ECLI:DE:BFH:2021:BA.260521.VIIB13.21.0
BFH VII. Senat
AO § 240 Abs 1 S 1, FGO § 69, FGO § 69 Abs 2 S 7, GG Art 3 Abs 1
vorgehend FG Münster, 28. Mai 2020, Az: 12 V 901/20 AO
Leitsätze
NV: Gegen die Höhe der nach § 240 AO zu entrichtenden Säumniszuschläge bestehen für Jahre ab 2012 jedenfalls insoweit erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, als den Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers werden der Beschluss des Finanzgerichts Münster vom 29.05.2020 - 12 V 901/20 AO und der ablehnende Bescheid des Antragsgegners vom 24.03.2020 aufgehoben.
Die Vollziehung des Abrechnungsbescheids vom 10.03.2020 wird in Höhe der hälftigen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für August 2018 bezogen auf den Zeitraum vom 11.10.2018 bis zum 10.11.2018 ‑‑mithin in Höhe von X €‑‑ rückwirkend ab Fälligkeit aufgehoben.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der in einem Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge.
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) erließ am 10.03.2020 einen (geänderten) Abrechnungsbescheid, der zulasten des Antragstellers und Beschwerdeführers (Antragsteller) neben weiteren Steuerforderungen auch Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für August 2018 für den Zeitraum vom 11.10.2018 bis zum 10.11.2018 in Höhe von Y € auswies. Die in dem Abrechnungsbescheid aufgeführten Forderungen wurden durch Aufrechnung vollständig beglichen.
Der Antragsteller legte gegen den Abrechnungsbescheid Einspruch ein und machte geltend, dass die darin aufgeführten Säumniszuschläge, soweit sie einen Betrag von X € überstiegen, verfassungswidrig seien. Säumniszuschläge wiesen einen Druck- und einen Zinscharakter auf. Um den Druckcharakter gehe es ihm hier nicht. Soweit jedoch in den Säumniszuschlägen ein Zinsanteil enthalten sei, werde dieser von den verfassungsrechtlichen Zweifeln des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Höhe des gesetzlich vorgegebenen Zinssatzes von 6 % erfasst. Insoweit sei ihm daher Aufhebung der Vollziehung (AdV) der hälftigen Säumniszuschläge zu gewähren.
Über den Einspruch des Antragstellers hat das FA bislang noch nicht entschieden. Den AdV-Antrag lehnte es jedoch mit Entscheidung vom 24.03.2020 mit der Begründung ab, die Rechtsprechung habe bestätigt, dass der Säumniszuschlag in Höhe von 1 % je angefangenem Monat der Säumnis dem Grunde nach verfassungsgemäß sei und dass Säumniszuschläge insbesondere keinen ‑‑auch keinen verdeckten‑‑ Zinsanteil enthielten.
Mit Beschluss vom 29.05.2020 hat das Finanzgericht (FG) einen dort gestellten Antrag auf AdV ebenfalls abgelehnt; der Beschluss ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 1053, veröffentlicht. Die Beschwerde gegen diesen Beschluss hat das FG nachträglich mit Beschluss vom 27.01.2021 zugelassen.
Gegen die Ablehnung des AdV-Antrags wendet sich der Antragsteller mit der vorliegenden Beschwerde.
Entscheidungsgründe
II.
Die nach § 128 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde ist begründet.
1. Nach der im vorläufigen Verfahren gemäß § 69 FGO gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage gelangt der beschließende Senat zu der Auffassung, dass an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge ernstliche Zweifel bestehen, so dass der angefochtene Beschluss des FG zusammen mit der Entscheidung des FA vom 24.03.2020 aufzuheben und dem AdV-Antrag des angefochtenen Abrechnungsbescheids in dem tenorierten Umfang stattzugeben war.
a) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, tritt an die Stelle der Aussetzung der Vollziehung die Aufhebung der Vollziehung (§ 69 Abs. 2 Satz 7 FGO).
Nach der Rechtsprechung des BFH bestehen ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage oder Unklarheiten in der Beurteilung von Tatfragen bewirken. Dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen, wird dabei nicht vorausgesetzt (vgl. BFH-Beschluss vom 15.04.2020 - IV B 9/20 (AdV), BFH/NV 2020, 919, m.w.N.). Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 04.07.2019 - VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060, m.w.N.).
Vollzogen i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 7 FGO ist ein Verwaltungsakt auch im Falle einer Aufrechnung. Diese ist nach Anordnung einer Aufhebung der Vollziehung vorläufig rückgängig zu machen (vgl. Senatsbeschluss vom 24.10.1996 - VII B 122/96, BFH/NV 1997, 257, unter 2.b bb; s.a. BFH-Beschluss vom 15.03.1999 - I B 95/98, BFH/NV 1999, 1205, unter II.3.b, m.w.N.; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 69 Rz 175).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist dem Antragsteller die begehrte Aufhebung der Vollziehung der streitgegenständlichen Säumniszuschläge in der beantragten Höhe zu gewähren.
Der BFH hat wiederholt entschieden, dass gegen die Höhe der in § 233a der Abgabenordnung (AO) und in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Zinssätze ab dem Jahr 2012 erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, die eine Aussetzung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO geboten erscheinen lassen (s. vor allem BFH-Beschluss vom 25.04.2018 - IX B 21/18, BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415; ebenso BFH-Beschlüsse vom 11.02.2020 - VIII B 131/19, BFH/NV 2020, 507, Rz 29; in BFH/NV 2019, 1060, Rz 16, und vom 03.09.2018 - VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279, jeweils m.w.N.).
Der beschließende Senat wiederum hat bereits festgestellt, dass unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestehen (s. Senatsbeschluss vom 14.04.2020 - VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177, Rz 3; vgl. auch Senatsurteil vom 30.06.2020 - VII R 63/18, BFHE 270, 7, BStBl II 2021, 191, Rz 23). Dies gilt jedenfalls insoweit, als Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 21.10.2020 - VII B 121/19, BFH/NV 2021, 326, Rz 33; zur Einordnung von Säumniszuschlägen als Druckmittel mit Zinscharakter s.a. BFH-Urteil vom 29.08.1991 - V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, unter B.II.2.a, m.w.N., und Senatsurteil vom 25.02.1997 - VII R 15/96, BFHE 182, 480, BStBl II 1998, 2, unter 2.b cc; ebenso: Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl., § 240 Rz 1). Ob und inwieweit der weitere Zweck, den Verwaltungsaufwand auszugleichen, hier ebenfalls zu berücksichtigen ist, ist bislang nicht entschieden (s. hierzu die Argumente von Steck, Deutsche Steuer-Zeitung 2019, 143).
Vor diesem Hintergrund war die Vollziehung des angefochtenen Abrechnungsbescheids hinsichtlich der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für August 2018 in der beantragten hälftigen Höhe aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.