eine Verbrauchsteuer handelt, die vom Endverbraucher zu tragen ist (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ Tulică vom 07.11.2013 - C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rz 35). Dabei ist der vereinbarte Betrag auch dann in Entgelt und in die darauf entfallende Umsatzsteuer aufzuteilen, wenn die an der Leistung Beteiligten z.B. rechtsirrtümlich die Gegenleistung ohne Umsatzsteuer vereinbaren (vgl. BFH-Urteil vom 16.11.2016 - V R 1/16, BFHE 256, 542, BStBl II 2017, 1079, Leitsatz 2).
2. Im Ergebnis zu Recht entschieden hat das FG, dass die streitigen Leistungen der Klägerin der Umsatzsteuer unterliegen.
a) Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Unternehmer ist gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Gewerblich oder beruflich ist nach § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt.
b) Bei richtlinienkonformer Anwendung muss dabei eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S. des Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL ausgeübt werden (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 26.04.2012 - V R 2/11, BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634; vom 18.12.2008 - V R 80/07, BFHE 225, 163, BStBl II 2011, 292, unter II.1.; vom 11.04.2008 - V R 10/07, BFHE 221, 456, BStBl II 2009, 741, unter II.1. zu Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‑‑Richtlinie 77/388/EWG‑‑). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 9 MwStSystRL der Mehrwertsteuer einen sehr breiten Anwendungsbereich zuweist (EuGH-Urteile Van Tiem vom 04.12.1990 - C-186/89, EU:C:1990:429, Rz 17; EDM vom 29.04.2004 - C-77/01, EU:C:2004:243, Rz 47 zu Art. 4 der Richtlinie 77/388/EWG).
c) Hinsichtlich der weiteren Anforderungen an die Nachhaltigkeit von Verkäufen über ebay verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf sein Urteil in BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634.
Danach ist im vorliegenden Streitfall die Würdigung des FG, wonach es sich bei den Verkäufen um eine nachhaltige Tätigkeit i.S. des § 2 Abs. 1 UStG handelt, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das FG hat ausdrücklich auf das Gesamtbild der Verhältnisse und die Verkehrsanschauung abgestellt und berücksichtigt, dass die Klägerin ihre Verkaufstätigkeit über viele Jahre hinweg nachhaltig ausgeübt hat, weil auch die Anzahl der Verkäufe von beträchtlichem Umfang war. So hat die Klägerin 2009 auf 577 Auktionen, 2010 auf 1 057 Auktionen, 2011 auf 628 Auktionen, 2012 auf 554 Auktionen und 2013 auf 260 Auktionen Waren veräußert. Das FG hat weiter berücksichtigt, dass der Umfang dieser Tätigkeit eine Betriebsorganisation erforderte. Sie hat Verpackungsmaterial kaufen, Waren verpacken, Porto zahlen und digitale Bilder der angebotenen Gegenstände fertigen müssen. Das FG hat diesen Sachverhalt ohne Verstoß gegen Denkgesetze und ohne Vernachlässigung wesentlicher Umstände dahingehend gewürdigt, dass eine intensive und langfristige Verkaufstätigkeit unter Nutzung bewährter Vertriebsmaßnahmen ("ebay"-Plattform) vorliegt, die deshalb als nachhaltig i.S. des § 2 Abs. 1 UStG zu beurteilen ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Klägerin einen privaten oder einen gewerblichen Zugang gewählt hat, weil die Merkmale der unternehmerischen Tätigkeit keinem Wahlrecht unterliegen.
Auf das Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht kommt es im Umsatzsteuerrecht gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG nicht an.
3. Die Sache ist gleichwohl nicht spruchreif, weil Feststellungen zur Differenzbesteuerung nach § 25a UStG fehlen.
a) Angesichts der nachhaltigen selbständigen Tätigkeit ist davon auszugehen, dass die Klägerin Wiederverkäuferin i.S. des § 25a Abs. 1 Nr. 1 UStG ist, weil sie gewerbsmäßig mit beweglichen körperlichen Gegenständen handelt. Welche Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 25a UStG, und zwar insbesondere dafür, dass der Vorlieferant die Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 UStG erfüllt, zu stellen sind, ist zwar höchstrichterlich noch nicht entschieden (vgl. hierzu z.B. FG Düsseldorf, Urteil vom 24.03.2021 - 5 K 1414/18 U, EFG 2021, 1948 - Revision eingelegt, Az. des BFH: XI R 15/21). Da die Klägerin die von ihr weiter veräußerten Gegenstände nach den Feststellungen des FG "beim Stöbern bei Haushaltsauflösungen" erworben hat, kann aber nach den Verhältnissen des Streitfalls von einem Erwerb, für den keine Umsatzsteuer geschuldet wurde (§ 25a Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a UStG), auszugehen sein.
b) Ob die Klägerin auch auf gewerblichen Haushaltsauflösungen Gegenstände erworben hat und ob es sich dabei um Edelsteine oder Edelmetalle gehandelt hat (§ 25a Abs. 1 Nr. 3 UStG), wird das FG feststellen müssen.
c) In Bezug auf die Aufzeichnungspflichten gemäß § 25a Abs. 6 Satz 1 UStG weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass diese ‑‑entgegen dem FG-Urteil‑‑ nicht zu den materiellen Voraussetzungen der Differenzbesteuerung gehören, sodass ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflichten grundsätzlich nicht dazu führt, die Differenzbesteuerung zu versagen, sondern vielmehr ‑‑ggf. zu Lasten des Wiederverkäufers‑‑ nach § 162 der Abgabenordnung (AO) zu schätzen sein kann (vgl. Grebe in Wäger, UStG, 2. Aufl., § 25a Rz 56; zur Zulässigkeit der Schätzung vgl. bereits FG Berlin, Urteil vom 21.12.1999 - 7 K 5176/98, EFG 2000, 521).
Unionsrechtlich erklärt sich dies zum einen daraus, dass nur eine Pflicht zu (getrennten) Aufzeichnungen nach Art. 324 MwStSystRL besteht, wenn die Differenzbesteuerung neben der Regelbesteuerung angewendet wird. Zum anderen hat der EuGH zwar entschieden, dass sich die Bemessungsgrundlage, die nach der Differenzbesteuerung bestimmt wird, aus Aufzeichnungen ergeben muss, die es ermöglichen, zu überprüfen, ob sämtliche Voraussetzungen für die Anwendung dieser Regelung erfüllt sind (vgl. EuGH-Urteil Sjelle Autogenbrug vom 18.01.2017 - C-471/15, EU:C:2017:20, Rz 43). Danach müssen die Aufzeichnungen des steuerpflichtigen Wiederverkäufers und die damit in Zusammenhang stehenden Rechnungen ‑‑abgesehen von Ausnahmefällen‑‑ objektive Informationen zu dem betreffenden Umsatz und den verkauften Gegenständen liefern können (vgl. EuGH-Urteil E LATS vom 11.07.2018 - C-154/17, EU:C:2018:560, Rz 38). Steht aber fest, dass die Voraussetzungen der Differenzbesteuerung vorliegen, kann ein Ausnahmefall in diesem Sinne vorliegen, bei dem aufgrund des Fehlens von Aufzeichnungen die Anwendung der Differenzbesteuerung nicht zwingend zu versagen ist. Es ist dann vielmehr zu prüfen, ob Einkaufspreise ggf. mit einem (erheblichen) Sicherheitsabschlag zu Lasten des Wiederverkäufers nach § 162 AO geschätzt werden können (so im Ergebnis auch Stadie in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 25a Rz 176). Der Senat berücksichtigt dabei auch, dass im Rahmen der Differenzbesteuerung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (EuGH-Urteil Litdana vom 18.05.2017 - C-624/15, EU:C:2017:389, Rz 44) und danach eine derartige Schätzung ‑‑als milderes Mittel‑‑ in Betracht zu ziehen sein kann.
d) Soweit eine Differenzbesteuerung nach § 25a UStG nicht in Betracht kommen sollte, wird das FG noch Feststellungen zum Vorsteuerabzug und zum Steuersatz nachholen müssen.
aa) Die Feststellungen des FG lassen keine Beurteilung zu, ob und ggf. in welcher Höhe die Voraussetzungen eines Vorsteuerabzugs vorgelegen haben. Die Feststellung des FG, dass die Klägerin die von ihr verkauften Gegenstände "beim Stöbern bei Haushaltsauflösungen" erworben hat, deutet darauf hin, dass es sich um Erwerbe von Nichtunternehmern gehandelt hat, die gemäß § 15 Abs. 1 UStG nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen (s. oben unter II.3.a.). Hierzu wird das FG aber noch Feststellungen nachholen müssen. Dasselbe gilt für das Vorliegen von zum Vorsteuerabzug berechtigenden Rechnungen und den übrigen Voraussetzungen eines Vorsteuerabzugs nach § 15 Abs. 1 UStG.
bb) Soweit die Voraussetzungen der Differenzbesteuerung nicht vorliegen sollten, wird das FG ferner zu prüfen haben, ob auf einzelne Umsätze der ermäßigte Steuersatz nach § 12 Abs. 2 UStG Anwendung findet. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass die Tatbestände des § 12 Abs. 2 UStG als Ausnahmeregelungen eng auszulegen sind (EuGH-Urteile Kommission/Frankreich vom 06.05.2010 - C-94/09, EU:C:2010:253; Erotic Center vom 18.03.2010 - C-3/09, EU:C:2010:149, m.w.N.) und dass der Steuerpflichtige die Feststellungslast für das Vorliegen der Merkmale der Steuerermäßigung trägt (BFH-Urteil in BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634).
4. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Voraussetzungen des § 19 UStG im Streitfall nicht vorliegen.
a) Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG wird die für die Umsätze i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG geschuldete Umsatzsteuer nicht erhoben, wenn der in Satz 2 bezeichnete Umsatz zuzüglich der darauf entfallenden Steuer im vorangegangenen Kalenderjahr 17.500 € nicht überstiegen hat und im laufenden Kalenderjahr 50.000 € voraussichtlich nicht übersteigen wird. Diese Voraussetzungen waren in den Streitjahren nicht erfüllt, weil der jeweils maßgebliche Vorjahresumsatz 17.500 € überstiegen hat. Die Umsatzgrenze von 50.000 € hat keine eigene Bedeutung, wenn der Vorjahresumsatz bereits die Grenze von 17.500 € übersteigt; Bedeutung hat die Umsatzgrenze nur für den Fall, dass die Umsätze des vorangegangenen Jahres geringer sind als 17.500 €, aber im laufenden Jahr voraussichtlich 50.000 € übersteigen (BFH-Urteil in BFHE 237, 286, BStBl II 2012, 634; BFH-Beschluss vom 18.10.2007 - V B 164/06, BFHE 219, 400, BStBl II 2008, 263, unter II.2.b, m.w.N.).
b) Auch für das Erstjahr 2009 ist die Grenze der Kleinunternehmerbesteuerung überschritten. Denn in Kalenderjahren, in denen der Unternehmer sein Unternehmen beginnt, ist die Umsatzgrenze von 17.500 € für das laufende Kalenderjahr maßgeblich (BFH-Urteil vom 22.11.1984 - V R 170/83, BFHE 142, 316, BStBl II 1985, 142; BFH-Beschluss in BFHE 219, 400, BStBl II 2008, 263).
c) Auch soweit die Anwendung der Differenzbesteuerung nach § 25a UStG in Betracht kommt (s. oben II.3.), führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn bei der Ermittlung des Gesamtumsatzes nach der Kleinunternehmerregelung (§ 19 UStG) ist bei einem Händler, der der Differenzbesteuerung (§ 25a UStG) unterliegt, nicht auf die Differenz zwischen dem geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis (Handelsspanne), sondern auf die Gesamteinnahmen abzustellen (BFH-Urteil vom 23.10.2019 - XI R 17/19 (XI R 7/16), BFHE 267, 154).
5. Die von der Klägerin beantragte Zurückverweisung an einen anderen Senat des FG ist im Streitfall nicht geboten, da ernstliche Zweifel an dessen Unvoreingenommenheit (vgl. zu den Voraussetzungen BFH-Urteil vom 04.09.2002 - XI R 67/00, BFHE 200, 1, BStBl II 2003, 142) nicht zu erkennen sind und auch von der Klägerin nicht vorgetragen worden sind. Allein die Fehlerhaftigkeit des FG-Urteils genügt hierfür nicht.
Der vom FG dem Einzelrichter übertragene Rechtsstreit wird allerdings unter Aufhebung des Beschlusses betreffend die Übertragung des Streitfalls auf den Einzelrichter an den Vollsenat zurückverwiesen, da die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 FGO im Streitfall nicht gegeben sind (vgl. BFH-Urteile vom 13.12.2018 - III R 13/15, BFH/NV 2019, 1069; vom 30.11.2010 - VIII R 19/07, BFH/NV 2011, 449, und in BFH/NV 2021, 314).
6. Der Senat hat die Entscheidung in einer Videokonferenz unter den hierfür von der BFH-Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen getroffen (vgl. BFH-Urteil vom 10.02.2021 - IV R 35/19, BFHE 272, 152).
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.